Es war hier peinlich lange sehr, sehr ruhig, ich weiß. Das lag zum Teil an der Entstehung meines vierten Buchs „Faktenimmun“, zum Thema Wissenschaftsleugnung, das Ihr über den Link rechts auf der Seite bestellen könnt. Es hat aber auch sehr viel mit der höchst problematischen Entwicklung der Skeptikerorganisation GWUP zu tun, einer Entwicklung gegen die ich ein Jahr lang als Vorsitzender angekämpft habe. Das hat ungeheuer viel Zeit und Kraft gekostet, aber es war den Versuch wert, eine wichtige, verdiente Organisation seriös zu halten – auch wenn es letztlich nur ein Jahr Aufschub gebracht hat. So findet sich inzwischen jemand im Vorstand der GWUP, der mir unter anderem vorgeworfen hat, ich hätte „Schwierigkeiten damit, gut belegte Thesen und Erkenntnisse einer bedeutenden Wissenschaftsdisziplin anzuerkennen“. Warum das? Weil ich darauf hingewiesen habe, dass „Geschlecht“ eben auch biologisch ein komplexes Thema ist, das nicht auf ein primitives „nur zwei“ reduziert werden kann – außer eben, man will sich in den Dienst höchst fragwürdiger und letztlich menschenfeindlicher Propaganda stellen und die wirklichen wissenschaftlichen Fragen unter den Tisch fallen lassen. Auch bei der Mitgliederversammlung gipfelte die Diskussion über den künftigen Vorsitz in der Frage eines Wissenschaftsratsmitglieds an die beiden Kandidaten: „Wie viele Geschlechter gibt es?“
Die Fragestellung kann einem bekannt vorkommen:
Zu den Aushängeschildern des Vereins gehört inzwischen jemand, der nebenbei im gut ausgestatteten Videostudio der ehemaligen RT-Deutsch-Moderatorin Jasmin Kosubek als „Ex-Woker“ freundlich lächelnd darüber fabuliert, wie gefährlich doch „Wokeness“, also die Rücksichtnahme auf Minderheiten, sei.
Wer die Tragödie der GWUP im Detail nachlesen möchte, kann das bei Florian Aigner tun, der alles mit viel mehr Geduld und Sachlichkeit zusammengefasst hat, als ich es könnte.
Eine schriftliche Übersicht dazu, wie komplex das Thema des Geschlechts in der Biologie ist, findet sich zum Beispiel in einem wunderbaren Leitartikel im Laborjournal, geschrieben von Prof. Dr. Diethard Tautz, dem kürzlich emeritierten Direktor der Abteilung „Evolutionsgenetik“ am Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön. Er war auch einer unserer Gäste in der Folge „XX oder XY – ist es so einfach?“ des WTF-Talks, in dem Annika Harrison, Bernd Harder und ich viele Fragen zu dem Thema stellen und spannenden Diskussionen der Experten lauschen konnten. Weitere Gäste waren der Bioethiker Prof. Dr. Christoph Rehmann-Sutter, Sprecher des Sonderforschungsbereichs sexdiversity der Universität Lübeck, die Wissenschaftshistorikerin Prof. Dr. Lisa Malich, ebenfalls in diesem Sonderforschungsbereich aktiv, sowie der Biologe Fabian Deister von der Zoologischen Staatssammlung München, der als „Fabiologe“ auf Youtube Wissenschaft erklärt. Seht Euch die Folge an – für mich gehört sie zu den besten, die wir im WTF-Talk bis jetzt hatten.
Ich will die Inhalte hier gar nicht wiederholen. Was mir aber im Kontext dieser Diskussionen aufgefallen ist, ist die frappierende Ähnlichkeit der Argumentation der „Es gibt nur zwei Geschlechter“-Ideologen mit der der Quantenschwurbler, die ich schon im Buch Relativer Quantenquark und seitdem in diversen Vorträgen dargelegt habe. Es handelt sich gewissermaßen um eine schrittweise Eskalation des Unsinns von der Wahrheit bis zu dem Bullshit (ja, das ist der korrekte Begriff aus der Philosophie), dem man Glaubwürdigkeit zuschreiben möchte.
1. Man beginnt mit einer (bei korrekter Formulierung) wahren Aussage.
Im Fall des Quantenquarks verwendet man dabei gerne eine Aussage aus der modernen Physik, die für Laien besonders erstaunlich wirkt. Man kann sich zum Beispiel aus der Relativitätstheorie bedienen mit: „E = mc². Energie und Masse sind äquivalent.“ Aus der Quantenmechanik eignet sich etwas wie: „Bei Messungen tritt ein Phänomen auf, das Beobachtereffekt genannt wird.“ Dass dieser Beobachtereffekt nichts, aber auch wirklich gar nichts mit einem menschlichen Beobachter zu tun hat, erwähnt man vorsichtshalber nicht. Alternativ kann man auch auf das Phänomen der Quantenverschränkung zwischen zwei gemeinsam entstandenen kleinsten Teilchen verweisen, das nur so lange existiert, wie diese Teilchen vollständig von der Außenwelt isoliert sind.
Bei der Argumentation der „nur zwei Geschlechter“-Ideologie lautet die entsprechende wahre Aussage: „Bei der zweigeschlechtlichen Fortpflanzung gibt es genau zwei Geschlechter von Fortpflanzungszellen.“ Ja, diese Aussage ist genau so banal und beinahe tautologisch, wie sie klingt. Es geht dabei nicht um Menschen. Es geht überhaupt nicht um ganze Organismen. Es geht ausschließlich um Fortpflanzungszellen. Diejenigen Fortpflanzungszellen, deren Mitochondrien auf die nächste Generation übergehen, bezeichnet man als weiblich.
Wenn man statt einzelner Zellen ganze Organismen betrachtet, die sich zweigeschlechtlich fortpflanzen können, dann findet man zum Beispiel Tiere oder Pflanzen, die gleichzeitig beide Geschlechter von Fortpflanzungszellen produzieren können. Andere produzieren im Laufe ihres Lebens erst das eine und dann das andere Geschlecht. Es gibt auch jede Menge Organismen solcher Arten, die gar keine Fortpflanzungszellen produzieren – am bekanntesten sicherlich die „Arbeiterinnen“ bei der Honigbiene. Dazu kommt, dass Zweigeschlechtlichkeit nicht die einzige Möglichkeit ist, sich fortzupflanzen. Die nichtgeschlechtliche Vermehrung unabhängig von spezifischen Fortpflanzungszellen ist in der Natur weit verbreitet (vor allem bei Einzellern, aber zum Beispiel auch bei Pflanzen durch Ableger). Bei diversen Reptilien, Knorpelfischen, Spinnentieren und Insekten gibt es auch eine eingeschlechtliche Vermehrung (Parthenogenese) über unbefruchtete Fortpflanzungszellen.
Biologisches Geschlecht ist also schon auf zellulärer Ebene bemerkenswert vielfältig, und wenn man dann ausgewachsene, vielzellige Organismen betrachtet, ist eine Zuordnung zu einem von genau zwei Geschlechtern letztlich immer eine Übervereinfachung mit zwangsläufigen Ungenauigkeiten. Auch ein Mensch hat niemals ausschließlich männliche oder ausschließlich weibliche „Geschlechtsmerkmale“ – und das ist natürlich ein Bestandteil (und auch ein Forschungsfeld) der Biologie.
2. Man formuliert bewusst ungenau, so dass man nicht lügt, aber bei Laien ein falscher Eindruck entsteht.
Dieser Zwischenschritt ist entscheidend für das Funktionieren der ganzen Scheinargumentation. Man verschiebt die Torpfosten und erweitert den wahrgenommenen Inhalt der Aussage, bleibt dabei aber noch so vage, dass man sich bei fundierter Kritik problemlos auf sicheres Terrain zurückziehen kann. Im Fall der Relativitätstheorie wird so aus der Äquivalenz von Masse und Energie die Behauptung, Materie sei ja „nur“ Energie, wobei unklar bleibt, ob damit überhaupt Energie im physikalischen Sinne gemeint ist. Aus dem irreführend benannten Beobachtereffekt der Quantenmechanik wird die Behauptung, der Beobachter beeinflusse das Ergebnis einer physikalischen Messung (in Wahrheit sorgt ein Beobachter, wenn überhaupt, höchstens dafür, dass eine Messung im quantenmechanischen Sinne überhaupt stattfindet). Zur Quantenverschränkung folgt an dieser Stelle in der Regel der Hinweis, dass dieser von Albert Einstein als „spukhafte Fernwirkung“ bezeichnete Effekt nach neuen Forschungsergebnissen auch in Größenordnungen des Alltags relevant sei. Alle diese Behauptungen haben gemeinsam, dass sie eindeutig falsch sind, man Kritik daran aber wegen der Ähnlichkeit zu wissenschaftlich korrekten Aussagen als bloße Wortklauberei abtun kann.
Die analoge Behauptung aus der Geschlechterdebatte ist, in der Biologie gäbe es genau zwei Geschlechter. Das ist noch spezifisch genug, um es oberflächlich von Fragen des sozialen Geschlechts abzugrenzen, dem man damit noch eine, wenngleich gegenüber der Biologie als „echter Wissenschaft“ minderwertige, Existenzberechtigung zuspricht. Dem könnte die kritische Frage begegnen, ob denn Forschung zur Vermehrung der in jedem Supermarkt zu findenden Cavendish-Banane (die sich, weil kernlos, nicht zweigeschlechtlich fortpflanzen kann) oder zur Vermehrung von Schnecken als Zwitter keine Biologie sei. Dann kann man sich immer darauf zurückziehen, man habe ja nur vom „biologischen Geschlecht“ gesprochen, das eben als das Geschlecht von Fortpflanzungszellen definiert sei. „Definiert“ ist dabei ein wichtiges Wort. Dass mit dem Geschlecht in einigen Feldern der Biologie ausschließlich das Geschlecht von Fortpflanzungszellen gemeint ist, ist nicht eine wissenschaftliche Erkenntnis (also ein Ergebnis von Wissenschaft), sondern schlicht eine Definition. Diese Definition ist deshalb praktisch, weil sie eben, ganz anders als eine Geschlechtsbestimmung nach Chromosomen oder sogenannten Geschlechtsmerkmalen, gerade zu den gewünschten genau zwei Geschlechtern führt.
Für einige Forschungsfragen ist das sicherlich eine hinreichende Definition – wenn man ein Geschlecht ganzer, mehrzelliger Organismen angeben will, ist es das aber nicht. Man kann sich darauf herausreden, der Organismus hätte dann eben das Geschlecht der Fortpflanzungszellen, die er produziert, und das sei ja bei Menschen, anders als zum Beispiel bei Schnecken, immer nur eines. Die Existenz von Menschen, die sich so eben nicht eindeutig einem Geschlecht zuordnen lassen, wischt man als seltene Ausnahmefälle vom Tisch. Dabei vergisst man dann gerne, dass nach dieser Zuordnung eben nicht nur ein Teil der intersexuellen und transsexuellen Menschen, sondern zum Beispiel auch viele Überlebende von Hodenkrebs und praktisch alle Frauen jenseits der Wechseljahre überhaupt kein Geschlecht hätten.
3. Man folgert daraus ungehemmt völlig unhaltbare Behauptungen.
Haben die Leser oder Zuhörer den zweiten Schritt kritiklos als wissenschaftliche Erkenntnis hingenommen, dann sind im Folgenden Tür und Tor offen für die hanebüchensten Behauptungen, ohne dass man noch viele kritische Nachfragen befürchten muss – zumindest solange man die jeweiligen Voreingenommenheiten des Publikums bedient.
So heißt es, die Energie, die angeblich nach der Relativitätstheorie dasselbe wie Materie sein soll, sei die Energie menschlicher Gedanken, die dementsprechend in der Lage seien, die Realität nach ihren Wünschen zu formen. Der Beobachtereffekt soll nicht nur die Messung beeinflussen, sondern ihr Ergebnis festlegen, und gleichzeitig werden allerlei Vorgänge zu quantenmechanischen Messungen erklärt, so dass man sich seine Zukunft mehr oder weniger beliebig „manifestieren“ kann. Aus der vermeintlichen spukhaften Fernwirkung wird „alles hängt mit allem zusammen“, so dass das esoterische Wunschkonzert nicht nur für einen selbst, sondern gleich für die ganze Welt gilt, man sich von Deutschland aus also bequemerweise auch gleich Frieden im Nahen Osten manifestieren kann – in der betreffenden Szene sicher gerne einen „Frieden“, in dem Israel nicht mehr vorkommt.
Bei den selbsternannten Rettern der Biologie fällt an dieser Stelle einfach unter den Tisch, dass es ja eigentlich nur um die Biologie ging, und aus der Ursprungsthese wird einfach: „Es gibt nur zwei Geschlechter!“ Dabei handelt es sich dann auch weder um eine Definition noch um eine vermeintliche wissenschaftliche Erkenntnis, sondern um die Forderung nach einer gesellschaftlichen Norm. Viele Leute, die vorgeben, für die Integrität der Biologie einzutreten, nutzen diesen Satz, um Menschen auszugrenzen und abzuwerten, die von ihrem Verhalten, ihren Bedürfnissen oder ihren körperlichen Voraussetzungen nicht dieser gewünschten Norm entsprechen. Die Wächter dieser Norm präsentieren Kiwi-Emojis (weil es zwei Geschlechter von Kiwipflanzen gibt) sowie diverse andere transfeindliche Codes in ihren Social-Media-Profilen und bezeichnen nach Belieben öffentlich Frauen, die nicht ihren Vorstellungen entsprechen, als Männer. Während der olympischen Spiele inszenierten sie eine beispiellose Hetzkampagne gegen die (als Frau geborene) Boxerin Imane Khelif – und die „neue“ GWUP beteiligte sich zu meinem Entsetzen, aber nicht zu meiner Überraschung an dem schmutzigen Spiel.
(9.9.2024: Ich füge an der Stelle mal den folgenden Absatz aus einer Facebook-Diskussion ein, weil er vielleicht nochmal etwas klarer macht, worum es mir eigentlich geht.)
Warum will jemand wissen, ob Geschlecht in der Biologie binär ist? Darf jemand nicht zur Vermehrung von Schnecken forschen, weil die nicht binär sind? Darf jemand in der Genetik nicht mit väterlicher und mütterlicher Linie modellieren, weil Geschlecht auf der Ebene von Einzelorganismen viel komplexer ist? Natürlich nicht. Es wird auch niemand seine Doktorarbeit schlechter bewertet bekommen, weil er sich darin Geschlecht so definiert, wie es auf seine Forschungsfrage passt. Für die seriöse Biologie ist das eine Diskussion über Kaisers Bart. Problematisch wird es erst, wenn Leute meinen, Jura oder Gesellschaftspolitik aus etwas herleiten zu müssen, was auch in der Biologie kein Forschungsergebnis, sondern einfach nur eine Definition ist.
Wieviel das Ganze mit Wissenschaftlichkeit zu tun hat, sieht man an den Xitterkanälen des Aushängeschilds der deutschen anti-Trans-Bewegung, der (seit inzwischen sechs Jahren) Biologiedoktorandin Marie-Luise Vollbrecht. Bekannt wurde sie 2022, als sich diverse rechte Gruppen empörten, weil die Humboldt-Uni einen Vortrag abgesagt hatte, in dem Vollbrecht angeblich nur erklären wolle, dass es in der Biologie genau zwei Geschlechter gibt. Auf dem Xitteraccount, auf dem sie zu ihrer Forschung und allgemein zur Arbeit junger Wissenschaftler schreibt, erschienen im gesamten August 2024 genau drei Posts. Auf ihrem parallel betriebenen transfeindlichen Hetzaccount waren es im selben Zeitraum mehr als 200.