Eigentlich geht es hier ja um Esoterik, Bullshit und Spekulatives, die sich als Quantenphysik oder Relativität tarnen, aber auf der Suche danach stößt man ab und zu auf Dinge, die noch viel verblüffender sind, gerade weil sie zur tatsächlichen, seriösen Physik gehören. Wenn diese verblüffenden Dinge von sehr jungen Menschen gemacht werden, die (zumindest noch) keine Physiker sind, dann ist das einfach großartig.
Meine erste Faustregel zum Erkennen von Quantenquark ist ja folgende: Wenn es mit Mitteln unseres Alltags zugänglich ist, hat es sehr wahrscheinlich nichts mit Relativitätstheorie oder Quantenmechanik zu tun. Ab und zu gibt es Ausnahmen, und eine hat vor zwei Jahren Rowina Caspary geschafft, damals Schülerin in der zwölften Klasse eines Dresdner Gymnasiums. Im Rahmen einer „Besonderen Lernleistung“ am Netzwerk Teilchenwelt hat sie einen Detektor für Elementarteilchen aus ganz normalen Materialien gebaut, die man im Supermarkt bekommt. Die so entstandene Nebelkammer gehört zwar zu den ältesten Detektortypen der Teilchenphysik, aber auch zu den beeindruckendsten, weil sie ganz ohne elektronische Geräte die Spur eines Teilchens, das viel kleiner ist als ein einzelnes Atom, mit bloßem Auge sichtbar machen kann. Das sieht dann, bei perfekter Beleuchtung photographiert, so aus:
Das Bild (Quelle: Wikimedia) stammt aus dem Jahr 1929 und zeigt den ersten Nachweis eines Positrons und damit des ersten Antimaterieteilchens, das Paul Dirac erst ein Jahr vorher theoretisch vorhergesagt hatte. Die lange, gekrümmte Spur von links unten nach links oben ist der Weg des Positrons, und die horizontale Platte in der Mitte hat es unterwegs abgebremst, so dass man aus der Krümmung der Spur erkennen kann, dass es von unten nach oben geflogen sein muss.
Nicht nur sichtbar, sondern auch noch hörbar machen kann man Teilchen in einer Funkenkammer, wie man sie in größeren Physikausstellungen zu bewundern ist, zum Beispiel im Microcosm am CERN (jedenfalls vor dem aktuellen Umbau, hoffentlich ist sie noch da). Nur braucht man für so eine Funkenkammer einen Hochspannungsgenerator, jede Menge Edelgase für die Zwischenräume, höchst präzise montierte und isolierte Metallplatten und so weiter. In diesem Video sieht man eine an der Universität Birmingham:
Wie funktioniert aber nun Rowina Casparys wunderbar einfache Nebelkammer? Wie mit allen Spurdetektoren kann man damit nur elektrisch geladene Teilchen nachweisen. Wenn die durch Materie, zum Beispiel durch Luft oder Dampf, hindurchfliegen, reißen ihre elektromagnetischen Kräfte Elektronen aus den Atomen, an denen sie vorbeikommen. Sie hinterlassen also eine Spur von freigesetzten Elektronen und positiv geladenen Atomrümpfen (Ionen), die Sekundenbruchteile brauchen, um sich wieder zusammenzufinden. In dieser Zeit kann man die Spur mit den richtigen Tricks sichtbar machen oder elektronisch nachweisen. In der heutigen Teilchenphysik macht man das meistens, indem man Signale der Elektronen durch Hochspannung verstärkt und elektronisch ausliest. Das geht schnell und lässt sich direkt im Computer weiterverarbeiten.
Viel eleganter geht das in der Nebelkammer: In einem dünnen Alkoholdampf, der gerade heiß genug ist, dass sich noch keine Tropfen niederschlagen, bilden sich die ersten Nebeltröpfchen genau entlang der Spur der vom Teilchen freigesetzten Elektronen, und diese Tröpfchen kann man im richtigen Licht sehen oder mit der Kamera für die Nachwelt festhalten. Um den Dampf genau an diesem Kondensationspunkt zu halten, gibt es zwei Möglichkeiten. In Verbindung mit einer Kamera kann man den Druck in der Kammer mit einem Kolben kurzzeitig verändern und genau in diesem Moment eine Aufnahme machen. Will man dagegen die Spuren mit dem Auge sehen, verwendet man eine Diffusionsnebelkammer, in der sich zwischen einer heißen Ober- und einer kalten Unterseite der Kammer in der Mitte eine Schicht mit gesättigtem Dampf bildet. Normalerweise verwendet man für so eine Diffusionsnebelkammer Heizdrähte, Trockeneis zum Kühlen und für den Dampf Aceton oder wenigstens Isopropanol. Das ist alles teuer, schwer zu bekommen und in Handhabung problematisch, also nicht unbedingt zum Vorführen im Klassenzimmer geeignet. Rowina Caspary hat in ihrer Arbeit gezeigt: Es geht auch mit Wärmflaschen, Kühlkompressen und Brennspiritus. Eine Bauanleitung nebst umfassenden Erläuterungen zu den physikalischen Hintergründen und Bildern von Aufbau und Ergebnissen findet sich in der schriftlichen Ausarbeitung zu den Messungen. Sie ist für jemanden, der noch nicht mal angefangen hat zu studieren, auch noch hervorragend geschrieben und beim Netzwerk Teilchenwelt herunterzuladen.
Mit der Messung von Elementarteilchen ist der Bezug zur Quantenphysik recht offensichtlich, aber ich hatte ja auch noch die Relativitätstheorie versprochen. Die spielt bei der Herkunft der beobachteten Teilchen eine Rolle. Die können einerseits aus radioaktiven Quellen stammen. Da man einzelne Teilchen sichtbar macht, genügen geringe Aktivitäten, zum Beispiel aus Uranglas oder uranhaltigen Natursteinen, die frei verkäuflich sind. Wenn man aber keine Quelle zur Verfügung hat, sind die häufigsten und wegen ihrer schnurgeraden Spuren auffälligsten Teilchen, die man beobachten kann, Myonen aus der kosmischen Strahlung.
Myonen sind sehr kurzlebig und entstehen bei Kollisionen anderer Teilchen, vor allem dann, wenn energiereiche Strahlung aus dem All auf die Atome der Erdatmosphäre trifft. Das passiert typischerweise in großen Höhen von zehn Kilometern und mehr. Weiter unten entstehen Myonen kaum, weil diese Strahlung selten tiefer in die Atmosphäre eindringen kann, ohne schon auf irgendein Atom aus der Luft getroffen zu sein. Deswegen ist man auf Flugreisen auch deutlich stärkerer Strahlung ausgesetzt als am Boden. Die meisten in den Kollisionen produzierten Teilchen werden dann auf ihrem Weg durch die Luft gestoppt. Nur Myonen sind für Elementarteilchen relativ schwer und fliegen daher von der Luft relativ ungestört direkt bis zum Boden weiter. Allerdings haben Myonen nur eine durchschnittliche Lebensdauer von etwa zwei Mikrosekunden. In zwei Mikrosekunden kann ein Teilchen, selbst wenn es fast Lichtgeschwindigkeit hat, nur etwa 600 Meter zurücklegen. Eigentlich hätten also so gut wie keine Myonen aus der Höhenstrahlung bis in Rowina Casparys Nebelkammer gelangen dürfen.
Wie auch oben im Film mit der Funkenkammer zu sehen ist (die geraden Spuren durch die ganze Kammer sind alles Myonen), kommen aber tatsächlich ziemlich viele dieser kurzlebigen Teilchen am Boden an. Möglich ist das nur durch die Relativitätstheorie: Durch ihre hohe Geschwindigkeit nahe an der Lichtgeschwindigkeit vergeht für die Myonen die Zeit langsamer, so dass deutlich weniger zerfallen, bevor sie den Boden erreichen. So liefert die coole, einfache Nebelkammer in Verbindung mit der Lebensdauer von Myonen auch noch einen Test der Relativitätstheorie.
Bleibt abschließend also noch die Frage, woher kennt man die Lebensdauer von langsamen Myonen, wenn sie doch immer nur in hochenergetischen Kollisionen erzeugt werden? Man misst mit einem sehr zeitempfindlichen Detektor, wann ein Myon in ein schweres Material hineinfliegt, in dem es dann abgebremst wird, und ein zweiter Detektor registriert, wann die Strahlung vom Zerfall des Myons aus dem Material herauskommt. Sehr viele Messungen ergeben ein Spektrum der jeweiligen Zeiten bis zum Zerfall und damit die durchschnittliche Lebensdauer. Und auch das hat ein Schüler beim Netzwerk Teilchenwelt nachgemessen, zwar nicht mit einem selbstgebastelten Detektor, sondern mit Geräten der TU Dresden, aber auch mit viel Begeisterung für die Physik, die bei den beiden jungen Forschern hoffentlich noch ein paar Jahre anhält, damit der Physik der Nachwuchs nicht ausgeht.