Ein Unfall in Nordrussland und was Radioaktivitätsmesswerte bedeuten

Als ich meinen letzten Artikel angefangen habe, wollte ich die Geschichte über den Wodka aus Tschernobyl eigentlich nur als kleinen Aufhänger benutzen, um etwas über veröffentlichte Radioaktivitätsmesswerte und den dabei verwendeten Wust von Einheiten zu schreiben. Dann ist doch wieder eine typische Relativer-Quantenquark-Tirade daraus geworden, und die Erklärung der Einheiten wäre am Schluss einfach zu kurz gekommen – also habe ich da einen Folgeartikel angekündigt, den ich auch ganz schnell liefern will. Allerdings sind mir die tagesaktuellen Nachrichten auch da wieder zuvorgekommen: Aktuell häufen sich in den Medien Berichte über eine Freisetzung von radioaktiven Substanzen in Nordwestrussland. Da man das oft nicht so richtig einordnen kann, der Ort des Geschehens in Nyonoska liegt bei der roten Markierung, also ziemlich abgelegen, aber nicht wahnsinnig weit von Finnland entfernt.

Quelle: Openstreetmap, Lizenz: https://opendatacommons.org/licenses/odbl/1.0/

Welche Gefährdung von den in den Artikeln genannten 1,78 bis 2 Mikrosievert gemessener Dosis pro Stunde über einen Tag hin ausgehen sollte, sollte man am Ende dieses Artikels ganz gut einschätzen können. Dass in der Region viel Gemüse aus dem eigenen Garten verzehrt wird, was, wie im letzten Artikel schon erklärt, die Bewertung beeinflussen sollte, halte ich dort für eher unwahrscheinlich. Die Bilder in russischen Medien sehen primär nach einem Großbrand eines ganz normalen Brennstoffs aus, aber wenn in diesem Brand irgendwo radioaktives Material freigesetzt wird, muss man natürlich schon davon ausgehen, dass das mit dem aufsteigenden Rauch einigermaßen großräumig verteilt wird. Videos auf Youtube, die den Vorfall zeigen sollen und eine riesige, ziemlich offensichtlich von konventionellem Brennstoff stammende, schwarze Rauchwolke zeigen, kursieren allerdings, wie Correctiv herausgefunden hat schon seit 2015 im Netz, so dass nähere Informationen weiterhin rar sind. 

Die Annahme derzeit ist, dass die Explosion bei Tests für den experimentellen russischen Flugkörper SSC-X-9 Skyfall (russische Bezeichnung 9M730 Буревестник „Sturmvogel“) ereignet haben dürfte. Das interessante an diesem Flugkörper, der nach amerikanischen Informationen allerdings bislang nur Abstürze produziert hat, ist, dass er über einen nuklearen Antrieb verfügen soll. Mit dem großen Energievorrat soll er nach einem russischen Video in der Lage sein, jedes Ziel auf der Welt im Tiefflug auf beliebigen Umwegen zu erreichen, was eine Abwehr erschweren soll. Das Video besteht allerdings zum größten Teil aus Computeranimationen – die echten Aufnahmen darin zeigen nur die Startphase, in der ziemlich offensichtlich eine konventionelle Feststoffrakete eingesetzt wird:

Als Physiker interessiert mich natürlich, wie so ein Antrieb funktionieren soll – und das müsste man auch wissen, um die Folgen eines Unfalls einschätzen zu können. Da muss ich zum Glück nicht wieder ausufern und mein eigentliches Thema wieder verschieben, denn dieser lange, aber wirklich gute Artikel mit dem Titel „The Best Bad Idea Ever?“ beleuchtet die wichtigsten technischen Aspekte und die Geschichte der Erforschung nuklear getriebener Flugzeuge und Flugkörper – und er erklärt, warum nie ein solches Flugzeug geflogen ist und wohl besser auch nicht sollte. In dem Artikel wird auch deutlich, was gemeint sein dürfte, wenn in diesem Kontext immer wieder mal eine ähnliche Technologie aus den USA erwähnt wird. Donald Trump twittert sogar, diese sei fortschrittlicher als die russische Skyfall, womit er offensichtlich die höhere Einsatzgeschwindigkeit der amerikanischen reaktorbeheizten Project-PlutoStaustrahltriebwerke meint. Dabei fällt in der Regel unter den Tisch, dass diese amerikanischen Versuche vor 55 Jahren aufgegeben wurden…

Entscheidend für die Einschätzung eines Unfalls ist das enthaltene Material. Wenn man davon ausgeht, dass ein typischer Marschflugkörper im geraden Flug (abgeschätzt nach dem amerikanischen Tomahawk) etwa 3000 Newton Schub braucht und ungefähr 250 Meter pro Sekunde (900 km/h) schnell fliegt, dann leistet das Triebwerk etwa 750 Kilowatt. Rechnet man typische Wirkungsgrade dazu, dann müsste der Reaktor ungefähr ein Zehntel der Leistung des Forschungsreaktors München II haben, der durch Verwendung von hoch angereichertem Uran mit 8 kg Brennstoff auskommt. Der Reaktor des Flugkörpers müsste bei ähnlicher Masseneffizienz also ungefähr ein Kilogramm Uran enthalten. Sollte ein solcher Reaktor außer Kontrolle geraten und von seiner eigenen thermischen Leistung zerrissen werden, dann sollte sich das meiner Ansicht nach in der Umgebung durch weitaus mehr Fallout als die gemessenen 2 Mikrosievert pro Stunde äußern. Ich bin jedenfalls gespannt, was wir zu diesem Unfall noch erfahren werden. Im günstigsten Fall beendet er die Entwicklung dieser skurrilen Höllenmaschine, die heutzutage nun wirklich kein Mensch braucht.

Und damit zum eigentlich geplanten Thema, den Einheiten, die einem in Berichten über genau solche Ereignisse begegnen:

Im letzten Artikel habe ich nur die Einheiten Becquerel (Bq) und Sievert (Sv) verwendet, und das sind meines Erachtens auch die einzigen Einheiten zur Radioaktivität, die man in der Kommunikation mit Nichtphysikern verwenden sollte. Ich muss auch selbst jedesmal nachschlagen, wenn mir jemand Messwerte in antiquierten Einheiten wie Curie oder Milliröntgen um die Ohren haut, nur weil er zu faul ist, die Anzeige seines Messgeräts in aussagekräftige, zeitgemäße Einheiten umzurechnen. Becquerel und Sievert sind die einzigen Einheiten, die es sich meines Erachtens lohnt zu merken. Dazu lohnt es sich dann auch, sich ein paar Vergleichswerte zu merken, um Zahlen, die einem irgendwo begegnen, halbwegs einordnen zu können. Was die anderen Messwerte bedeuten und wie man sie umrechnet, möchte ich am Ende dieses Artikels kurz zusammenstellen.

Zunächst einmal muss man sich bei einer Messung zur Radioaktivität fragen, was man überhaupt messen möchte. Grundsätzlich können Radioaktivitätsmessungen Antworten auf drei ganz unterschiedliche Fragen liefern:

  1. Wieviel Radioaktivität ist da überhaupt? Besser wäre noch die Formulierung „wieviel Radioaktivität passiert da“, denn es geht ja schließlich um eine Aktivität. Anzugeben ist also, wie viele radioaktive Zerfälle (Umwandlungen eines Atomkerns in einen anderen unter Aussenden von Strahlung) in einem Material innerhalb eines gewissen Zeitraums passieren. Wählt man als Zeitraum eine Sekunde, dann kommt man genau auf die Einheit Becquerel (Bq), nämlich Zerfälle pro Sekunde. Wenn man nicht eine genau abgegrenzte Strahlenquelle, sondern ein in größerer Menge vorkommendes Material betrachtet, wird häufig die Aktivität pro Menge in Becquerel pro Kilogramm (Bq/kg) angegeben. Nun ist ein Atom in Größenordnungen unseres Alltags sehr klein, und entsprechend klein sind die bei Zerfällen freigesetzten Energiemengen. Beim Zerfall eines Kern des Wasserstoffisotops Tritium (das vor allem im Kühlwasser von Reaktoren entsteht) werden zum Beispiel 0,000000000000003 Joule Energie frei, davon etwa ein Drittel in Form von biologisch relevanter Betastrahlung (der Rest verbleibt im umgewandelten Atomkern oder verschwindet im nicht mehr nachweisbaren Neutrino auf Nimmerwiedersehen). Da man sich unter einem Joule auch nicht so viel vorstellen kann: Ein Joule ist etwa die Fallenergie von einem halben Pfund Butter, das aus 40 cm Höhe auf den Boden klatscht. Wenn man das halbe Pfund Butter hingegen aufisst, hat es einen Nährwert von etwa 8000 Kilojoule, also 8 Millionen Joule. Für eine physikalisch relevante Gesamtaktivität braucht man also schon einiges an Becquerel. Wenn man im Labor mit einer radioaktiven Quelle arbeitet, mit der man vernünftig etwas messen kann, ohne dass man im Umgang damit besondere Schutzausrüstung braucht, dann hat die in der Regel einige Kilobecquerel. Wenn man liest, dass beim Reaktorunfall von Three Mile Island (Harrisburg) 1979 geschätzte 1665 Terabecquerel (also Billionen Bq) Radioaktivität in Form von Gasen freigesetzt wurden, dann klingt das gigantisch. Zur Einordnung muss man sich allerdings klarmachen, dass auch ältere Bestrahlungsanlagen zur Krebstherapie in Krankenhäusern Kobalt-60-Quellen von einigen hundert Terabecquerel enthalten. Was eine Becquerel-Zahl für den Menschen bedeutet, hängt stark davon ab, um welche Art von Strahlung es sich handelt und wo die Zerfälle auftreten, insbesondere ob die Strahlenquelle sich außerhalb oder innerhalb des Körpers befindet und wie lange sie dort verbleibt. Mit dem 2015 in ein Überlaufbecken auf dem Werksgelände ausgetretenen Reaktorkühlwasser im Kraftwerk Temelin mit einer Tritium-Aktivität von 272 Becquerel pro Liter würde ich mir zum Beispiel bedenkenlos die Hände waschen oder auch darin baden. Trinken würde ich es dagegen nur im Notfall – allerdings immer noch lieber als zum Beispiel ungefiltertes Flusswasser. Gelangt radioaktives Material in den Körper, ist die Frage, wie lange es dort wo verbleibt. Bei der Ventilationsszintigraphie zur Untersuchung der Lunge atmet man 400 bis 800 Megabecquerel eines radioaktiven Edelgases ein. Da ein Edelgas mit praktisch nichts chemisch reagiert, wird es aber auch direkt wieder ausgeatmet. Die 55 Becquerel Tritiumaktivität aus einem Glas Temelin-Kühlwasser würden über den normalen Stoffwechsel des Körpers über die nächsten Tage wieder ausgeschieden. Jod-131, ein Produkt der Kernspaltung, ist der wichtigste Problemstoff in den ersten Wochen nach einem Reaktorunfall. Da bei den meisten Mitteleuropäern, die nicht regelmäßig Fisch essen oder mit Jodsalz kochen, der Jodbedarf des Körpers allenfalls knapp gedeckt ist, wird dieses radioaktive Jodisotop vom Körper gut aufgenommen, in der Schilddrüse eingelagert und kaum wieder ausgeschieden, sondern zerfällt mit einer Halbwertszeit von acht Tagen. Daher können auch relativ kleine Becquerel-Zahlen von Jod-131 im kleinen Volumen der Schilddrüse ein erhebliches Krebsrisiko verursachen. So ist der sonst seltene Schilddrüsenkrebs die einzige Krebsart, für die nach Tschernobyl in der allgemeinen Bevölkerung der Anliegerstaaten Ukraine und Weißrussland (außerhalb der an den Aufräumarbeiten beteiligten Liquidatoren) tatsächlich ein Anstieg erkennbar ist. Glücklicherweise ist Schilddrüsenkrebs zwar eine schwere Erkrankung, die erhebliche Einschränkungen der Lebensqualität mit sich bringt, verläuft aber nur in rund einem Zehntel der Fälle tödlich. Die Einlagerung von Jod in der Schilddrüse ist auch der Grund, weshalb man nach Reaktorunfällen bei gefährdeten Personen versucht, durch hochdosierte Jodtabletten ein Überangebot an nicht radioaktivem Jod zu schaffen, so dass ein möglichst großer Anteil des insgesamt verfügbaren (somit auch des radioaktiven) Jods wieder ausgeschieden wird. Radioaktive Problemstoffe, die sich über viele Jahre in den Knochen oder der Leber anreichern, sind die Brennstoffe Uran und Plutonium sowie die Spaltprodukte Cäsium-137 und Strontium-90. Da sie auch über viele Jahre nur zu kleinen Teilen zerfallen, können sich von diesen Stoffen selbst kleine Becquerel-Zahlen mit der Zeit zu erheblichen Belastungen aufsummieren. Das gilt insbesondere, wenn über einen langen Zeitraum die tägliche Nahrung belastet ist, was den im letzten Artikel erwähnten extrem niedrigen Strontium-90-Grenzwert in der Ukraine erklärt. Wegen dieser Unterschiede in der biologischen Relevanz der Aktivität unterschiedlicher Stoffe ist es auch so problematisch, wenn in dem in Fukushima aus den Reaktorruinen gepumpten Sickerwasser neben den rund einer Million Bq/l Tritium auch nach der Entsalzung noch Mengen von jeweils rund 100 Bq/l von anderen Isotopen gefunden werden. Ginge es nur um die insgesamt 760 Terabecquerel Tritiumaktivität des in Fukushima gespeicherten Wassers, dann könnte ich beim besten Willen nicht verstehen, warum man so zögert, diese einfach ins Meer abzuleiten: Tritium ist chemisch einfach Wasserstoff und reichert sich daher nirgends an, und verglichen mit der natürlichen Radioaktivität und selbst mit sonstigen menschlichen Einleitungen in die Weltmeere wäre diese Menge vernachlässigbar. Wenn man es aber tatsächlich nicht schafft, die Verunreinigungen mit radioaktiven Isotopen von Strontium, Cäsium oder anderen Substanzen, die sich in Fischen anreichern könnten, hinreichend gut zu entfernen, wäre das Verdampfen die teurere, aber sicherere Variante, weil diese Stoffe dabei in sehr kompakter Form zurückblieben. Die Aktivität in Becquerel ist also eigentlich nur in Verbindung mit anderen Informationen zur Beurteilung der Gefährlichkeit geeignet. Aussagekräftiger ist schon die folgende Frage:
  2. Welche Strahlendosis wird von einem (lebenden) Material aufgenommen? Hier handelt es sich um eine absorbierte Energiemenge pro Material, gemessen in Joule pro Kilogramm, bezeichnet als die Einheit Gray (Gy). Die Dosis ist keine zeitbezogene Größe, kann sich also über Jahre aufsummieren. Will man die laufende Belastung an einem bestimmten Ort beschreiben, so verwendet man die Dosisleistung in (gegebenenfalls Milli- oder Mikro-) Gray pro Sekunde, Stunde oder Jahr. Geht es um Strahlungsschäden in technischen Geräten, zum Beispiel bei Halbleitern in Teilchendetektoren oder auf Satelliten, ist die Gesamtdosis über die Einsatzdauer die relevante Kennzahl. Bei lebendem Material, also auch in gesundheitlichen Fragen, ist die Situation komplexer. Für das Auftreten von akuter Strahlenkrankheit ist die innerhalb eines Zeitraums weniger Tage aufgenommene Dosis maßgebend. Über das Krebsrisiko und das Auftreten von Mutationen in der nächsten Generation entscheidet nach der bereits im letzten Artikel erwähnten Linearen Hypothese LNT ausschließlich die Gesamtdosis über die bisherige Lebenszeit ohne jegliche Heilungs- und Reparaturchancen. Wer sich mit der Frage beschäftigen will, wie realistisch das ist, dem empfehle ich den schon dort verlinkten Bericht des zuständigen wissenschaftlichen Ausschusses der Vereinten Nationen. Es wird aber, wie so oft in Gesundheitsfragen, noch komplizierter: Alle drei gesundheitlichen Folgen (Strahlenkrankheit, Krebs und Mutationen) entstehen durch Schäden des Erbguts, also der DNA, durch die absorbierte Energie der Strahlung. Die DNA bildet aber einen Doppelstrang, an dem die Erbinformation jeweils spiegelbildlich hinterlegt ist. Entsteht ein Schaden nur an einem Strang der DNA, so haben die zelleigenen Reparaturmechanismen wesentlich bessere Erfolgschancen, als wenn beide gegenüberliegenden Basen beschädigt oder gar beide Stränge durchtrennt sind. Es macht also einen Unterschied, ob die Energie der Strahlung an lauter isolierten Punkten durch das Gewebe verteilt wird oder ob elektrisch geladene Teilchen im Gewebe jeweils eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Das führt zu der Frage:
  3. Welcher Schaden entsteht durch die Strahlung in lebendem Gewebe? Diese Frage beantwortet die Äquivalentdosis in der Einheit Sievert (Sv). Sie errechnet sich einfach durch die Strahlungsdosis in Gray multipliziert mit einem Wichtungsfaktor, der sich nach der Art der Strahlung richtet. Für Teilchenstrahlung direkt aus einem Reaktor oder Beschleuniger sind diese Wichtungsfaktoren recht kompliziert, aber bei der Strahlung aus radioaktiven Zerfällen sind sie ganz einfach: Alphastrahlung, also die geladenen Heliumkerne, die nur von sehr schweren Kernen wie Uran oder Plutonium emittiert werden, hat den Wichtungsfaktor 20, sonstige radioaktive Strahlung den Wichtungsfaktor 1. Alphastrahlung kann die menschliche Haut nicht durchdringen und ist nur schädlich, wenn das radioaktive Material in den Körper gelangt. Daher ist für jede Strahlung, die von außen in den Körper hinein wirken kann, der Wichtungsfaktor 1 und damit die Äquivalentdosis in Sievert gleich der Strahlungsdosis in Gray. Neben den Wichtungsfaktoren für die Strahlungsart gibt es Gewebe-Wichtungsfaktoren, die eine Umrechnung zwischen den Äquivalentdosen einzelner Organe und der Ganzkörperdosis ermöglichen sollen. Da die Wichtungsfaktoren erkennbar den Charakter von Abschätzungen haben, hat es offensichtlich wenig Sinn, sich bei Äquivalentdosen Gedanken um die zweite oder dritte von Null abweichende Ziffer zu machen. Daher gibt es auch eine deutlich komplexere Berechnung der Äquivalentdosis nach sogenannten Qualitätsfaktoren, die für Teilchenstrahlung auf dem zu messenden Energieverlust beruhen, wenn man es wirklich genau wissen will. Für die Einschätzung von Risiken ist es aber eher entscheidend, die wievielte Ziffer einer Äquivalentdosis überhaupt von Null abweicht. Auch für die Äquivalentdosis wird häufig die Dosisleistung, zum Beispiel in Mikrosievert pro Stunde, angegeben.

Nachdem also die entscheidenden Fragen gestellt und grob charakterisiert sind, auf die Messwerte antworten sollen, können wir uns jetzt den einzelnen Einheiten zuwenden, die einem in den Medien begegnen können, wenn es um Radioaktivität geht – angefangen mit den beiden, die man tatsächlich kennen sollte und dafür jeweils ein paar Vergleichsgrößen zur Interpretation solcher Werte.

  • Becquerel (Bq): Das Becquerel ist, wie oben erläutert, eine Einheit für die Aktivität und bezeichnet einen Zerfall pro Sekunde. Angegeben sind häufig auch Becquerel pro Menge eines Materials in Kilogramm oder Liter. Die Aktivitäten unterschiedlicher radioaktiver Substanzen sind hinsichtlich ihrer biologischen Relevanz nur bedingt vergleichbar. Ungefähre Vergleichswerte:
      • 130 Bq: Natürliche Aktivität einer Banane.
      • 4000 Bq: Natürliche Aktivität im Körper eines Erwachsenen.
      • 1 GBq = 1.000.000.000 Bq: Größenordnung der Aktivität, die einem Patienten bei der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) injiziert wird (Halbwertszeit maximal wenige Stunden).
      • 100 TBq = 100.000.000.000.000 Bq: Größenordnung der Aktivität in einer älteren Strahlungsquelle zur Krebstherapie.
      • 50.000 TBq = 50.000.000.000.000.000 Bq: Freisetzungsschwelle  zur höchsten Unfallstufe der IAEO-Skala für nukleare Ereignisse (Mayak 1957, Tschernobyl 1986, Fukushima 2011).
    • Sievert (Sv): Das Sievert ist eine Einheit für die Äquivalenzdosis, also die nach biologischer Wirkung gewichtete absorbierte Strahlendosis und hat die Dimension Energie pro Masse. Sie ist die beste bekannte Annäherung an den tatsächlich entstandenen Schaden. Im Gegensatz zum Becquerel ist das Sievert eine sehr große Einheit, so dass in der Regel Millisievert (mSv) oder Mikrosievert (μSv) angegeben werden. Ungefähre Vergleichswerte für die Ganzkörperdosis:
      • 50 μSv = 0,05 mSv: Ein Langstreckenflug.
      • 500 μSv/Jahr = 0,5 mSv/Jahr: Variation der natürlichen Radioaktivität zwischen unterschiedlichen Wohnorten in Deutschland.
      • 5 mSv/Jahr: Durchschnittliche Gesamtstrahlenbelastung in Deutschland (ca. 50% natürlich, 50% medizinisch).
      • 1.000 mSv = 1 Sv in kurzer Zeit: Einsetzen der akuten Strahlenkrankheit
      • 7.000 mSv = 7 Sv in kurzer Zeit: 100% tödlich.

Neben diesen beiden Einheiten, die man sinnvollerweise kennen sollte, um Informationen aus den Medien einordnen zu können, begegnen einem dort immer wieder auch andere Einheiten, die man nicht unbedingt kennen muss, deren Bedeutung und Umrechnung man aber bei Bedarf (z.B. hier) nachschlagen kann:

  • Gray (Gy): Das Gray ist wie schon erwähnt die Standardeinheit für die Dosis, also die aufgenommene Strahlungsenergie pro Masse eines Materials, ohne Gewichtung der biologischen Wirksamkeit. Insofern ist sie zwar nicht veraltet, aber für gesundheitliche Fragen eher uninteressant, und die Werte sind häufig identisch mit denen in Sievert. Für Alphastrahlung aus Uran oder Plutonium gilt 1 Gy = 20 Sv, für alle andere Strahlung aus radioaktivem Material 1 Gy = 1 Sv.
  • Rad (rd): Das Rad (radiation absorbed dose) ist eine seit mehr als 40 offiziell nicht mehr verwendete Einheit für die ungewichtete Dosis. Gerade Autoren mit, sagen wir, überschaubarer Sachkompetenz und vor allem aus dem medizinischen Sektor geben jedoch immer noch regelmäßig Messdaten in Rad an. Mitunter finden sich auch in derselben Tabelle, gedankenlos irgendwo abgeschrieben, untereinander Daten in Gray und in Rad ohne die wirklich triviale Umrechnung: 100 rd = 1 Gy; das entspricht 20 Sv für Alphastrahlung oder 1 Sv für sonstige Radioaktivität.
  • Roentgen (R): Das Roentgen ist eine noch antiquiertere Einheit (es stammt aus der Frühzeit der Atomphysik und gilt schon seit 1953 als veraltet) und beschreibt eine Art Strahlungsintensität von Gamma- oder Röntgenstrahlung, die an einem Ort ankommt, gemessen an ihrer Fähigkeit, elektrische Ladungen aus Luftmolekülen herauszulösen. Das Problem dabei ist, dass die Umrechnung von Roentgen in eine Dosis vom Material abhängt, auf die die Strahlung auftrifft. Trotzdem stirbt auch das Roentgen in den Medien irgendwie nicht aus. In weichem Körpergewebe, das bei Strahlenschäden in der Regel interessiert, entsprechen 100 Roentgen knapp einem Sievert.
  • Rem (rem): Mit dem Rem (Roentgen equivalent in man) wird es endgültig wirr, weil sich das Rem, wie aus dem Namen noch hervorgeht, ursprünglich von der Einheit Roentgen herleitete, es dann aber irgendwann als Äquivalentdosis zum Rad umdefiniert wurde. Dennoch erfreut sich das Rem vor allem in den USA bis heute großer Beliebtheit, wo man ja auch sonst der Meinung zu sein scheint, internationale Standardeinheiten machten das Leben zu einfach. Immerhin ist seit der Anlehnung an das Rad die Umrechnung überschaubar: 100 rem = 1 Sv.
  • Curie (Ci): Das Curie ist eine Einheit für die Aktivität, die allen Ernstes 1910 noch unter Mitwirkung von Marie Curie selbst festgelegt wurde, und zwar als die Aktivität von einem Gramm Radium. Es wird seitdem hartnäckig immer noch benutzt, möglicherweise weil 10 Mikrocurie für eine radioaktive Quelle im Labor oder 45 Megacurie für die Jod-131-Freisetzung in Tschernobyl einfach weniger bedrohlich gigantisch klingen als die gleichen Werte in Becquerel. Leider gibt es für die Umrechnung keine einfach zu merkende Faustregel: 1 Curie entsprechen circa 37 Gigabecquerel…

Wodka aus Tschernobyl – und wie wir mit Risiken umgehen

Ich hatte ja schon länger versprochen, nach den vielen Verschwörungsmythen-Themen, Interviewankündigungen und Anmerkungen zu meinen Büchern bald auch wieder mehr Inhaltliches zur Physik zu bieten, und dem will ich heute mal nachkommen und ein bisschen über Radioaktivität schreiben. Um Quantenquark im engeren Sinne geht es dabei nicht, aber Bezüge finden sich doch reichlich. So findet sich auf der Internetseite zur Vermarktung des Lebensfeldstabilisators nach Quantenquark-Altmeister Dieter Broers die absurde Behauptung, nach dem Reaktorunfall von Fukushima könne man Fisch aus dem Nordpazifik ohne Kontrolle durch Geigerzähler nicht mehr essen. In der Hare-Krischna-Postille Tattva Viveka wird erklärt, da der Geist Materie erschaffe (sozusagen das Mantra des Quantenquarks), könne man durch ein „hohes Bewusstsein“ von Radioaktivität unbeeinflusst bleiben.

Insgesamt schreibe ich hier ja über Radioaktivität und vor allem über Kernenergie eher selten, einfach weil es sich um ein hoch emotional aufgeladenes politisches Thema handelt, bei dem sich Positionen, wie immer in der Politik, nicht nur nach wissenschaftlichen Fakten, sondern eben auch nach persönlichen Wertvorstellungen richten: Ich möchte schlicht keine wissenschaftlich interessierten Leser abschrecken, nur weil sie zur Energiepolitik andere Auffassungen haben als ich. An der Uni hatten wir einen Dozenten, der es mit seinem Sendungsbewusstsein geschafft hat, seine anfangs gut besuchte Vorlesung „Physik und Technologie der nichtkonventionellen Energiegewinnung“ in wenigen Wochen bis auf zwei verbliebene Hörer leerzulesen. Falls sich jemand für meine Meinung dazu interessiert, das Umfallen der CDU nach Fukushima war einer der Hauptgründe, warum ich nach mehr als  24 Jahren Mitgliedschaft aus der Partei ausgetreten bin. Inzwischen bin ich Gründungsmitglied bei Ökomoderne e.V.. Damit bin ich mit dem Thema für diesen Artikel auch durch und werde mich im Folgenden auf Hintergrundwissen beschränken, bei dem es genügend Missverständnisse gibt, dass es sich lohnt, darauf einzugehen.

Was mich jetzt wieder auf das Thema gebracht hat, waren Berichte, dass Professor Jim Smith von der Universität Portsmouth beabsichtigt, einen Wodka namens Atomik aus Getreide zu vermarkten, das in der Sperrzone von Tschernobyl angebaut wurde. Den Prototypen bezeichnet Smith als „die wichtigste Flasche Schnaps der Welt“. Web.de generierte daraus die (inzwischen offenbar geänderte) Schlagzeile „Wodka aus Tschernobyl ist trotz Radioaktivität keine Gefahr für die Gesundheit“, und auch der Spiegel textete: „Der Atomik-Wodka soll harmlos sein“. Mein erster Gedanke war: „Hey, gut für die Ukraine und gut für die Menschen in der Gegend, wenn sich da wirtschaftlich etwas tut. Wenn ich denn überhaupt Alkohol trinken würde, wäre das doch was für mich.“ Mein zweiter Gedanke war: „Moment – Wodka ist keine Gefahr für die Gesundheit?“ Und der dritte: „Wie radioaktiv ist dieses Getreide eigentlich?“ Und genau das war in den deutschen Medien dazu nicht zu lesen.

Zunächst einmal: Warum funktioniert das überhaupt, dass Wodka aus radioaktivem Getreide nicht radioaktiv ist? Normalerweise werden Lebensmittel aus radioaktiv belasteten Rohstoffen ja eher nicht zum Verzehr empfohlen. Dazu muss man sich zunächst einmal ansehen, was da eigentlich radioaktiv ist. Die Radioaktivität, die nach einem Reaktorunfall außerhalb des unmittelbaren Reaktorumfeldes (das auch mit dem schweren und daher wenig mobilen Plutonium kontaminiert sein kann) noch nach mehreren Jahren gemessen wird, stammt fast ausschließlich von den Metallen Cäsium-137 und Strontium-90. Beide sind chemisch von normalem, für den Menschen völlig unschädlichen, Cäsium und Strontium nicht unterscheidbar und liegen im Boden und den darauf wachsenden Pflanzen in Form von Salzen, zum Teil auch in komplexeren Molekülen wie Metalloproteinen, vor. Bei der Wodkaherstellung wird die im Getreide enthaltene Stärke zu Zucker gemaischt, anschließend zu Alkohol vergoren und destilliert. Bei der Destillation wird die Flüssigkeit auf unter 100°C erhitzt, so dass der Alkohol verdampft, das Wasser aber nicht. Aus dem verdampften und separat kondensierten Alkohol entsteht dann der Wodka. Salze und Metalloproteine verdampfen bei solchen niedrigen Temperaturen natürlich nicht, bleiben also mit dem Wasser zurück. Beim Wodka wird das Destillat zudem besonders gründlich gefiltert, um andere leicht verdampfende Bestandteile wie Aromate aus dem Alkohol herauszuholen. Was aus dem Getreide im Wodka landet, ist also tatsächlich nur der besonders reine Alkohol. Alkohol besteht aber eben chemisch nur aus Kohlenstoff-, Wasserstoff- und Sauerstoffatomen, alles kleine Atomkerne, von denen es kaum radioaktive Isotope gibt (Isotope sind Varianten eines Atomkerns mit unterschiedlicher Zahl von Neutronen darin), und sie entstehen auch nicht in Reaktoren als Produkte der Kernspaltung. Radioaktiv wäre beim Kohlenstoff lediglich Kohlenstoff-14, der natürlicherweise in immer gleicher Menge in der hohen Atmosphäre entsteht und daher zur Altersdatierung archäologischer Fundstücke verwendet werden kann. Im Kühlwasser von Kernreaktoren entsteht auch das radioaktive Wasserstoffisotop Tritium, das sich, falls es freigesetzt wird, aber nicht irgendwo niederschlägt oder anreichert, sondern sich mit dem Wasserkreislauf verteilt und in den Unmengen Wasser auf der Erde im Vergleich zu natürlicher Radioaktivität schlicht verschwindet. Der Alkohol kann also rein chemisch keine radioaktiven Substanzen aus dem Reaktorunfall enthalten. Dementsprechend berichten auch die Portsmouther Forscher, sie hätten im Vodka lediglich den schon erwähnten Kohlenstoff-14 gefunden. Der Wodka wäre also tatsächlich kein bisschen radioaktiver als jeder andere Wodka (und jedes andere Lebensmittel außer reinem Wasser) durch den natürlicherweise enthaltenen Kohlenstoff-14 zwangsläufig auch. Wie sieht es nun aber mit dem Getreide aus?

Laut der Pressemeldung der Universität Portsmouth ist der Grund, warum dieses Getreide nicht einfach so gegessen werden darf, dass die Aktivität durch Strontium-90 „leicht“ über dem ukrainischen Grenzwert von 20 Bq/kg (Becquerel pro Kilogramm) liegt. Was 20 Bequerel und diverse andere Messgrößen zur Radioaktivität physikalisch bedeuten wird – versprochen – schon in den nächsten Tagen ein Thema eines Folgeartikels sein, sonst wird das hier wieder viel zu lang. Zu einer ersten Einordnung können aber ein paar Vergleiche dienen. Ein beliebter Vergleich für die Radioaktivität von Lebensmitteln sind Bananen. Bananen sind reich an Kalium, und alles Kalium auf der Welt enthält noch von der Entstehung der Erde her einen Anteil des langlebigen radioaktiven Isotops Kalium-40. Die Kalium-40-Aktivität von Bananen liegt bei rund 130 Bq/kg. Biologisch betrachtet hinkt der Vergleich allerdings, weil überschüssiges Kalium vom Körper schnell wieder ausgeschieden wird.  Der Kaliumgehalt im menschlichen Körper führt allerdings auch bei normalem Kaliumgleichgewicht schon zu einer Aktivität von rund 50 Bq/kg Körpergewicht. Strontium, das einmal in den Blutkreislauf gelangt ist, kann dagegen anstelle von Calcium in Knochen eingebaut werden und dort sehr langfristig verbleiben. Allerdings wird auch nur ein sehr kleiner Teil des in der Nahrung enthaltenen Strontiums im Darm überhaupt aufgenommen. Die Interpretation solcher Werte ist also kompliziert. In Deutschland gibt es einen laufenden Grenzwert für Strontium-90 in Lebensmitteln nicht, weil dieses Radioisotop in hier produzierter Nahrung aktuell schlicht keine Rolle spielt. In Notstandssituationen läge er allerdings bei 750 Bq/kg, und in den Monaten nach dem Unfall von Fukushima galt dieser Wert auch für Importe aus Japan. In der Schweiz gibt es einen „Toleranzwert“ von 1 Bq/kg, über dem man anfangen würde, nach Ursachen für eine solche unerwartete Kontamination zu suchen – im Katastrophenfall und für Importe gilt aber auch dort der Grenzwert von 750 Bq/kg. Der extreme Unterschied der Grenzwerte erklärt sich sehr einfach daher, dass man in der Ukraine davon ausgehen muss, dass jemand, der Getreide aus dem Umland von Tschernobyl verzehrt, das dauerhaft tut, während man in Deutschland eben nur sehr gelegentlich importierte Lebensmittel aus einem solchen Notstandsgebiet essen würde.

Das Festlegen solcher Grenzwerte ist schwierig, weil sich, anders als bei vielen Giften, für radioaktive Spurenstoffe keine Schwelle festlegen lässt, unterhalb derer sie mit Sicherheit vollkommen unschädlich sind. Angesichts der vielen Faktoren, die das Entstehen einer Krebserkrankung beeinflussen können, lässt sich eine minimale Erhöhung des Erkrankungsrisikos für die meisten Krebsarten kaum von der normalen Schwankungsbreite unterscheiden. Mangels belastbarer besserer Informationen geht man im Strahlenschutz bis heute von der linearen Hypothese (linear no threshold model, LNT) aus, nach der ein Tausendstel der über das Natürliche hinausgehenden Strahlendosis, der hochbelastete Hiroshima-Opfer ausgesetzt waren, genau zu einem Tausendstel von deren über das Natürliche hinausgehendem Krebsrisiko führen sollte – und zwar unabhängig davon, ob man dieser Dosis innerhalb eines Tages oder über Jahre verteilt ausgesetzt ist. Dieser Ansatz ist umstritten und die Datenlage fragwürdig, die Daten geben aber auch keine klaren Indizien für andere plausible Formen eines Zusammenhangs her, zum Beispiel für einen Schwellenwert, unter dem Strahlenschäden im Erbgut größtenteils repariert werden könnten und damit harmlos wären. Grenzwerte sind somit immer eine Abwägung dazwischen, entweder minimale und möglicherweise nur auf dem Papier existierende Risiken weiter zu  minimieren oder wertvolle Lebensmittel zu vernichten oder gar Menschen den Belastungen einer Evakuierung auszusetzen. Eine objektiv richtige Antwort gibt es dabei nicht. Eindeutig falsch wäre es nur, wenn durch eine Evakuierung mehr Menschen zu Schaden kämen als selbst bei der extrem pessimistischen linearen Hypothese durch die Strahlung zu erwarten wären – und zumindest im Fall von Fukushima deutet einiges genau darauf hin. Auch mindestens die Hälfte der 30-Kilometer-Sperrzone von Tschernobyl ist heutzutage – wenn überhaupt – nur noch durch die Sorge zu rechtfertigen, dort wieder lebende Bürger könnten regelmäßig Produkte aus ihrem eigenen Garten verzehren: Die Strahlung, der Menschen von außen ausgesetzt sind, ist dort mit bis zu 0,12 Mikrosievert pro Stunde (auch die Erklärung dazu kommt im nächsten Artikel) nicht höher als von Natur aus in großen Teilen des Schwarzwaldes oder des Bayerischen Waldes, wo sich niemand Gedanken darüber macht, weil Menschen dort schon seit Jahrtausenden damit leben. So ist es auch nicht sonderlich überraschend, dass das erste halblegal in der Sperrzone geborene und aufgewachsene Kind diesen Sommer angefangen hat zu studieren. Ich ärgere mich übrigens bis heute maßlos, dass ich bei einem Ukraine-Urlaub 2011 die Gelegenheit ausgelassen habe, eine Tour durch die damals gerade für Besucher eröffnete Sperrzone zu buchen. Übertriebene Angst vor Strahlung beeinträchtigt also nicht nur die Lebensqualität, sie kann zu schädlichen, im schlimmsten Fall tödlichen, Fehlabwägungen führen.

Womit wir wieder beim Wodka wären. Die 0,7 Liter Wodka in der angeblich wichtigsten Schnapsflasche der Welt enthalten 280 Milliliter reinen Alkohol, für deren Herstellung ungefähr 800 Gramm Getreide verbraucht werden – und man muss sich ernsthaft die Frage stellen, ob das Getreide mit seinen knapp über 16 Becquerel Strontium tatsächlich gefährlicher ist als die 280 Milliliter Alkohol. Für den Unfall von Tschernobyl insgesamt errechnet die Weltgesundheitsorganisation basierend auf der pessimistischen linearen Hypothese knapp 10.000 Todesfälle in der Ukraine und Weißrussland durch direke Strahlenschäden und spätere Krebserkrankungen. Im Vergleich dazu sterben laut Kiewer Statistikamt jedes Jahr 40.000 Menschen in der Ukraine an den direkten Folgen ihres Alkoholkonsums. Nun kann man argumentieren, dass es sich dabei überwiegend um Fälle extremen oder dauernden Alkoholmissbrauchs gehandelt haben dürfte, und bei der Flasche Wodka ist ja nicht vorausgesetzt, dass man sie alleine an einem Tag konsumieren muss. Ob mäßiger Alkoholkonsum ebenfalls schädlich ist, ist durchaus umstritten, und es wird argumentiert, er könne sogar gesundheitsfördernd sein – exakt das liest man allerdings auch über kleine Dosen radioaktiver Strahlung.

Auch wenn ich selbst Alkohol allenfalls sehr selten und nur in kleinen Mengen als Geschmacksträger konsumiere (gute Weine finde ich einfach zu interessant, um sie nicht wenigstens mal zu probieren): Es liegt mir fern, jemandem einen gelegentlichen Wodka-Martini, vielleicht auch mal einen mäßigen Rausch, ausreden zu wollen, der daraus Genuss und Lebensqualität zieht. Die Forderung, ein langes Leben mit Freudlosigkeit zu erkaufen, darf man ruhig mit der Frage „Wozu eigentlich?“ erwidern. Man sollte nur nicht an alltägliche und an weniger vertraute Risiken völlig unterschiedliche Maßstäbe anlegen. Und wenn man mir ganz persönlich den Atomik-Wodka anbieten würde, muss ich sagen, da würde ich dann genau dieses Getreide doch lieber als Brot zu mir nehmen.