Warum ich niemals von „Atomenergie“ spreche und Kernphysik wenig mit Kerntechnik zu tun hat

In letzter Zeit wurde der ehemalige Leiter der Henri-Nannen-Schule, die Journalistenikone Wolf Schneider, ja vor allem noch als (mit 97 Jahren tatsächlich) alter weißer Mann zur Kenntnis genommen, der sich dementsprechend zum Gendern äußert. Als ich in den 1990er Jahre in der Journalistischen Nachwuchsförderung der Adenauerstiftung war, gehörte Schneiders „Deutsch für Profis“ für Journalisten und solche, die es werden wollten, aber zur Pflichtlektüre. Ja, ich habe journalistisches Schreiben mal gelernt, auch wenn man es hier im Blog vielleicht nicht überall merkt. Die Freiheit nehme ich mir, lebt damit, ich mache das schließlich unbezahlt in meiner Freizeit. Aber, ja, ich kann sogar Schachtelsätze vermeiden, wenn es sein muss, und gelernt habe ich das nicht zuletzt aus Schneiders Buch.

Was allerdings schon damals meinen Kragen deutlich überdehnt hat, war das Kapitel „Das treffende Wort“. Einiges davon hat sich heutzutage glücklicherweise weitgehend erledigt. So schrieb er über den kindischen Begriff „Geisterfahrer“, er sei ein treffendes Wort, denn „Jeder versteht es,“ was in der Realität allenfalls für die „Jeders“ zutrifft, die mit der deutschen Sprache aufgewachsen sind. In Radiowarnungen hat sich inzwischen glücklicherweise die unmissverständliche Formulierung „kommt Ihnen ein Falschfahrer entgegen“ durchgesetzt.

Nun ist mir, wenn es nicht gerade um lebenswichtige Warnungen geht, die Wortwahl von anderen Menschen in den allermeisten Fällen ziemlich egal. Wer Verschwörungsmythen, Verschwörungsideologien und andere Verschwörungserzählungen oder gar das ganze Phänomen des Verschwörungsglaubens heute immer noch als Verschwörungstheorien bezeichnen will, weil er meint, mit dem Begriff klarzukommen, kann das von mir aus tun. Ich ziehe es vor, genauer auszudrücken, worum es mir geht, seit ich erfolglos versucht habe, für das Buch mit dem späteren Titel „Verschwörungsmythen“ sinnvoll abzugrenzen, was eine Verschwörungstheorie eigentlich sein soll. Wer seine Texte durchgendern mag, kann das von mir aus gerne tun; wenn jemand das lieber lässt, stört es mich auch nicht. Ich war dem Verlag dankbar, dass das bei meinen Teilen von „Fakt und Vorurteil“ das Lektorat für mich übernommen hat.

Problematisch wird es aber, wenn, unter Umständen sogar bewusst, ein falsches Verständnis der Sache vermittelt wird – und das gilt natürlich im besonderen Maß für den Journalismus.

In dieser Hinsicht haben sich einige von Schneider propagierte Problembegriffe leider als langlebiger und schädlicher erwiesen: „Atomwaffen, Atombomben, Atomraketen und Atomkraftwerke: Das ist die deutsche Sprache, und nichts sonst.“ Das Problem dabei ist nicht, dass Schneider von dem Sachverhalt, um den es bei diesen Begriffen geht, offensichtlich keine Ahnung hat und, wie sich das Buch liest, auch keine haben will. Das Problem ist, dass er und viele Andere in Deutschland aus ideologischen Gründen an schlicht und einfach falschen Worten festhalten, weil diese sich über die Jahrzehnte als politische Kampfbegriffe etabliert haben: „Wer sollte etwas gegen Kerne haben! Ein Grund mehr, von ‚Atomkraftwerken‘ zu sprechen und nur von ihnen.“ Wer Journalist werden will, sollte laut Schneider also etwas gegen Kernkraftwerke haben – ein höchst bedenkliches Selbstverständnis für den Leiter einer Journalistenschule.

Was ist nun aber am „Atomkraftwerk“ eigentlich falsch? Atomare Prozesse, die von der Atomphysik erforscht werden und bei denen man meinen sollte, dass dort „Atomenergie“ frei wird, die in einem „Atomkraftwerk“ genutzt wird, laufen innerhalb eines Atoms zwischen dessen Bestandteilen ab – also zwischen dem Atomkern und den ihn umgebenden Elektronen. Bei diesen Prozessen wirken praktisch ausschließlich elektromagnetische Kräfte. Im Prinzip gehört auch die Erzeugung von relativ energiereicher Röntgenstrahlung durch das Herausschießen sehr stark an den Kern gebundener Elektronen zu den atomaren Prozessen, aber das passiert in der Natur nur sehr selten. Die allermeisten atomaren Prozesse in der Natur setzen Energien in der Größenordnung weniger Elektronenvolt frei. Ein Elektronenvolt ist die Energie, die ein einzelnes Elektron hat, wenn man es mit einer Spannung von einem Volt beschleunigt – das ist also sehr, sehr wenig. Die Strahlung, die bei solchen Prozessen entsteht, umfasst im Wesentlichen sichtbares Licht und Infrarot.

Was in einem Kernreaktor oder bei der Explosion einer Kernwaffe passiert, ist die Spaltung von Atomkernen in Form einer Kettenreaktion – auf die Unterschiede der beiden Fälle und warum es viel, viel einfacher ist, einen Reaktor als eine Kernwaffe zu bauen, will ich an dieser Stelle nicht eingehen. Das Prinzip ist aber jeweils, dass die bei der Spaltung eines Kerns freigesetzten Neutronen in der Folge den nächsten Kern spalten. Auch nach der Spaltung kommt es zu radioaktiven Zerfällen, also zur Umwandlung instabiler Kerne in stabilere unter Aussenden von Strahlung.  Diese Prozesse laufen also innerhalb von Atomkernen zwischen deren Bestandteilen, den Protonen und Neutronen ab. Dabei treten auch sehr starke elektromagnetische Kräfte auf, aber entscheidend für diese Prozesse sind vor allem die starke und die schwache Kernkraft, die ansonsten überhaupt keine Rolle spielen. Bei radioaktiven Zerfällen werden typischerweise Energien in der Größenordnung von einer Million Elektronenvolt frei, bei einer Kernspaltung sind es 200 Millionen Elektronenvolt. Entsprechend mehr Energie hat auch die entstehende Strahlung, deren elektromagnetischer Anteil als Gammastrahlung bezeichnet wird. Zudem können hoch beschleunigte Teilchen (Alpha- und Betastrahlung) freigesetzt werden. Über diese Arten von Strahlung habe ich hier schon des Öfteren geschrieben. Bei nuklearen Wechselwirkungen handelt es sich also um völlig andere Prozesse als bei atomaren, und die freigesetzten Energien sind in gar nicht vergleichbaren Größenordnungen. Natürlich wird sich nach einer solchen Kernumwandlung, wenn sich die Ladung des Kerns geändert hat, auch die Elektronenhülle entsprechend anpassen und neu ordnen. Dem nuklearen Prozess folgt dann also ein atomarer, der aber für die Gesamtbilanz in der Regel vollkommen unbedeutend ist.

Was Radioaktivität eigentlich ist und wo sie außerhalb der Kernenergie noch eine Rolle spielt, habe ich kürzlich in einem Vortrag gemeinsam mit der Geowissenschaftlerin Catharina Heckel erklärt.

Mit nuklearen Prozessen beschäftigt sich die Kernphysik, die dadurch vor allem Berührungspunkte zur Teilchenphysik hat, weil die Protonen und Neutronen, die im Kern interagieren, eben subatomare Teilchen sind – auch wenn sie aus heutiger Sicht nicht mehr wirklich als elementar gelten. Die Atomphysik, die sich mit atomaren Vorgängen, also vor allem der Elektronenhülle des Atoms, beschäftigt und den Kern nur als ein weitgehend unveränderliches Objekt betrachtet, ist dagegen eng verwandt mit der Molekülphysik, bei der es um Elektronenhüllen mit mehreren Kernen darin geht. Außerdem hängt sie stark zusammen mit der Festkörperphysik, die sich mit Strukturen beschäftigt, in denen sich die Elektronenhülle vieler Atome überlagert. Daneben hat die Atomphysik aber vor allem große Überschneidungen mit der Chemie. So wie man bei meinem früheren Forschungsgebiet nur schwer abgrenzen kann, ob es sich um Kernphysik oder Teilchenphysik handelt, ist es bei der Atom- und Molekülphysik manchmal schwer abgrenzbar, wo die Grenze zur physikalischen Chemie verläuft.

Streng genommen wäre ein Beispiel für korrekt so bezeichnete Atomenergie die Energie, die frei wird, wenn in einem Kohlekraftwerk die im Kristallgitter der Kohle lose aneinander gebundenen Kohlenstoffatome mit Sauerstoff zu Kohlendioxid reagieren. Eigentlich ist also das Kohlekraftwerk ein Atomkraftwerk. Ein Kernkraftwerk als Atomkraftwerk zu bezeichnen, ist hingegen schlicht und einfach falsch. Es ist auch nicht einfach nur harmlos falsch: Die falschen Begriffe gehen einher mit weitgehendem Unwissen über die Vorgänge und einem daraus resultierenden diffusen Grusel und irrationaler Panik, die von Journalisten wie Schneider lange Zeit systematisch befeuert wurde. Natürlich ist es sinnvoll, sich bei einer Technik, die mit Gefahren verbunden ist (das ist so ziemlich alles in unserem Leben) der Risiken bewusst zu sein – sich Risiken bewusst zu sein, ist aber so ziemlich das Gegenteil von irrationaler Panik. Und natürlich kann man diesen Risiken auch unterschiedliche Wertigkeiten zuschreiben – aber zumindest sollte man das nicht auf der Basis systematisch verzerrter Vorstellungen tun.

Wenn Begriffe wie Atomenergie oder Atomkraftwerk also falsch sind, warum werden sie dann eigentlich benutzt? Das hat ganz wesentlich historische Gründe, und es hängt stark mit der „Atombombe“ zusammen. Die ist in gewisser Weise gleich in doppelter Hinsicht falsch bezeichnet, weil es sich beim größten Teil der einsetzbaren Kernwaffen nicht um Bomben handelt. Strategische Kernwaffen sind heute vor allem ballistische Flugkörper, die mit Raketen nach oben geschossen werden, die dichteren Atmosphärenschichten verlassen und durch die Erdanziehung auf ihr Ziel fallen; oder es sind Marschflugkörper, die eine Flugbahn ähnlich eines Flugzeugs haben und am Ziel einschlagen. Von den rund 1500 strategischen Sprengköpfen der USA sind nur noch 100 tatsächlich Bomben. Bei taktischen Kernwaffen kommen noch Artilleriegranaten, Wasserbomben, Torpedos und nukleare Landminen hinzu.

Als 1945 der Angriff auf Hiroshima die Möglichkeiten der Kernspaltung erstmals ins Bewusstsein breiterer Bevölkerungskreise brachte, gab es an Kernwaffen aber nur Bomben. Die Kernreaktoren, die es zu diesem Zeitpunkt gab, konnten noch keinen Strom erzeugen, sondern dienten vor allem der Forschung und der Produktion von waffentauglichem Plutonium. Einen etablierten Forschungszweig namens Kernphysik gab es 1945 auch noch nicht, weil man vor der Entdeckung der Kernspaltung 1938 noch kaum Möglichkeiten gehabt hatte, viel zur inneren Struktur von Kernen zu forschen. Die entsprechenden Wissenschaftler wie Lise Meitner, Enrico Fermi oder Edward Teller wurden daher einfach der Atomphysik zugerechnet, die viele ähnliche experimentelle und theoretische Methoden benutzte und selbst noch eine junge Disziplin war. Schließlich war gerade mal seit einer Generation halbwegs unumstritten, dass es Atome überhaupt gab.

Als das Phänomen Kernspaltung erstmals für ein Laienpublikum benannt werden musste, war der Unterschied zwischen atomaren und nuklearen Prozessen also für die allermeisten Menschen völlig unverständlich und dem Rest noch ziemlich egal. Als Relikt aus dieser Zeit gibt es bei der UN bis heute die International Atomic Energy Agency (IAEA). Dass sich im Englischen, Französischen und Spanischen später der zutreffende Begriff nuclear (oder heißt es vielleicht doch nucular…) durchgesetzt hat, im Deutschen und Russischen aber Atom-, kann man für Zufall halten. Dass aber gerade in Deutschland die „Anti-Atom-Bewegung“ immer versucht hat, die Kernenergienutzung mit der „Atombombe“ und den Schrecken von Hiroshima in Verbindung zu bringen (warum das Eine in Wirklichkeit wenig mit dem Anderen zu tun hat, wäre hier auch mal einen Artikel wert), hat zweifellos die Wortbildung beeinflusst, wie sich in dem 1986 erschienenen Buch von Wolf Schneider widerspiegelt.

„Das Atom“ war seit den 1960er Jahren ein Kampfbegriff.

Eigentlich wollte ich an dieser Stelle fertig sein, aber wie es mir hier so oft ergeht, drängt sich gerade ein weiteres Missverständnis auf, mit dem ich noch schnell aufräumen möchte. Wer sich nur für den ersten Teil der Überschrift interessiert hat, darf hier also gerne aussteigen.

Wenn nämlich nun die Kernenergie auf kernphysikalischen Prozessen beruht, heißt das dann, dass man als Kernphysiker nur (oder wenigstens überwiegend) in der Nuklearindustrie tätig sein kann und dementsprechend schon aus Karriereinteresse der Kernenergie positiv gegenüberstehen muss? Oder, wenn man umgekehrt als junger Mensch einen Beitrag zu einer besonders sicheren, rückstandsarmen Kernenergie der Zukunft leisten will, sollte man dann unbedingt Physik studieren und sich in Kernphysik spezialisieren? Letzteres muss nicht unbedingt unter diesem Namen stattfinden, weil in Deutschland Institute oder Studiengänge für Kernphysik (oder eben auch für Atomphysik) zum Teil anders benannt wurden, um nicht mit der Kernenergie in Verbindung gebracht zu werden. So heißt das bedeutendste Forschungszentrum für Kernphysik in Deutschland „Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung“ – und ist auch sonst kaum jemandem außerhalb der Physik bekannt. Die Forschung dort, die vor allem die Bestandteile und Kräfte innerhalb von Atomkernen bei unterschiedlichen mehr oder weniger extremen Energien untersucht, hat auch wenig bis nichts mit Kernenergienutzung zu tun. Dasselbe gilt für das Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg sowie für die allermeisten Institute für Kernpyhsik an Universitäten – ob sie nun noch so heißen oder nicht.

Das ist nicht nur jetzt und in Deutschland so, wo das Interesse an Kernenergie mangels politischer Durchsetzbarkeit ohnehin nachgelassen hat. Ich konnte in den 1990er Jahren in Frankfurt noch eine Vorlesung zur „Physik und Technologie der nichtkonventionellen Energiegewinnung“ hören, die der Dozent, im Hauptberuf bei den Siemens Nuklearbetrieben in Hanau beschäftigt, durch sein offensichtliches Sendungsbewusstsein für die Kernenergie innerhalb weniger Wochen von 15 auf zwei Teilnehmer dezimiert hatte. Von den Inhalten hatten allenfalls die absoluten Grundlagen ganz am Anfang etwas mit Kernphysik zu tun. Die eigentlich kernphysikalischen Fragen für die Kernenergie, nämlich was mit welcher Wahrscheinlichkeit passiert, wenn ein Teilchen, vor allem ein Neutron, mit welcher Energie auf welchen Kern trifft (falls Ihr mal den Begriff Wirkungsquerschnitt lest, genau das ist das), wurden zu einem großen Teil schon während des zweiten Weltkriegs im Manhattan Project beantwortet. Natürlich gab es dazu auch noch später Forschung und vieles wurde noch einmal viel genauer, anderes auch wirklich zum ersten Mal gemessen, aber das sind nicht mehr die Fragen, die für die Weiterentwicklung der Kernenergie (und für den Umgang mit den Reststoffen) heute interessant sind und sich zum Beispiel in Studiengängen zur Kerntechnik wiederfinden. Dazu sind Fragen der Materialforschung, des ganz klassischen Anlagenbaus, der Schwermetallchemie, der Verfahrenstechnik oder, wenn man über den Bereich der Kernspaltung hinaus zur Kernfusion blickt, der Plasmaphysik, viel, viel interessanter. Zum Strahlenschutz müssten Onkologen, Zellbiologen oder Epidemiologen viel mehr sagen können als Kernphysiker – wenn wir uns mit dem Thema beschäftigen, dann eher zum Eigenschutz, weil man sich im Labor bei der Forschung an ganz anderen Themen eben auch vor Strahlung schützen muss. Die kernphysikalische Frage, hinter wie vielen Millimetern Blei, Wasser oder Beton man nun wie gut vor der Strahlung geschützt ist, ist aber schon sehr lange bekannt und eher ein Thema für ein Laborpraktikum im sechsten oder siebten Studiensemester.

Dass ich mich auch für Kernenergie interessiere und gelegentlich darüber schreibe, hat also wenig damit zu tun, dass ich meine Diplomarbeit am Frankfurter Institut für Kernphysik geschrieben habe. Was ich hier so beschreibe, sollte jeder andere Physiker auch wissen. Es machen sich nur relativ wenige die Mühe, es allgemeinverständlich zu erklären, und das finde ich schade.

 

 

 

Wodka aus Tschernobyl – und wie wir mit Risiken umgehen

Ich hatte ja schon länger versprochen, nach den vielen Verschwörungsmythen-Themen, Interviewankündigungen und Anmerkungen zu meinen Büchern bald auch wieder mehr Inhaltliches zur Physik zu bieten, und dem will ich heute mal nachkommen und ein bisschen über Radioaktivität schreiben. Um Quantenquark im engeren Sinne geht es dabei nicht, aber Bezüge finden sich doch reichlich. So findet sich auf der Internetseite zur Vermarktung des Lebensfeldstabilisators nach Quantenquark-Altmeister Dieter Broers die absurde Behauptung, nach dem Reaktorunfall von Fukushima könne man Fisch aus dem Nordpazifik ohne Kontrolle durch Geigerzähler nicht mehr essen. In der Hare-Krischna-Postille Tattva Viveka wird erklärt, da der Geist Materie erschaffe (sozusagen das Mantra des Quantenquarks), könne man durch ein „hohes Bewusstsein“ von Radioaktivität unbeeinflusst bleiben.

Insgesamt schreibe ich hier ja über Radioaktivität und vor allem über Kernenergie eher selten, einfach weil es sich um ein hoch emotional aufgeladenes politisches Thema handelt, bei dem sich Positionen, wie immer in der Politik, nicht nur nach wissenschaftlichen Fakten, sondern eben auch nach persönlichen Wertvorstellungen richten: Ich möchte schlicht keine wissenschaftlich interessierten Leser abschrecken, nur weil sie zur Energiepolitik andere Auffassungen haben als ich. An der Uni hatten wir einen Dozenten, der es mit seinem Sendungsbewusstsein geschafft hat, seine anfangs gut besuchte Vorlesung „Physik und Technologie der nichtkonventionellen Energiegewinnung“ in wenigen Wochen bis auf zwei verbliebene Hörer leerzulesen. Falls sich jemand für meine Meinung dazu interessiert, das Umfallen der CDU nach Fukushima war einer der Hauptgründe, warum ich nach mehr als  24 Jahren Mitgliedschaft aus der Partei ausgetreten bin. Inzwischen bin ich Gründungsmitglied bei Ökomoderne e.V.. Damit bin ich mit dem Thema für diesen Artikel auch durch und werde mich im Folgenden auf Hintergrundwissen beschränken, bei dem es genügend Missverständnisse gibt, dass es sich lohnt, darauf einzugehen.

Was mich jetzt wieder auf das Thema gebracht hat, waren Berichte, dass Professor Jim Smith von der Universität Portsmouth beabsichtigt, einen Wodka namens Atomik aus Getreide zu vermarkten, das in der Sperrzone von Tschernobyl angebaut wurde. Den Prototypen bezeichnet Smith als „die wichtigste Flasche Schnaps der Welt“. Web.de generierte daraus die (inzwischen offenbar geänderte) Schlagzeile „Wodka aus Tschernobyl ist trotz Radioaktivität keine Gefahr für die Gesundheit“, und auch der Spiegel textete: „Der Atomik-Wodka soll harmlos sein“. Mein erster Gedanke war: „Hey, gut für die Ukraine und gut für die Menschen in der Gegend, wenn sich da wirtschaftlich etwas tut. Wenn ich denn überhaupt Alkohol trinken würde, wäre das doch was für mich.“ Mein zweiter Gedanke war: „Moment – Wodka ist keine Gefahr für die Gesundheit?“ Und der dritte: „Wie radioaktiv ist dieses Getreide eigentlich?“ Und genau das war in den deutschen Medien dazu nicht zu lesen.

Zunächst einmal: Warum funktioniert das überhaupt, dass Wodka aus radioaktivem Getreide nicht radioaktiv ist? Normalerweise werden Lebensmittel aus radioaktiv belasteten Rohstoffen ja eher nicht zum Verzehr empfohlen. Dazu muss man sich zunächst einmal ansehen, was da eigentlich radioaktiv ist. Die Radioaktivität, die nach einem Reaktorunfall außerhalb des unmittelbaren Reaktorumfeldes (das auch mit dem schweren und daher wenig mobilen Plutonium kontaminiert sein kann) noch nach mehreren Jahren gemessen wird, stammt fast ausschließlich von den Metallen Cäsium-137 und Strontium-90. Beide sind chemisch von normalem, für den Menschen völlig unschädlichen, Cäsium und Strontium nicht unterscheidbar und liegen im Boden und den darauf wachsenden Pflanzen in Form von Salzen, zum Teil auch in komplexeren Molekülen wie Metalloproteinen, vor. Bei der Wodkaherstellung wird die im Getreide enthaltene Stärke zu Zucker gemaischt, anschließend zu Alkohol vergoren und destilliert. Bei der Destillation wird die Flüssigkeit auf unter 100°C erhitzt, so dass der Alkohol verdampft, das Wasser aber nicht. Aus dem verdampften und separat kondensierten Alkohol entsteht dann der Wodka. Salze und Metalloproteine verdampfen bei solchen niedrigen Temperaturen natürlich nicht, bleiben also mit dem Wasser zurück. Beim Wodka wird das Destillat zudem besonders gründlich gefiltert, um andere leicht verdampfende Bestandteile wie Aromate aus dem Alkohol herauszuholen. Was aus dem Getreide im Wodka landet, ist also tatsächlich nur der besonders reine Alkohol. Alkohol besteht aber eben chemisch nur aus Kohlenstoff-, Wasserstoff- und Sauerstoffatomen, alles kleine Atomkerne, von denen es kaum radioaktive Isotope gibt (Isotope sind Varianten eines Atomkerns mit unterschiedlicher Zahl von Neutronen darin), und sie entstehen auch nicht in Reaktoren als Produkte der Kernspaltung. Radioaktiv wäre beim Kohlenstoff lediglich Kohlenstoff-14, der natürlicherweise in immer gleicher Menge in der hohen Atmosphäre entsteht und daher zur Altersdatierung archäologischer Fundstücke verwendet werden kann. Im Kühlwasser von Kernreaktoren entsteht auch das radioaktive Wasserstoffisotop Tritium, das sich, falls es freigesetzt wird, aber nicht irgendwo niederschlägt oder anreichert, sondern sich mit dem Wasserkreislauf verteilt und in den Unmengen Wasser auf der Erde im Vergleich zu natürlicher Radioaktivität schlicht verschwindet. Der Alkohol kann also rein chemisch keine radioaktiven Substanzen aus dem Reaktorunfall enthalten. Dementsprechend berichten auch die Portsmouther Forscher, sie hätten im Vodka lediglich den schon erwähnten Kohlenstoff-14 gefunden. Der Wodka wäre also tatsächlich kein bisschen radioaktiver als jeder andere Wodka (und jedes andere Lebensmittel außer reinem Wasser) durch den natürlicherweise enthaltenen Kohlenstoff-14 zwangsläufig auch. Wie sieht es nun aber mit dem Getreide aus?

Laut der Pressemeldung der Universität Portsmouth ist der Grund, warum dieses Getreide nicht einfach so gegessen werden darf, dass die Aktivität durch Strontium-90 „leicht“ über dem ukrainischen Grenzwert von 20 Bq/kg (Becquerel pro Kilogramm) liegt. Was 20 Bequerel und diverse andere Messgrößen zur Radioaktivität physikalisch bedeuten wird – versprochen – schon in den nächsten Tagen ein Thema eines Folgeartikels sein, sonst wird das hier wieder viel zu lang. Zu einer ersten Einordnung können aber ein paar Vergleiche dienen. Ein beliebter Vergleich für die Radioaktivität von Lebensmitteln sind Bananen. Bananen sind reich an Kalium, und alles Kalium auf der Welt enthält noch von der Entstehung der Erde her einen Anteil des langlebigen radioaktiven Isotops Kalium-40. Die Kalium-40-Aktivität von Bananen liegt bei rund 130 Bq/kg. Biologisch betrachtet hinkt der Vergleich allerdings, weil überschüssiges Kalium vom Körper schnell wieder ausgeschieden wird.  Der Kaliumgehalt im menschlichen Körper führt allerdings auch bei normalem Kaliumgleichgewicht schon zu einer Aktivität von rund 50 Bq/kg Körpergewicht. Strontium, das einmal in den Blutkreislauf gelangt ist, kann dagegen anstelle von Calcium in Knochen eingebaut werden und dort sehr langfristig verbleiben. Allerdings wird auch nur ein sehr kleiner Teil des in der Nahrung enthaltenen Strontiums im Darm überhaupt aufgenommen. Die Interpretation solcher Werte ist also kompliziert. In Deutschland gibt es einen laufenden Grenzwert für Strontium-90 in Lebensmitteln nicht, weil dieses Radioisotop in hier produzierter Nahrung aktuell schlicht keine Rolle spielt. In Notstandssituationen läge er allerdings bei 750 Bq/kg, und in den Monaten nach dem Unfall von Fukushima galt dieser Wert auch für Importe aus Japan. In der Schweiz gibt es einen „Toleranzwert“ von 1 Bq/kg, über dem man anfangen würde, nach Ursachen für eine solche unerwartete Kontamination zu suchen – im Katastrophenfall und für Importe gilt aber auch dort der Grenzwert von 750 Bq/kg. Der extreme Unterschied der Grenzwerte erklärt sich sehr einfach daher, dass man in der Ukraine davon ausgehen muss, dass jemand, der Getreide aus dem Umland von Tschernobyl verzehrt, das dauerhaft tut, während man in Deutschland eben nur sehr gelegentlich importierte Lebensmittel aus einem solchen Notstandsgebiet essen würde.

Das Festlegen solcher Grenzwerte ist schwierig, weil sich, anders als bei vielen Giften, für radioaktive Spurenstoffe keine Schwelle festlegen lässt, unterhalb derer sie mit Sicherheit vollkommen unschädlich sind. Angesichts der vielen Faktoren, die das Entstehen einer Krebserkrankung beeinflussen können, lässt sich eine minimale Erhöhung des Erkrankungsrisikos für die meisten Krebsarten kaum von der normalen Schwankungsbreite unterscheiden. Mangels belastbarer besserer Informationen geht man im Strahlenschutz bis heute von der linearen Hypothese (linear no threshold model, LNT) aus, nach der ein Tausendstel der über das Natürliche hinausgehenden Strahlendosis, der hochbelastete Hiroshima-Opfer ausgesetzt waren, genau zu einem Tausendstel von deren über das Natürliche hinausgehendem Krebsrisiko führen sollte – und zwar unabhängig davon, ob man dieser Dosis innerhalb eines Tages oder über Jahre verteilt ausgesetzt ist. Dieser Ansatz ist umstritten und die Datenlage fragwürdig, die Daten geben aber auch keine klaren Indizien für andere plausible Formen eines Zusammenhangs her, zum Beispiel für einen Schwellenwert, unter dem Strahlenschäden im Erbgut größtenteils repariert werden könnten und damit harmlos wären. Grenzwerte sind somit immer eine Abwägung dazwischen, entweder minimale und möglicherweise nur auf dem Papier existierende Risiken weiter zu  minimieren oder wertvolle Lebensmittel zu vernichten oder gar Menschen den Belastungen einer Evakuierung auszusetzen. Eine objektiv richtige Antwort gibt es dabei nicht. Eindeutig falsch wäre es nur, wenn durch eine Evakuierung mehr Menschen zu Schaden kämen als selbst bei der extrem pessimistischen linearen Hypothese durch die Strahlung zu erwarten wären – und zumindest im Fall von Fukushima deutet einiges genau darauf hin. Auch mindestens die Hälfte der 30-Kilometer-Sperrzone von Tschernobyl ist heutzutage – wenn überhaupt – nur noch durch die Sorge zu rechtfertigen, dort wieder lebende Bürger könnten regelmäßig Produkte aus ihrem eigenen Garten verzehren: Die Strahlung, der Menschen von außen ausgesetzt sind, ist dort mit bis zu 0,12 Mikrosievert pro Stunde (auch die Erklärung dazu kommt im nächsten Artikel) nicht höher als von Natur aus in großen Teilen des Schwarzwaldes oder des Bayerischen Waldes, wo sich niemand Gedanken darüber macht, weil Menschen dort schon seit Jahrtausenden damit leben. So ist es auch nicht sonderlich überraschend, dass das erste halblegal in der Sperrzone geborene und aufgewachsene Kind diesen Sommer angefangen hat zu studieren. Ich ärgere mich übrigens bis heute maßlos, dass ich bei einem Ukraine-Urlaub 2011 die Gelegenheit ausgelassen habe, eine Tour durch die damals gerade für Besucher eröffnete Sperrzone zu buchen. Übertriebene Angst vor Strahlung beeinträchtigt also nicht nur die Lebensqualität, sie kann zu schädlichen, im schlimmsten Fall tödlichen, Fehlabwägungen führen.

Womit wir wieder beim Wodka wären. Die 0,7 Liter Wodka in der angeblich wichtigsten Schnapsflasche der Welt enthalten 280 Milliliter reinen Alkohol, für deren Herstellung ungefähr 800 Gramm Getreide verbraucht werden – und man muss sich ernsthaft die Frage stellen, ob das Getreide mit seinen knapp über 16 Becquerel Strontium tatsächlich gefährlicher ist als die 280 Milliliter Alkohol. Für den Unfall von Tschernobyl insgesamt errechnet die Weltgesundheitsorganisation basierend auf der pessimistischen linearen Hypothese knapp 10.000 Todesfälle in der Ukraine und Weißrussland durch direke Strahlenschäden und spätere Krebserkrankungen. Im Vergleich dazu sterben laut Kiewer Statistikamt jedes Jahr 40.000 Menschen in der Ukraine an den direkten Folgen ihres Alkoholkonsums. Nun kann man argumentieren, dass es sich dabei überwiegend um Fälle extremen oder dauernden Alkoholmissbrauchs gehandelt haben dürfte, und bei der Flasche Wodka ist ja nicht vorausgesetzt, dass man sie alleine an einem Tag konsumieren muss. Ob mäßiger Alkoholkonsum ebenfalls schädlich ist, ist durchaus umstritten, und es wird argumentiert, er könne sogar gesundheitsfördernd sein – exakt das liest man allerdings auch über kleine Dosen radioaktiver Strahlung.

Auch wenn ich selbst Alkohol allenfalls sehr selten und nur in kleinen Mengen als Geschmacksträger konsumiere (gute Weine finde ich einfach zu interessant, um sie nicht wenigstens mal zu probieren): Es liegt mir fern, jemandem einen gelegentlichen Wodka-Martini, vielleicht auch mal einen mäßigen Rausch, ausreden zu wollen, der daraus Genuss und Lebensqualität zieht. Die Forderung, ein langes Leben mit Freudlosigkeit zu erkaufen, darf man ruhig mit der Frage „Wozu eigentlich?“ erwidern. Man sollte nur nicht an alltägliche und an weniger vertraute Risiken völlig unterschiedliche Maßstäbe anlegen. Und wenn man mir ganz persönlich den Atomik-Wodka anbieten würde, muss ich sagen, da würde ich dann genau dieses Getreide doch lieber als Brot zu mir nehmen.