Zuletzt aktualisiert am 20.11.20
Da die Berichterstattung in den gängigen Medien zu den aktuellen Impfstoffentwicklungen mir in vielen Punkten immer noch nicht so richtig gefällt (manches ist sehr lang und schwer verständlich, manches voller Fehler), fasse ich kurz zusammen, was ich an den heutigen Meldungen für wichtig halte:
- Mit Moderna hat jetzt ein zweites US-Unternehmen Zwischenergebnisse aus einer Phase-III-Studie zu einem SARS-CoV-2-Impfstoff vorgestellt, und auch die zeigen einen Schutz vor Infektionen von irgendwo oberhalb von 90% (die errechnete Zahl von 94,5% aus ganzen 95 Fällen sagt wenig Genaueres aus). Auch hier gibt es natürlich bislang nur eine Pressemitteilung, keine wissenschaftliche Publikation.
- Es handelt sich ebenfalls um einen RNA-Impfstoff, also sehr ähnlich zu dem von BioNTech und Pfizer. Der Moderna-Impfstoff soll aber länger bei Kühlschranktemperatur lagerfähig sein, was vor allem für weniger entwickelte Länder wichtig sein könnte, und bei uns später, wenn die Impfungen sich von Impfzentren in Hausarztpraxen verlagern. Impfstoffe bis kurz vor dem Verbrauch in flüssigem Stickstoff zu lagern zu müssen, lässt sich über Pharmagroßhandel und Apotheken nur schwer einrichten. Hier hätten die Vektorvirus-Impfstoffe von AstraZeneca und der russischen Gamaleya Vorteile, wenn sich Sicherheit und Wirksamkeit bestätigen, weil die einfach im Kühlschrank, zum Teil sogar als Pulver, monatelang lagerfähig sind. AstraZeneca hat aber nach ein paar Problemen in den Phase-III-Studien (die sehr wahrscheinlich einfach nur Pech waren) einen gewissen zeitlichen Rückstand in der Erprobung. Update 20.11.20: Eine breite Einsatzfähigkeit des russischen Impfstoffs scheint sogar noch in relativ weiter Ferne zu liegen: Nachdem im August PR-trächtig schon Personen geimpft wurden, die gar keine Studienprobanden waren, reicht die aktuelle Produktion offenbar nicht einmal, um die Teilnehmer der Studie zu impfen. Da hilft dann auch eine Vorveröffentlichung nicht, die eine Wirksamkeit von 92% auf Basis von 20 Infektionen errechnet haben will. Aber im
merhin, irgendeine Schutzwirkung scheint auch dieser Impfstoff zu haben, und tot umgefallen sind die bislang 16.000 Probanden ganz offensichtlich auch nicht. - Es handelt sich um eine 1:1 placebokontrollierte Studie mit bis jetzt rund 30.000 Probanden. Es haben also bislang nur rund 15.000 Probanden tatsächlich den Impfstoff bekommen, gebenüber fast 39.000 bei Pfizer. Da auch die 39.000 für die FDA noch zu wenig waren, um seltene Nebenwirkungen auszuschließen, gehe ich davon aus, dass der Zulassungsantrag von Moderna in den USA deutlich später kommen wird als der von Pfizer.
Update 20.11.20: Pfizer und Biontech haben inzwischen die Zielwerte für den Zulassungsantrag erreicht. Was mich verwirrt, ist allerdings , dass in der Pressemeldung (passend zu letzten) die Rede davon ist, von 43661 Probanden hätten 41135 „eine zweite Dosis des Impfstoffkandidaten bekommen“. Ich weiß nicht, ob hier die Formulierung falsch ist und die Placeboempfänger mitgezählt wurden, die natürlich keinen Impfstoff bekommen haben, oder ob die Placebogruppe bei den 43661 nicht mitgezählt ist. Die Differenz zwischen den beiden Zahlen scheint mir für eine Placebokontrolle jedenfalls sehr klein, und ich vermute, das sind Probanden, die aufgenommen sind, aber (noch) keine zweite Dosis bekommen haben. Kurz gesagt, das weiß ich nicht; das ist aus den bisherigen Veröffentlichungen nicht klar abzulesen. Anhand von inzwischen 170 Fällen berechnet Pfizer die Wirksamkeit genauer und spricht jetzt (wie Moderna) von „95 Prozent“ anstatt von „über 90 Prozent“. Die Wirksamkeit bei der Teilstichprobe der über 65-Jährigen mit 94 Prozent anzugeben, trägt für mich allerdings das Schild „Scheingenauigkeit“ in großen Lettern vor sich her.
Noch’n Update vom 20.11.20: Gerade geht über den Ticker, dass Pfizer in den USA jetzt offiziell die Notfallzulassung beantragt hat. Okay, ist eine Formalie, aber trotzdem erwähnenswert.
- In Europa läuft ein studienbegleitender Rolling Review für die Impfstoffe von Pfizer, Moderna und AstraZeneca. Gerüchteweise wird hier mit der ersten Zulassung im Januar gerechnet.
- Moderna hat gezielt versucht, Risikogruppen als Probanden zu rekrutieren, allerdings niemanden unter 18. Der Impfstoff dürfte also ebenfalls zunächst nur für Erwachsene zugelassen werden. Pfizer testet außerhalb Europas auch an Jugendlichen ab 12 Jahren, hat aber noch keine Ergebnisse dazu vorgelegt.
- Da die gemeldete Zahl von 94,5% sich laut Pressemitteilung ausdrücklich auf „confirmed cases“, also Infektionen, bezieht und nicht auf Erkrankungen, wie einige deutsche Medien gemeldet haben, erübrigt sich auch die hier zum Teil geführte Diskussion, ob der Impfstoff auch vor weiteren Ansteckungen schützt.
Wer sich nicht infiziert, wird sehr wahrscheinlich niemanden anstecken.
Korrektur 17.11.20: „Confirmed cases“ sind natürlich nur die erkannten Infektionen. Zumindest in der Moderna-Studie werden die Probanden nicht wöchentlich per Abstrich auf Viren getestet, sondern die Überwachung läuft vor allem durch elektronische Symptomtagebücher, regelmäßige Anrufe und nur drei Termine im Studienzentrum über ein Jahr. Die Diagnose läuft dann wie bei jedem anderen auch über einen lokalen Arzt oder ein Covid-Testzentrum. Theoretisch könnte so ein Impfstoff also die confirmed cases auch reduzieren, indem er nicht die Infektion verhindert, sondern nur die Symptome so vollständig unterdrückt, dass sich die geimpften Probanden nie testen lassen. Praktisch kann das in einem modernen Gesundheitssystem aber unmöglich ausreichen, um zu einer Reduzierung der Fälle um 90 oder 95 Prozent zu führen. Infektionen werden ja auch ohne Symptome durch Kontaktverfolgung wenigstens im Familienkreis oder Screeningtests von z.B. Reiserückkehrern entdeckt. Da ein solcher Impfstoff (anders als z.B. ein Totimpfstoff) nur Antikörper gegen einzelne Virusbestandteile verursacht, könnte man solche unerkannten Infektionen auch beim Abschluss der Studie noch nachweisen, indem man auf Antikörper gegen andere Teile des Virus testet, die nicht vom Impfstoff verursacht sein können. Realistisch muss man aufgrund der Daten jedenfalls davon ausgehen, dass die Wirkung des Impfstoffs zumindest zum allergrößten Teil darin besteht, dass tatsächlich Infektionen (und damit dann auch Ansteckungen) verhindert werden, und nicht nur der Ausbruch der Krankheit.
- Nicht minder sinnlos ist allerdings die Diskussion in der Moderna-Pressemeldung selbst, ob der Impfstoff bei den Wenigen, die sich dennoch infizieren, schwere Verläufe verhindern kann. Der Vergleich von 0 schweren Verläufe unter 5 geimpften Infizierten mit 11 schweren Verläufen unter 90 nicht geimpften Infizierten sagt schlicht gar nichts aus. Es gibt aber finde ich Schlimmeres, als nichts über den Einfluss des Impfstoffs auf schwere Verläufe unter den dennoch Infizierten sagen zu können, weil der Impfstoff so gut ist, dass es kaum Geimpfte gibt, die sich überhaupt infizieren.
- Moderna ist ein kleines, spezialisiertes Unternehmen, hat aber durch Kooperationen schon im Sommer viel mehr Produktionskapazität (1 Milliarde Impfdosen ausreichend für 500 Millionen Patienten) gemeldet als der Riese Pfizer. Daran ändert auch die neu zugekaufte eigene Kapazität des Pfizer-Partners BioNTech in Marburg wenig. Modernas Kapazitätsvorteil könnte vor allem für Menschen außerhalb der Hauptmärkte USA/EU/Japan wichtig sein. Ich weiß aber nicht, inwieweit diese Produktionspartner bereit sind, vor einer Zulassung schon vorzuproduzieren. Es kann also sein, dass diese Produktion so richtig erst im Frühjahr anläuft. Auffällig ist auch, dass Modernas Lieferant Catalent Produktionsverträge für mehrere konkurrierende Impfstoffentwicklungen hat – die werden vermutlich zumindest zum Teil alternativ eingeplant sein und nicht gleichzeitig. Da die chinesische Sinovac (die mit ihrem altmodischeren Totimpfstoff vor allem Länder außerhalb der Hauptmärkte auf dem Schirm haben dürfte) auch Verzögerungen in den Studien hat, könnte es also tatsächlich sein, dass die USA mit Vorteilen aus dem Rennen um Impfstoffdosen kommt. Update 20.11.20: Der Leser RPGN01 hat freundlicherweise in den Kommentaren darauf hingewiesen, dass die Unterbrechung bei Sinovac wohl nur extrem kurz war, nachdem sich die Todesursache als Suizid herausgestellt hatte.
- Die EU verhandelt schon seit einigen Wochen mit Moderna, aktuell wohl über 160 Millionen Dosen in 2021, hat aber noch keinen festen Liefervertrag. Für die EU hängt damit immer noch viel an der Zulassung des Vektorvirusimpfstoffs von AstraZeneca oder alternativ wenigstens des Wettbewerbers Janssen. Ohne deren einfache Lagerfähigkeit, riesiges Produktionsnetzwerk und feste Lieferverträge kann 2021 noch ein langes Jahr werden…
- Update 20.11.20: Inzwischen hat auch AstraZeneca neue Ergebnisse vorgestellt – die sind aber nicht wie bei den anderen Herstellern Vorabdaten der Phase III, sondern fassen die Ergebnisse der Phase II zusammen. Sie stammen nur von 560 Patienten und können daher nur Angaben zur Immunreaktion und zu häufigeren Nebenwirkungen umfassen, nicht zur tatsächlichen Wirksamkeit und seltenen Nebenwirkungen. Beim aktuellen Stand der Entwicklung ist das zwar solide und wichtig, aber irgendwie nicht so richtig sexy. Dass das gerade jetzt kommt, ist auch keine Reaktion auf die Konkurrenz nach dem Motto „Wir haben auch was“ – die Veröffentlichung ist eben jetzt im angesehenen Magazin „Lancet“ erschienen und somit keine Vorabmeldung, sondern tatsächlich eine wissenschaftliche Publikation. Dass die Entwickler des Impfstoffs an der Oxford University von Weihnachten als Termin der ersten Phase-III-Daten sprechen, deutet allerdings doch einen inzwischen deutlichen Rückstand an.
Reicht für eine Lagertemperatur von minus 70 Grad Celsius nicht auch Trockeneis (statt Flüssigstickstoff)?
Stimmt, das geht auch. Da ist der Transport etwas einfacher, weil die Gefahr durch Umkippen nicht so groß ist. Dafür ist das Belüftungsproblem eher größer, weil CO2 dazu neigt, Seen zu bilden.
Und die Lagerdauer in der Transportverpackung ist bei beiden sehr begrenzt.
Curevac steht vor der Phase III und hat einen Vorab-Kaufvertrag mit der EU geschlossen.
https://www.n-tv.de/wirtschaft/Curevac-will-Produktion-beschleunigen-article22174903.html
Sinovacs Probleme in Brasilien mit ihrem Totimpfstoff haben sich geklärt. Der gemeldete Todesfall steht nicht in Zusammenhang mit der Phase III.
https://uk.reuters.com/article/uk-health-coronavirus-sinovac-brazil/brazil-to-receive-first-doses-of-chinas-sinovac-covid-19-vaccine-butantan-institute-idUKKBN27X2LA
Danke für die Zusatzinfos.
Das mit Sinovac ist an sich nicht überraschend, aber eineinhalb Tage Unterbrechung ist in der Tat schnell.
Curevac hat halt, zum Teil vielleicht dadurch, dass sie erst mal eine relativ normale Phase II durchgezogen haben, rund ein halbes Jahr Rückstand, wenn sie zum Jahresende mit Phase III anfangen wollen. Ich sag es mal so: Eigentlich habe ich als 50jähriger die Hoffnung, schon geimpft zu sein, wenn der Curevac-Impfstoff auf den Markt kommt. Und wenn alles glatt geht, wäre das schon der dritte RNA-Impfstoff, vermutlich mit ähnlichen Lagerproblemen wie bei Pfizer und Moderna. Da könnte die Luft in den großen Märkten schon langsam dünn werden. Trotzdem eine gute Rückversicherung, falls Andere ausfallen. Ich gehe davon aus, dass die Zulassungsbehörden einen verträglichen und wirksamen Impfstoff in diesem Fall nicht blockieren werden, selbst wenn der therapeutische Vorteil gegenüber denen, die es dann schon gibt, nicht ganz so offensichtlich sein sollte.
https://www.zeit.de/news/2020-11/18/wettkampf-in-der-impfstoffentwicklung-ist-gut
Moderna steigt jetzt übrigens auch bei Grippeimpfstoffen ein, könnte sehr cool werden weil diese mRna Impfstoffe ne sehr gute T-Zell Antwort zu liefern scheinen und sehr schnell und präzise entwickelt werden können. Im Moment ist das bei den Grippeimpfstoffen ja noch eher Steinzeit. Übernächstes Jahr dann Grippe und Cornaimpfstoff in einem Rutsch yeeeaaaaa
https://investors.modernatx.com/news-releases/news-release-details/moderna-announces-progress-across-broad-portfolio-and-all-three
Seasonal influenza (flu): Moderna is entering the seasonal flu business. Seasonal flu (type A and type B) epidemics occur seasonally and vary in severity each year, causing respiratory illnesses and placing substantial burden on healthcare systems. Currently approved vaccines are ~40-60% effective and face significant challenges from strain mismatch1; high-risk groups would benefit from higher efficacy, which the Company believes its mRNA platform may be capable of delivering.
Sicherlich bringt dieses Jahr auch die Impfstoffentwicklung insgesamt voran, und die Grippe ist ein guter Kandidat, um davon zu profitieren. Da wird allerdings das grundsätzliche Problem nicht weggehen, dass man vorher raten muss, welche Stämme in der kommenden Saison wichtig sein werden. Mit RNA-Impfstoffen würde man zwei oder drei Monate Zeit gewinnen, aber mehr auch nicht.
Außerdem darf man nicht vergessen, dass die Zulassung jetzt so schnell ging, weil einerseits die Zulassungsbehörden Verfahren vereinfacht und Sonderschichten eingelegt und sicherlich auch die Ethikkommissionen höhere Risiken für die Studienprobanden akzeptiert haben.
Andererseits war jetzt auch einfach wahnsinig viel Risikokapital da, teils aus öffentlichen Mitteln, aber zum größten Teil von der Industrie selbst. Beim Grippeimpfstoff weiß die Industrie sehr genau, dass die Einführung der letzten Innovationen (Impfstoff gegen vier Virenstämme statt drei, hühnereiweißfreier Impfstoff) in Deutschland vor allem von den gesetzlichen Kassen ausgebremst wurden. Bei dem Thema ist der Druck der Kostenträger in vielen Ländern viel höher. Man muss sich klar sein: Die Kassen haben generell kein Interesse daran, dass es überhaupt irgendwelche Fortschritte bei Arzneimitteln gibt, weil dann jedes Mal neue (in der Regel erst mal höhere) Preise verhandelt werden müssen und man nicht einfach die Preise vom letzten Jahr wieder um ein paar Prozent nach unten drücken kann.
Kurz gesagt, Grippe ist sicher ein Thema für RNA-Impfstoffe, aber ich würde sie noch nicht in zwei Jahren erwarten.