Warum (und wie) sich Naturwissenschaftler zu medizinischen Themen äußern sollten

Da ich in den Kommentaren hier immer wieder gesagt bekomme, als Physiker könne oder dürfe ich mich doch nicht kompetent zu gesundheitlichen Themen äußern, wollte ich dazu gerne etwas schreiben. Jetzt habe ich aber festgestellt, besser als Florian Aigner das gerade auf Facebook getan hat, kann man (oder jedenfalls ich) das einfach nicht ausdrücken. Daher freut es mich, dass ich seinen Text hier einfach übernehmen darf. Dank und Zustimmung möge also bitte direkt an Florian gehen – für Kritik und Diskussionsbedarf bin ich auch offen, da ich das ja exakt genauso sehe.

„Warum äußerst du dich als Physiker zu medizinischen Themen wie COVID-19? Das ist doch nicht dein Gebiet!“ Das höre ich jetzt wieder besonders häufig, oft gewürzt mit üblen Beschimpfungen. Gut, ich erkläre es gerne noch einmal.
Zuallererst: Jeder darf sich immer zu allem äußern. In einer Demokratie ist es Unsinn, jemanden dafür zu kritisieren, dass er sich zu einem bestimmten Thema äußert. Kritisieren soll man ihn, wenn er zu ein Thema Unsinn erzählt. Aber wahr ist natürlich: Nur weil man das Recht hat, seine Meinung zu verbreiten, heißt das noch lange nicht, dass es eine gute Idee ist. Manchmal ist es klüger, sich nicht zu äußern, und stattdessen lieber anderen Leuten zuzuhören, die es besser wissen. Ich als Physiker ärgere mich auch manchmal, wenn Leute über Physik reden, die keine Ahnung haben. Die erzählen dann, sie hätten Einstein widerlegt oder den Energieerhaltungssatz überlistet, verstehen aber nicht einmal die einfachsten Grundlagen.
Aber genau das mache ich nicht: Ich verbreite keine eigenen Theorien über medizinische Fragen. Ich habe nämlich keine. Ich bin fachlich nicht in der Lage, die Thesen der Experten zu überprüfen oder zu widerlegen, daher käme ich auch nicht auf die Idee, das zu versuchen. Vielleicht kann ich mir als Physiker ein paar ganz einfache mathematisch-statistische Zusammenhänge ansehen – aber auch hier gibt es Leute, die das besser, detaillierter und mit mehr Hintergrundwissen machen. Ich würde mir bei solchen Dingen niemals anmaßen, ein Experte zu sein.
Zwei Dinge gibt es in dem Zusammenhang allerdings schon, bei denen ich behaupten kann, ziemlich viel Erfahrung zu haben. Erstens: Nach langer naturwissenschaftlicher Ausbildung kann ich (zumindest in gewissem Rahmen) nachvollziehen, ob jemand naturwissenschaftlich arbeitet. Ich kann zwar keine Detailfehler in medizinischen Arbeiten finden, aber ich kann in vielen Fällen zumindest haarsträubenden Unsinn als solchen erkennen. Esoteriker von Wissenschaftlern zu unterscheiden – das gelingt meist recht einfach. Und zweitens: Nach fast 15 Jahren Wissenschaftsjournalismus glaube ich, komplizierte Dinge einigermaßen verständlich erklären zu können. Wenn es darum geht, medizinische Thesen aufzustellen, bin ich sicher kein Experte. Wenn es darum geht, aufgestellte Thesen zu erklären, dann schon ein bisschen.
Manchmal führt das zu seltsamen Situationen: Es gibt manchmal ganz spezielle Ärzte, die furchtbaren unwissenschaftlichen Unsinn erzählen. Wenn ich ihnen dann widerspreche, hat das keine gute Optik: Er ist doch ein Arzt, ich „nur“ Physiker. Da muss bei medizinischen Fragen doch der Arzt recht haben, oder? Nein – nicht wenn der Physiker sich zum Anwalt der naturwissenschaftlichen Medizin macht und die Meinung der besseren, naturwissenschaftlichen Ärzteschaft vertritt, während der verhaltensauffällige Arzt (peinlicherweise) jedes wissenschaftliche Denken verlassen hat. Auch dem Automechaniker würde ich beim Autoreparieren widersprechen, wenn er das Auto gesundbeten möchte – obwohl ich ziemlich wenig Ahnung von Autos habe.
Darum geht der Vorwurf „bleib bei deinem Fachgebiet“ ins Leere. Es stimmt: Wenn jemand kein Experte ist, sich aber gegen die Meinung der Experten stellt, dann sollte man vorsichtig sein. Ihm sollte man wirklich nur dann glauben, wenn er außergewöhnlich gute Argumente hat. Aber jemanden, der die Meinung der Experten wiedergibt, dafür zu kritisieren, selbst kein Experte zu sein, ist Unsinn. Nach diese Logik dürfte es keinerlei Journalismus geben, sondern nur noch Fachpublikationen. Das will wohl niemand.
Also: Sollte ich eines Tages verrückt werden, die etablierte Medizin attackieren und stattdessen mein eigenes Wunderheilmittel verkaufen, dann sollte man mich bitte mit aller Härte kritisieren. Solange ich aber nur versuche, zwischen Wissenschaft und verständlicherer Sprache zu übersetzen, sollte man mich kritisieren, wenn ich dabei Fehler mache – aber nicht dafür, dass ich es versuche.
Bei der Gelegenheit möchte ich es mir natürlich nicht nehmen lassen, auch auf Florians neues Buch aufmerksam zu machen. Darin erklärt er genau das, woran es bei vielen der Mediziner, die wir kritisieren, genau mangelt: Die Frage, wie eigentlich Wissenschaft funktioniert und was wissenschaftliches Arbeiten ist. Und Florian schreibt auch sonst sehr viel Lesenswertes.

Quantenterroristen und der Terror der Wissenschaftsvermarktung

Von „Quantenterroristen“ handelte vor ein paar Tagen ein kurzer Artikel in der Süddeutschen Zeitung, und beim Lesen konnte man den Eindruck gewinnen, in der Zukunft könnten drei Terroristen in der Lage sein, allein durch das Senden falscher Daten das gesamte Internet auszulöschen. Wenn man bedenkt, welche Prozesse in unserer modernen Kultur alle vom Internet abhängen, muss man klar sagen, das wäre eine Horrorvision.

Rein formal ist der Artikel, der bezeichnenderweise nicht im Wissenschaftsteil, sondern im Feuilleton erschienen ist, journalistisch vertretbar: Unter der Rubrik „Gehört, Gelesen, Zitiert“ gibt er, überwiegend in Form eines sehr langen Zitats, Inhalte aus einem Online-Artikel des MIT Technology Review wieder. Als Leser würde ich aber eigentlich erwarten, dass eine Zeitung die Sinnhaftigkeit eines solchen Artikels prüft, bevor sie Auszüge davon unkommentiert wiedergibt. Das gleiche könnte man natürlich auch von einem Spezialmedium wie dem MIT Technology Review erwarten, bevor es den Artikel überhaupt publiziert.

Der Technology-Review-Artikel ist in einer Rubrik erschienen, die „die neuesten Ideen und Technologien“ darstellen soll, die auf dem Physics arXiv Preprint Server erscheinen. Dort können Wissenschaftler Artikel einstellen, die noch nicht zur Veröffentlichung in einer Fachzeitschrift angenommen sind, also noch nicht erfolgreich einen Peer Review durchlaufen haben. Über Ideen aus solchen noch nicht offiziell veröffentlichten Artikeln zu schreiben, soll offenbar den Eindruck erwecken, der Technology Review sei besonders am Puls der Zeit. Tatsächlich handelt es sich bei dem Fachartikel, auf den sich das Magazin beruft, ausdrücklich um ein sogenanntes working paper – die Autoren wissen also, dass ihre Ergebnisse noch nicht ausgegoren sind, und sie bitten um Kommentare und Anregungen von Fachkollegen, bevor sie überhaupt eine Veröffentlichung in einer Fachzeitschrift anstreben. Dass sich Inhalte aus einer solchen Diskussionsgrundlage innerhalb weniger Tage ohne jegliche Einordnung in der Süddeutschen Zeitung wiederfinden, ist dann schon einigermaßen skurril.

Wie in so vielen Fällen, in denen in der Öffentlichkeit ein verzerrtes Bild der Physik entsteht, liegt das Problem aber nicht nur darin, wie über Wissenschaft berichtet wird, sondern auch in der Art und Weise, wie die Wissenschaftler selbst über ihre Arbeit kommunizieren – und vor allem, wie sie sie verkaufen. Der Begriff des „Quantenterrorismus“ stammt nämlich tatsächlich aus dem besagten working paper der Wissenschaftler, die von Technology Review und Süddeutscher Zeitung an der renommierten George Washington University verortet werden, obwohl drei von vier Autoren des Artikels in Kolumbien tätig sind. Den schillernden Begriff haben sich die Autoren offensichtlich selbst aus den Fingern gesogen, denn gebräuchlich ist er für die im Artikel beschriebene Problematik nicht. Sucht man danach im Netz, dann findet man neben Berichterstattung über ihren Text eigentlich nur eine bizarre palästinensische Machtphantasie über das Durchtunneln eines Menschen durch die „Apartheidmauer“ südlich von Jerusalem in einem antiisraelischen Hetzblog.

Worum geht es aber nun eigentlich? Die Autoren schreiben über die prinzipielle Möglichkeit, ein sogenanntes Quantennetzwerk dadurch zu sabotieren, dass mehrere Teilnehmer gleichzeitig in abgestimmter Form unsinnige Informationen in das Netzwerk einspeisen. Das könnte die Information in dem Quantennetzwerk so stören, dass nicht einmal zu rekonstruieren wäre, wer die störende Information eingebracht hat. Für ein Quantennetzwerk mit vielen unabhängigen Teilnehmern wäre das (wenn es denn stimmt) logischerweise eine echte Bedrohung.

Um das Bedrohungsszenario jetzt realistisch einschätzen zu können, muss man sich zunächst einmal ansehen, was ein solchen Quantennetzwerk eigentlich ist, oder besser wäre, denn bis jetzt gibt es so etwas schlichtweg nicht. Ein Quantennetzwerk, wie es die vier Wissenschaftler in ihrem Artikel voraussetzen, bestünde aus Quantencomputern an verschiedenen Orten, deren gespeicherte Quanteninformationen über quantenmechanische Verschränkungen verbunden sind. Ich verspreche, den schon lange angekündigten Missverquanten-Artikel über Verschränkung schreibe ich auch noch. Über Quantencomputer habe ich im Buch ein bisschen geschrieben, aber hier im Blog noch nichts wirklich Grundlegendes, insofern kann ich auch dazu und zu den damit verbundenen Problematiken nur auf Wikipedia und zusammenfassende Artikel in populärwissenschaftlichen Medien (halbwegs aktuell z.B. hier) verweisen. Durch die Quantenverschränkung wäre man nicht darauf angewiesen, die Ergebnisse der einzelnen Quantencomputer zu messen und als klassiche Daten zu übertragen. Vielmehr könnte man verlustfrei die Quantenzustände übertragen – das Netzwerk verhielte sich also letztlich wie ein einziger, großer Quantencomputer. Die Vorstellung, dass unsinnige Eingaben von mehereren Nutzern gleichzeitig in einem Computer diesen zum Erliegen bringen können, erscheint dann schon weniger überraschend als ein Zusammenbruch des ganzen Internets.

Die Autoren des working papers zitieren nun einige aktuelle Artikel aus namhaften wissenschaftlichen Zeitschriften, in denen solche Quantennetzwerke als Quanteninternet bezeichnet werden. Da es um eine gegebenenfalls auch internationale Vernetzung von Computern geht, wie sie heute in der Regel über das Internet erfolgt, ist diese Begriffsfindung zunächst einmal auch nicht unbedingt sehr weit hergeholt.

Der Begriff des Quanteninternets wird allerdings regelmäßig, auch im MIT Technology Review, ebenso für die Verwendung von Quantenkryptographie zur abhörsicheren Kommunikation zwischen ganz normalen Computern verwendet. Bei der Quantenkryptographie wird durch die gleichzeitige Verwendung einer Quantenverschränkung und einer ganz normalen, klassischen Datenübertragung sichergestellt, dass die Kommunikation zwischen den beiden Rechnern nicht unbemerkt von einem Dritten abgehört werden kann. In der technischen Umsetzung haben Quantennetzwerke und Quantenkryptographie das gemeinsame Problem, dass sie auf Technologien angewiesen sind, die Quantenverschränkungen zuverlässig über große Distanzen erzeugen können. Bislang existieren solche Technologien nur als experimentelles proof of principle. Daher tauchen zu beiden Themen in den Medien regelmäßig dieselben Experten auf, und auch innerhalb von Artikeln oder Interviews werden Quantennetzwerke und Quantenkryptographie in jüngster Zeit regelmäßig unter dem Schlagwort „Quanteninternet“ oder gar „Web Q.0“ durcheinandergeworfen.

Diese marketingoptimierte Schlagwortbildung aus der Wissenschaft hat aber ein massives Problem. Dass Quantenkryptographie überhaupt funktionieren kann, beruht auf dem sogenannten No-Cloning-Theorem: Nach grundlegenden Prinzipien der Quantenmechanik ist es unmöglich, einen Quantenzustand zu duplizieren. Daher würde der Spion, der neben den verschlüsselten Daten auf dem klassischen Informationskanal auch den über die Quantenverschränkung übermittelten Schlüssel belauschen will, sich dadurch verraten, dass er die Übermittlung des Schlüssels stört. Was für die Quantenkryptographie grundlegend ist, ist für Quantencomputer und Quantennetzwerke aber ein Problem. In einem Quantennetzwerk kann es keine Redundanz geben, keine Sicherheitskopien, keine parallelen Verbindungen. So ist es wenig überraschend, dass es relativ einfach ist, ein solches Quantennetzwerk zu stören, wie eben auch der Lauscher in der Quantenkryptographie sich dadurch verrät, dass er die Verbindung stört. Genau das macht aber die gedankliche Verbindung mit dem Internet hochgradig problematisch.

Was das Internet von allen schon vorher existierenden Computernetzwerken unterscheidet, ist ja gerade seine hohe Redundanz. Das Internet hat keinen Zentralrechner, den man sabotieren könnte. Vielmehr besteht es aus einer Vielzahl voneinander unabhängiger Knoten, die auf unterschiedlichen Wegen direkt und indirekt miteinander verbunden sind. Einen solchen Knoten kann man natürlich sabotieren, und natürlich kommt es auch ohne Sabotage vor, dass solche Knoten ausfallen. Das führt in der Regel dazu, dass Nutzer eines oder auch mehrerer Anbieter in einer Region keinen Zugang zum Internet mehr haben – aber der Rest des Netzes funktioniert auch ohne diesen Knoten. Es gibt auch bestimmte neuralgische Verbindungen, zum Beispiel durch bestimmte Unterseekabel, deren Ausfall dazu führen würde, dass die Datenübertragung über parallele Verbindungen deutlich langsamer würde – allerdings sind auch diese Engpässe über die letzten 20 Jahre deutlich weniger und die Alternativen vielfältiger geworden.

Grundsätzlich können einzelne Systeme aber natürlich immer versagen, und das wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in der Zukunft so bleiben. Bei Quantencomputern kommt noch das Problem hinzu, dass man die Quantenzustände zu ihrer Erhaltung komplett und über die gesamte Laufzeit der Berechnung von der Außenwelt abschirmen muss, um Dekohärenz und damit das Ende der Verschränkung und des ganzen Quantenzustandes zu vermeiden. Daher dürfte auch (oder vielmehr gerade) den Wissenschaftlern, die in ihren Veröffentlichungen regelmäßig von „dem Quanteninternet“ schreiben, klar sein, dass es ziemlich idiotisch ist, anzunehmen, dass ein einzelnes Quantennetzwerk die Rolle des gesamten heutigen Internets übernehmen könnte. Viel plausibler ist die Annahme, dass beim Funktionieren der entsprechenden Technik immer mehr spezialisierte Quantennetzwerke entstehen könnten, teils zur Geheimhaltung weitgehend getrennt, teils integriert in ein weiterhin redundantes, klassisches Netz von Netzwerken wie dem heutigen Internet. Die Arbeit der vier Forscher aus Washington und Bogotá legt jetzt nahe, dass es für die Teilnehmerzahl an einem solchen einzelnen Quantennetzwerk Grenzen des Sinnvollen und Sicheren gibt – und dass diese Grenzen möglicherweise enger sind, als das viele Fachkollegen bisher angenommen haben. Das klingt nicht ganz so spektakulär wie der Quantenterrorismus, ist aber definitiv ein interessantes Ergebnis.

Hätten die über ihre Arbeit publizierenden Wissenschaftler realistisch von Quantennetzwerken und von Sabotage darin anstatt vom Quanteninternet und von Quantenterrorismus geschrieben, dann wäre ein problematisches Zerrbild von Physik und Technologie vermieden worden. Dann hätten sie es aber natürlich auch nicht in die Süddeutsche Zeitung geschafft.

Paranoia, Verleumdung und der Spaß an der Wissenschaft

Schon im Juni hatte ich mich etwas ausführlicher mit der Shiva-Statue auf dem Gelände des Teilchenforschungszentrums CERN in Genf beschäftigt und die gar nicht esoterischen aber um so interessanteren Hintergründe beleuchtet, wie so ein Objekt in eine wissenschaftliche Einrichtung kommt. Dabei kamen auch so einige der zum Teil völlig absurden Verschwörungstheorien zur Sprache, die sich um diese Statue und um die Arbeit des CERN insgesamt ranken. Man hätte meinen können, verrückter als diese bizarren Weltuntergangsphantasien kann die Beschäftigung mit einem solchen Forschungszentrum ja nicht mehr werden. Das hat sich in den vergangenen Monaten als ziemlicher Irrtum herausgestellt.

Wenige Wochen nach dem Artikel kursierte in Verschwörungtheoretiker-Kreisen die Meldung, der Physiker und Whistleblower Dr. Edward Mantill hätte sich am 13. Juli in seinem Büro im CERN erschossen. Interessanterweise wurde schon an diesem 13. Juli ein fertig produziertes Video über den angeblichen Vorfall auf Youtube hochgeladen, bezeichnenderweise von einem Nutzer namens „Paranoid Times“:

mantill-video

Dr. Edward Mantill wird schon seit dem vergangenen Jahr, wenn überhaupt eine Quelle angegeben wird, als der Urheber der Behauptung zitiert, das CERN hätte das Ziel, ein Portal in andere Dimensionen zu öffnen und würde so irgendwelche dunklen Mächte in die Welt holen. Durch dieses Portal sollen auch schon allerlei merkwürdige Kreaturen auf die Erde gekommen sein:

mantill-creaturesBei dem abgebildeten Wesen handelt es sich übrigens vermutlich einfach um einen im sibirischen Winter mumifizierten Vielfraß.

Mantill wird als Physiker und CERN-Mitarbeiter zitiert, an anderer Stelle ist ausdrücklich von einem „renowned physicist“ die Rede. Mantill scheint auch recht vielseitig gewesen zu sein: Laut dem Video forschte er an Neutrinos, nach anderen Quellen (wie hier bei „Christ Michael“) beschäftigte er sich mit Wechselwirkungen von Quarks. Viel unterschiedlicher können Arbeitsgebiete innerhalb der Teilchenphysik kaum sein. Das kommt vor, gerade bei Professoren, die über mehrere Jahrzehnte Arbeiten vieler Studenten betreut haben, ist aber eher ungewöhnlich für die Forscher, die die tatsächliche Arbeit machen. Ein Blick auf Mantills Veröffentlichungsliste könnte da natürlich Aufschluss geben, nur dummerweise findet sich in den einschlägigen Suchportalen keine einzige wissenschaftliche Arbeit dieses „renommierten Physikers“. Ohne eine einzige wissenschaftliche Veröffentlichung stellt sich natürlich die Frage, wo hat er eigentlich den Doktortitel her? Die Antwort ist relativ einfach und wurde schon im April vom „Angry Ufologist“ recht ausführlich nachrecherchiert: Es gibt und gab keinen Dr. Edward Mantill, weder am CERN noch sonstwo in der Physik.

Woher stammt aber dann die Geschichte von Mantill und seinem Wissen über die Portale zu dunklen Mächten, die seit 2015 auf allen möglichen Verschwörungsseiten wiedergekäut wird? Die älteste Quelle, die ich gefunden habe (22.1.2015), ist auf dem Internetportal Reddit ein längerer Text mit dem Titel: „I’m a Physicist at CERN. We’ve done something we shouldn’t have“. Innerhalb von Reddit findet man diesen Text auf der Unterseite „Reddit No Sleep“, die laut Beschreibung dazu dient, dass Autoren dort ihre Gruselgeschichten posten können.

Als Gruselgeschichte ist das Mantill-Thema, naja, durchwachsen. Die Idee mit dem CERN ist recht kreativ, und mit dem Ich-Erzähler ist die Geschichte einigermaßen stimmungsvoll aufgebaut. Sie krankt leider daran, dass der Autor so gar keine Ahnung von Physik oder vom CERN hat. Unter anderem berichtet der angebliche Physiker Mantill von einem normalen Tag am CERN, an dem im LHC planmäßig zwei Kollisionen im Abstand von neuneinhalb Stunden stattgefunden hätten. Es wäre auch für einen Laien leicht nachzurecherchieren gewesen, dass im LHC je nach Strahlfokussierung und danach, was man als Kollision mitzählt, einige hundert Millionen Kollisionen pro Sekunde stattfinden. Eine lustige Idee ist immerhin der Name von Mantills Kollegin in der Geschichte, Celine D’Accord. Frau Einverstanden hätte ich am CERN auch gerne kennengelernt.

Die Mantill-Geschichte ist übrigens nicht der erste Fall, dass Verschwörungstheoretiker über die angeblichen dunklen Machenschaften des CERN erfundene Geschichten als Quellen zitieren. Schon seit 2009 wird immer wieder eine Glosse des Technologiemagazins The Register zitiert, die sich eigentlich über die Ängste vor dem Weltuntergang durch das CERN lustig macht. Der Text schwadroniert genüsslich über „hyperdimensionale Monstermänner“ und „parallele Globo-Nazis“ und betont auch noch wörtlich, das sei natürlich alles Unsinn. So genau scheint den Artikel aber nicht jeder gelesen zu haben, der ihn ausdrücklich zitiert. Dort scheint sich auch der Erfinder von Edward Mantill bedient zu haben, denn der Register-Artikel ist die ursprüngliche Quelle eines Zitats des damaligen CERN-Forschungsdirektors Sergio Bertolucci. In Bertoluccis Zitat taucht erstmals die Formulierung auf, der LHC könne möglicherweise eine Tür in andere Dimensionen öffnen, womit Bertolucci offensichtlich das Auftauchen neuer Teilchen oder einer unerwarteten Teilchenwechselwirkung meinte. Bertoluccis Zitat, entstanden im Überschwang der LHC-Eröffnung war auch der Ausgangspunkt der ganzen The Register-Glosse.

Mantill ist auch nicht der einzige frei erfundene CERN-Physiker, mit dem wissenschaftsfeindliche Propaganda gemacht wird. So berichteten im Frühjahr 2016 diverse Onlinemedien über die Bekehrung von Professor Gunther Scheizle zum fundamentalistischen Christentum. Bei Scheizle soll es sich um einen Deutschen handeln, der am CERN forscht und eine Professur an der ETH in Zürich hat. Auch Prof. Gunther Scheizle scheint nie irgendetwas zu publizieren, und die ETH oder das CERN wissen auch nichts von ihm. Quelle soll eine christliche Zeitung „Gemeinschaft des Herrn“ aus München sein, die offenbar keine Webseite hat und außer der Scheizle-Bekehrung auch sonst nie im Internet erwähnt wird.

Interessant ist auch das Photo des angeblich bekehrten Professors:

Erinnert doch irgendwie ziemlich an ein altes Pressebild des ehemaligen CERN-Generaldirektors Rolf-Dieter Heuer:

Wie geht man als Wissenschaftler oder auch nur halbwegs wissenschaftlich kompetenter Mensch mit so viel Unsinn um? Eigentlich kann man darüber nur lachen. Leute in einer Diskussion überzeugen zu wollen, die einen für einen Verbündeten des Satans halten, ist ohnehin sinnlos. Wenn man zu einer Gruppe gehört, für die ein gewisses Grundverständnis der Naturwissenschaft mehr oder weniger selbstverständlich ist,  ist die Versuchung groß, den Spinnern mit Satire zu begegnen. Das kann aber gewaltig nach hinten losgehen, vor allem wenn dabei ein Mangel an Lebenserfahrung mit einem offenkundigen Überschuss an Alkohol einhergeht, und auch das hatten wir diesen Sommer.

„Was soll das Menschenopfer-Ritual am CERN?“ titelte am 18. August der Verschwörungsblog „Alles Schall und Rauch“. Die amerikanische Freedom Fighter Times verkündete eine „Bombensensation am CERN“: Das Video eines satanischen Menschenopfer-Rituals vor der Shiva-Statue sei der Öffentlichkeit zugespielt worden. Das angesprochene Video gibt es tatsächlich, und es ist zwar für einen Kurzfilmpreis zu kitschig und klischeebeladen, aber es erreicht einen netten Gruseleffekt. Dazu benutzt es verwackelte Handybilder im „Blair-Witch“-Stil und eine theatralische Flucht des angeblichen Beobachters, bevor allzu aufwendige Spezialeffekte nötig geworden wären.

cern-ritual

Die dunkel verhüllten Gestalten und das blonde Opfer sind ein bisschen abgedroschen, aber dafür finde ich die klobigen Turnschuhe des Oberpriesters wirklich mal etwas Neues…

Keine Satire ist aber so überzeichnet, dass Verschwörungstheoretiker nicht noch etwas daraufsetzen könnten: Wenige Tage nach dem Auftauchen des Videos wurde die Behauptung verbreitet, der Urheber des Videos sei tot aufgefunden worden. In die Welt gesetzt wurde sie offenbar von einem Youtube-Nutzer namens Richie from Boston, der sonst auch gerne die absurdesten Verschwörungstheorien über Hillary Clinton verbreitet. Richie hat das Video am 11.8. verbreitet, behauptet aber selbst nicht, den Urheber getroffen zu haben, sondern zitiert eine arabische Facebook-Quelle, die bis heute noch sehr lebendig postet. Die Behauptung, der Urheber des Videos sei tot, taucht vielmehr in einem Besucherkommentar zu einem Video von Richie auf

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und ist möglicherweise einfach eine Verwechslung mit dem älteren Dr.-Mantill-Mythos. Dennoch wurde die absurde Geschichte unter anderem von der britischen Boulevardzeitung Daily Mirror aufgegriffen und wurde danach von Anderen so zitiert, dass Richie aus Boston den Tod der Quelle dem Mirror in einem Interview persönlich bestätigt habe.

Gedreht wurde das Video ganz offensichtich tatsächlich im CERN vor der Shiva-Statue. Der Platz befindet sich innerhalb des CERN-Hauptgeländes in Meyrin und ist für jeden Mitarbeiter, Gastwissenschaftler oder Mitarbeiter beauftragter Unternehmen Tag und Nacht frei zugänglich. Das sind insgesamt weit über 10.000 Menschen. Viel Betrieb ist dort nachts nicht, aber es wundert sich auch niemand, wenn sich dort jemand aufhält. Die Fenster im Hintergrund gehören zum Gebäude 39, einem Gästehaus für Wissenschaftler, die sich nur kurzfristig am CERN aufhalten. Mit insgesamt 490 Zimmern in seinen Gästehäusern gehört das CERN  zu den größten Hotelbetreibern der Region, und ein guter Teil dieser Zimmer befindet sich auf dem Gelände in Meyrin. Aufgenommen wurde das Video, der Perspektive nach, aus dem ersten oder zweiten Stock des Gebäudes 40. In diesem Gebäude befinden sich Büros, die von den Experimenten am Großbeschleuniger LHC genutzt werden. Abgeschlossen sind solche Gebäude innerhalb des Geländes nachts in der Regel nicht, höchstens die einzelnen Büros; schließlich ist es nicht ungewöhnlich, dass dort auch zu ungewöhnlichen Zeiten jemand am Schreibtisch sitzt. Wer sich nur kurzfristig dort aufhält und im Gästehaus übernachtet, hat abends ohnehin meistens nichts besseres zu tun, und während der kostbaren Betriebszeit der Beschleuniger arbeitet in den Kontrollräumen der Experimentierhallen ohnehin immer jemand im Schichtbetrieb.

Als Urheber des schlechten Scherzes komen also grundsätzlich alle in Betracht, die Zugang zum Gelände haben. Festangestellte dürften aber für eine solche Schnapsidee kaum ihre Jobs riskieren – im Verhältnis zur spärlichen Bezahlung an Universitäten sind die steuerfreien Gehälter am CERN für viele Physiker ein Traum. Auch erwachsenere Gastwissenschaftler sollten sich der Tragweite eines solchen schlechten Witzes durchaus bewusst sein. Das gilt aber nicht unbedingt für die rund 300 Teilnehmer des Summer Student Programme, die sich zur fraglichen Zeit ebenfalls am CERN aufhielten und die dort die gleichen Freiheiten haben wie alle Anderen auch. Für viele der Summer Students hat der Aufenthalt am CERN eine gewisse Klassenfahrtatmosphäre, und nicht alle verbinden mit ihrer Teilnahme längerfristige berufliche Ziele. Das CERN bemüht sich natürlich, die Urheber der Aktion herauszufinden, aber solange sich nicht einer der Beteiligten outet, dürfte das schwierig sein. Die Summer Students sind längst abgereist, und für die CERN-Verwaltung arbeitet auch nicht gerade James Bond: Als ich einmal in unserer Experimentierhalle meine Scheckkarte verschlampt hatte (die man vor Arbeiten in Magneten besser aus der Tasche nimmt), wurde ich für die Verlustanzeige an die Werksfeuerwehr verwiesen, denn das CERN-Gelände ist ein exterritoriales Gebiet der UNESCO, und weder die Schweizer noch die französische Polizei fühlt sich zuständig. Die gleichen Feuerwehrmitarbeiter arbeiten nachts auch als Taxidienst, wenn die Pendelbusse zwischen den unterschiedlichen CERN-Standorten nicht mehr fahren…

Mehr als ein Ausschluss von zukünftiger Arbeit am CERN droht den Verantwortlichen ohnehin nicht – ein Video von einem schlechten Scherz zu drehen, ist ja keine Straftat.

Man kann natürlich fragen, wo eigentlich das Problem mit derlei missverständlicher Satire oder mit den veräppelten Verschwörungstheorien an sich liegt. Die Verschwörungstheoretiker selbst wird niemand bekehren, und interessierte Teile der Öffentlichkeit, die sich aktiv informieren, werden relativ schnell auf Klarstellungen stoßen, die weitaus plausibler sind als die Spinnereien selbsternannter amerikanischer Freiheitskämpfer. Das Problem liegt vielmehr bei Menschen, die sich gerade nicht für Grundlagenforschung interessieren, aber als Wähler und Steuerzahler natürlich dennoch betroffen sind. Eine falsch verstandene Anspielung oder ein gedankenlos platziertes „Umstritten“ in einem Zeitungsartikel können hier leicht den Eindruck erwecken, es gäbe mit dem CERN tatsächlich ein wie auch immer geartetes Problem. Das kann sehr relevant werden, wenn plötzlich in der Politik die CERN-Mitgliedschaft eines Landes ernsthaft in Frage gestellt wird, wie im Jahr 2009 in Österreich.

Ein Problem können solche Verschwörungstheorien aber vor allem für die Menschen sein, die am CERN arbeiten. Das muss nicht einmal so weit gehen wie 2008, als Nobelpreisträger Frank Wilczek wegen seiner öffentlichen Unterstützung für das CERN Morddrohungen bekam. Auch launige Bemerkungen abends in der Kneipe, wie viele Jungfrauen man denn im letzten Jahr geopfert hat, sind nur bei den ersten fünf Wiederholungen lustig. Ein viel größeres Problem wäre es, wenn Versuche der CERN-Verwaltung, schlechte Scherze wie das gezeigte Video künftig zu verhindern, zu Einschränkungen der Freiheit am CERN führten.

Ein Teil des Erfolgs des CERN liegt eben gerade in den Freiheiten, die die vielen Gastwissenschaftler dort genießen. Wenn man die Kontrollen an der Einfahrt passiert hat, wozu zu meiner Zeit eine Plakette an der Windschutzscheibe genügte, kann man sich innerhalb der CERN-Standorte völlig frei bewegen. Letztlich gibt es nur zwei Verwaltungsfelder, die einen in der praktischen Arbeit einschränken: Man muss aufpassen, dass man beim Transport CERN-fremder und mitunter teurer Geräte zu oder zwischen den CERN-Standorten nicht versehentlich mit dem französischen oder Schweizer Zoll in Konflikt gerät, und gelegentlich kontrolliert der Strahlenschutz, dass man sich oder seine Kollegen nicht fahrlässig zu hohen Strahlendosen aussetzt. Ansonsten gibt es natürlich Regeln, aber die beschränken sich (anders als ich das zum Beispiel in einem amerikanischen Nationallabor kennengelernt habe) auf Dinge, die einem auch der gesunde Menschenverstand sagt, und sie behindern in der Regel nicht die Arbeit.

Wenn man am CERN nachts um drei eine großartige Idee für eine Berechnung hat, hindert einen niemand daran, ins Büro zu gehen und sofort anzufangen. Das führt bei Manchen zu 70-Stunden-Wochen, aber wenn man ohnehin nach vier Wochen wieder ans heimische Institut fährt, findet man das möglicherweise gar nicht so schlimm. Wenn man sich von jemandem einen Rat erhofft, kann man die betreffende Person einfach fragen, egal ob sie für ein „konkurrierendes“ Experiment arbeitet oder Nobelpreisträger ist. Okay, letzteres tut man am Ende dann doch meist nicht – ein Nobelpreisträger ist eben auch am CERN… ein Nobelpreisträger – aber man könnte! Was zu regeln ist, wird in der Regel unbürokratisch innerhalb der Arbeitsgruppe oder des Experiments geregelt. In weiten Teilen arbeitet das CERN so informell wie ein Uni-Institut – nur eben wie eins mit über 10.000 Mitarbeitern… Das alles funktioniert nur, weil im Grundsatz erst einmal jeder jedem ein gewisses Vertrauen entgegenbringt.

Bemerkenswerte Möglichkeiten bietet das CERN auch für die Freizeitgestaltung. Die CERN-Homepage listet über 50 Clubs für Sport und Freizeitgestaltung auf – dazu existieren noch informelle Netzwerke für unterschiedliche Nationalitäten, die LGBT-Community sowie das Arbeiten und Leben am CERN mit Behinderungen. Hinzu kommen immer wieder offizielle und inoffizielle künstlerische Aktivitäten, wie ich sie schon im letzten Artikel angesprochen hatte. Das ist auch nötig: Wer mehr als ein paar Tage, aber nicht dauerhaft am CERN ist, möglicherweise auch noch als einziger Vertreter seiner Institution, ist dort in der Freizeit oft ziemlich isoliert. Die festangestellten oder dauerhaft abgeordneten Kollegen gehen abends nach Hause, und die einheimische Bevölkerung empfängt Fremde nicht unbedingt immer mit offenen Armen – vor allem, wenn sie auch noch relativ holprig oder gar nicht Französisch sprechen. Die Genfer Innenstadt ist rund zehn Kilometer entfernt, und die Busverbindung durch die Trabantenstadt Meyrin wird abends nicht attraktiver. Andere Freizeitmöglichkeiten sind ohne Auto kaum zu erreichen. Selbst für Berg- und Skifreunde hat der nahe französische Jura nur einen begrenzten Reiz, und beliebte Skigebiete wie Verbier oder Chamonix sind über zwei Fahrstunden entfernt. Nach zwei oder drei Wochen können auch ein relativ nettes Zimmer im Gästehaus und die bis spät geöffnete Cafeteria sehr traurige Orte werden, und manchmal kommt man sich vor wie in einer (immerhin recht komfortablen) Kaserne. In solchen Situationen sind die Clubs und Netzwerke eine ebenso willkommene wie notwendige Abwechslung. Auch diese Möglichkeiten beruhen aber auf dem gegenseitigen Vertrauen und der Offenheit, die durch Verschwörungstheorien und eventuelle Gegenmaßnahmen unterminiert werden.

Das ist ein entscheidender Punkt: Die Wissenschaftler, die in Forschungszentren wie dem CERN versuchen, ihre Arbeit zu machen, sind in erster Linie Menschen mit ganz normalen menschlichen Bedürfnissen. Das wird gerne vergessen, wenn selbst wohlmeinende Autoren beim Bekämpfen der Verschwörungstheorien CERN-Forscher als „geniale Männer und Frauen“ und „die besten Gehirne der Welt“ bezeichnen. Das ist schmeichelhaft, aber es ist eben auch entfremdend und dadurch gefährlich. Das CERN ist durchaus ein besonderer Ort mit besonderen Möglichkeiten, vielleicht auch mit ein paar besonderen Menschen. Aber auch die haben ganz normale Bedürfnisse und manchmal einen ziemlich schrägen Humor. Und es wäre wichtig, dass ihnen nicht der Spaß an der Wissenschaft vergeht.

 

 

Tanzende Götter am CERN und die Probleme der Wissenschaftskommunikation

Die Mehrheit der Menschheit hat keine Ahnung von der Bedrohung durch das CERN. Das behauptet zumindest der Verschwörungsblog Oppt-Infos zwischen rechtsextremer Reichsbürger-Idologie, angeblichen Wundermitteln gegen Krebs und Geschwurbel über Gedankenkontrolle durch Funkwellen. Laut der Weltuntergangsseite Dailycrow beschwören CERN-Experimente zur dunklen Materie Erscheinungen dunkler Gestalten herauf, und das CERN hat auch das Erdbeben im April 2015 in Nepal ausgelöst. Der antisemitische Socioecohistory-Blog sieht das CERN kurz vor dem Durchbruch in eine Parallelwelt, in der niemand anders als der Satan persönlich wartet. Die „Wissenschaft“, die der Menschheit den Turm von Babel beschert hat, treibe auch die Forscher am CERN, erklärt eine Seite mit dem bezeichnenden Namen „Now the End Begins“. Natürlich kann auch der widerwärtige Honigmann-Blog da nicht abseits stehen und schreibt vom CERN als „von den Illuminaten und dem Vatikan kontrollierten Raumhafenverstärker und Manipulationsanlage“.

Mitunter argumentieren solche Seiten einfach nur mit absurder Pseudophysik. „We are Anonymous“ erklärt zum Beispiel, die Ableitung von „16 TW“ Strahlenergie des CERN-Beschleunigers LHC hätte möglicherweise eine verheerende Schockwelle durch die Erde bis nach Nepal und so das Erdbeben verursacht. Hintergrund ist offensichtlich eine bizarre Vertauschung von Einheiten. Die Energie zweier kollidierender Teilchen im LHC hat nichts mit 16 Terawatt zu tun (das wäre die Leistung von zehntausend Kernkraftwerken), sondern liegt bei 16 TeV (Teraelektronenvolt). Das klingt nach viel, sind aber in normalen Einheiten gerade 0,0000025 Joule, entsprechend ungefähr der Aufprallenergie einer Biene, die gegen eine Fensterscheibe fliegt. Noch anders ausgedrückt, die Energie von 800 Milliarden LHC-Kollisionen entspricht etwa dem Nährwert eines schmalen Mittagessens. Nun kann ein 27 Kilometer langer Tunnel natürlich ziemlich viele Teilchen enthalten, so dass die Gesamtenergie eines LHC-Strahls dann doch ungefähr die Wucht eines fahrenden Personenzuges hat. Das ist verglichen mit einem Erdbeben aber immer noch sehr, sehr bescheiden.

Ein stetig wiederkehrendes Motiv in der Argumentation dieser Verschwörungspropheten hat das CERN allerdings selbst aufgestellt, nämlich eine zwei Meter hohe Statue des indischen Gottes Shiva als tanzender Zerstörer der Dummheit und Neuerschaffer des Universums. Die Dummheit hat diese Figur ganz offensichtlich nicht zerstört, sondern ihr vielmehr reichlich Futter verschafft. Die Figur steht nicht in einem Bereich, in den regelmäßig größere Besucherströme kommen, aber doch relativ prominent zwischen dem besseren der CERN-Gästehäuser für angereiste Wissenschaftler und dem Bürogebäude der LHC-Experimente. Als Kunst am Bau bereichert sie so ein Ensemble der architektonisch netteren und moderneren Gebäude am CERN – die meisten Verwaltungsbauten dort sehen eher nach 60er-Jahre-Plattenbau aus.

Foto: Wikimedia / Kenneth Lu

Poetisch oder philosophisch angehauchte Physiker inspiriert die Figur gerne einmal zu träumerischen Exkursen, zum Beispiel Aidan Randle-Conde auf dem eigentlich seriösen Quantum-Diaries-Blog. Das ist legitim und verständlich. Die Suche nach den Ursprüngen des Universums und den Vorgängen im Innersten der Materie ist ein Thema, das fast zwangsläufig zur Träumerei und Poesie anregt. Dazu bieten die Experimente am CERN Bilder von einer bizarren und mitunter majestätischen Ästhetik, die einem sonst kaum begegnen. Das Bedürfnis, sich über die rein wissenschaftliche Arbeit hinaus auszudrücken und zu inspirieren, ist unter den tausenden in Genf forschenden Physikern immer da, von AlpineKats höchst lehrreichem LHC-Rap bis zum Arts@CERN-Programm, das unter anderem Stipendien für im Forschungszentrum arbeitende Künstler vergibt. Gerade ein solches Projekt, der Ballettfilm Symmetry, wird aber in Verbindung mit der Shiva-Statue gerne zur Dämonisierung des CERN und der Teilchenforschung insgesamt missbraucht.

SymmetryOccult

Tatsächlich steckt hinter der Shiva-Statue eine spannende Geschichte, in der brilliante Köpfe, Machthunger und unglaubliche Zerstörungskraft eine Rolle spielen. Nur für die Außenkommunikation einer diplomatischen, multinationalen Organisation wie dem CERN ist sie möglicherweise weniger geeignet:

In Deutschland kaum zur Kenntnis genommen, ist Indien eine der großen Wissenschaftsnationen für die moderne Physik. Die Seite thefamouspeople listet zum Beispiel eine Anzahl bedeutender indischer Physiker auf (bizarrerweise mit ihren Sternzeichen): C.V. Raman entdeckte den quantenmechanischen Effekt der Aufnahme und Abgabe von Licht an Molekülen, der unter anderem erklärt, warum Gewässer oder Gletscher blau erscheinen. Satyendra Nath Bose leitete besondere statistische Eigenschaften bestimmter Teilchen her, die unter anderem für das Phänomen der Superfluidität verantwortlich sind (sogenannte Bose-Einstein-Kondensate). Für Boses Artikel darüber bot sich kein anderer als Albert Einstein als Übersetzer ins Deutsche an. Der Nobelpreisträger Subrahmanyan Chandrasekhar untersuchte die Entwicklung von Sternen unterschiedlicher Größe und fand, dass schwarze Löcher nicht nur rechnerische Ergebnisse der allgemeinen Relativitätstheorie sind, sondern tatsächlich als Überbleibsel sehr schwerer Sterne existieren.

Durch den Status als blockfreies Land konnten indische Wissenschaftler sowohl mit westlichen als auch mit sowjetischen Forschungseinrichtungen zusammenarbeiten. Ende des 20. Jahrhunderts war Indien in den großen internationalen Forschungskooperationen der Kern- und Teilchenphysik vertreten. In der Zeit des Internet-Hypes, als den Labors in Europa und den USA IT-kundige Physiker massenweise abgeworben wurden, bot Indien nicht nur hervorragend ausgebildete, sondern auch bezahlbare Fachkräfte.

Im Mai 1998 endeten viele dieser Kooperationen im wahrsten Sinne des Wortes mit einem Knall. Mit der Zündung einer Wasserstoffbombe in der nordindischen Thar-Wüste begann eine Serie von fünf indischen Kernwaffentests, die heftige internationale Reaktionen und zum Teil Handelssanktionen auslösten. Indische Kernphysiker bekamen kaum noch Einreisevisa in die USA, geschweige denn die Möglichkeit, ihre Arbeit an den oft vom US-Verteidigungsministerium geführten amerikanischen Grundlagenforschungszentren fortzusetzen. Das Internet war zwar als Kommunikationsmedium in der Wissenschaft schon gut etabliert, aber ohne persönliche Treffen kann man bis heute kaum produktiv in einer Forschungskooperation mitarbeiten. Ich erinnere mich, dass wir als deutsches Partnerinstitut in München vom New Yorker Brookhaven National Lab aufgefordert wurden, selbst in E-Mail-Kommunikation mit indischen Kollegen darauf zu achten, dass uns nicht eventuell Informationen durchrutschen, die das amerikanische Embargo unterlaufen könnten.

In Europa waren die Reaktionen weniger harsch, und in den Folgejahren wurde das CERN mit seinem besonderen völkerrechtlichen Status zu einem der wichtigsten Zentren, an denen indische Physiker noch international kooperieren konnten. 2002 erhielt Indien neben Russland, Japan und den USA den herausgehobenen Status eines Beobachterlandes am CERN. Inzwischen ist es allerdings von Pakistan überholt worden, das 2015 als drittes nichteuropäisches Land (nach dem Vollmitglied Israel und der Türkei) assoziiertes Mitglied des CERN wurde. Assoziierte Mitglieder haben mehr Mitspracherechte als Beobachter, müssen aber auch regelmäßige Beiträge zahlen. Vor diesem Hintergrund ist es zu sehen, dass das CERN 2004, sechs Jahre nach Beginn der wissenschaftlichen Isolation Indiens und zwei Jahre nach der Aufnahme als Beobachterland, von der indischen Regierung ein Denkmal geschenkt bekam.

Warum dieses Denkmal ausgerechnet die Form einer Shiva-Statue hat, darüber kann man natürlich trefflich spekulieren, aber es drängen sich einige Erklärungen auf, die wenig mit angeblichen spirituellen Bezügen der Teilchenphysik zu tun haben. Zum Einen wird ein Reisender, der zum Beispiel einem indischen Gastgeber eine Geste der Aufmerksamkeit aus good old Germany mitbringen will, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu einem Bierseidel oder einer Kuckucksuhr greifen, auch wenn er selbst möglicherweise aus Hannover stammt und wenig Bezug zu dieser Art von süddeutschem Kulturgut hat. Die Bundesregierung würde sich vielleicht für eine Goethe-Statue entscheiden. Wenn man bedenkt, welche Souvenirs deutsche Touristen aus Indien mitbringen, erscheint die Shiva-Statue als eine angemessene Entsprechung. Die Auswahl hat aber auch eine handfeste politische Dimension: Zum Zeitpunkt der Entscheidung über das Geschenk wurde Indien von Premierminister Vajpayee und der Hindu-nationalistischen BJP regiert. Die BJP hatte gerade den Physiker und Koordinator der Kernwaffentests von 1998 Abdul Kalam (selbst ein Moslem) zum Staatspräsidenten gemacht. Die Kernforschung und internationale Kooperation als Elemente des Nationalstolzes gedanklich mit hinduistischer Tradition zu verknüpfen, lag also durchaus im Interesse der Regierenden in Neu Delhi. Die CERN-Leitung konnte auf der anderen Seite die Geber auch nicht düpieren und das großzügige Geschenk in einem der reichlich vorhandenen Abstellräume unterbringen.

Hätte das CERN aber die Möglichkeit gehabt, Missinterpretationen der Statue wie die eingangs genannten Verschwörungstheorien zu vermeiden? Zumindest hätte man schon 2004 deutlicher sagen können, dass es sich bei dem Bronze-Shiva einfach um ein Kunstobjekt und eine politische Geste handelt. Man hätte schon in der ursprünglichen Pressemeldung religiöse Bezüge vermeiden können. Man hätte nicht die Skeptiker-Ikone Carl Sagan mit seinem rein metaphorisch gemeinten Vergleich zwischen dem Tanz Shivas und dem kosmischen Tanz der Teilchen als Repräsentanten pseudoreligiöser Spekulationen heranziehen müssen. Insbesondere wäre es aber hilfreich gewesen, neben der Shiva-Statue nicht auch noch eine „Erläuterungs“-Tafel dazu mit Zitaten des unsäglichen Quantenmystik-Schwurblers Fritjof Capra aufzustellen, was dieser genüsslich zur Selbstdarstellung benutzt. Dann hätte man es sich womöglich erspart, mit ungelenken Erklärungen reagieren zu müssen, nachdem das Kind in den Brunnen gefallen ist.

Ja, Physiker brauchen mitunter die Romantisierung und Überhöhung dessen, woran sie dort arbeiten. Manchmal ist es nötig, den Blick von der Verkabelung seiner Messapparatur und den Programmzeilen seiner Simulationssoftware zu heben und auf das Wunderbare zu richten, das es in der Welt der Teilchen zu entdecken gibt. In der Außenkommunikation ebnet diese Romantisierung aber nur zu oft den Weg zur Dämonisierung der Wissenschaft an sich.