Mein Problem mit (bestimmten Vertretern) der „evidenzbasierten Medizin“ – zum Beispiel der heutigen STIKO

Regelmäßige Leser meines Blogs wissen ja, dass ich eine Tendenz zu einer gewissen, äh, Ausführlichkeit habe… Wer also direkt zu meiner Meinung zum aktuellen Problem der Covid-Impfung für Kinder und Jugendliche kommen möchte, kann einfach zur entsprechenden (nämlich der letzten) Zwischenüberschrift vorspringen. Wer wissen möchte, warum ich die aktuelle, fragwürdige Haltung der Ständigen Impfkommission (STIKO) dazu nicht für einen Zufall, sondern für den Ausdruck eines grundsätzlich problematischen Wissenschaftsverständnisses halte, sollte sich Zeit für den ganzen Text nehmen.

Von einem engagierten Skeptiker und gelegentlichen Unterstützer des Informationsnetzwerks Homöopathie sollte man eigentlich eine Eloge auf die „evidenzbasierte Medizin“ erwarten. Und natürlich lege ich tatsächlich großen Wert darauf, dass die Methoden der Medizin auf soliden wissenschaftlichen Ergebnissen beruhen. Ärzte oder Apotheker, die mir unter Berufung auf ihre subjektive Erfahrung Homöopathie, Anthroposophische „Medizin“, Akupunktur oder ähnliche überteuerte Placebos als wirksame Medizin verkaufen wollen, dürfen sich gerne andere Kunden suchen.

Mein Problem mit der „evidenzbasierten Medizin“ hat auch nicht wirklich etwas mit den Anführungszeichen zu tun, die dem einen oder anderen aufgefallen sein dürften. Die benutze ich einfach nur deshalb, weil es sich bei dem Begriff ganz vorsichtig ausgedrückt um eine ziemlich unglückliche Übersetzung des englischen evidence-based medicine (EBM – ich kann es mir immer noch nicht verkneifen, bei dem Kürzel erst mal an electronic body music zu denken) handelt, basierend auf dem, was man in der Sprachwissenschaft einen falschen Freund nennt. Auch wenn es dasselbe Wort zu sein scheint, Evidenz (also die Offensichtlichkeit eines Sachverhalts) bedeutet etwas anderes als evidence (Beweise). Wenn evidence in der medizinischen Wissenschaft evident wäre, könnte man sich einen großen Teil der Literatur zur EBM sparen.

Ich möchte der EBM auch nicht die Serie von haarsträubenden Stellungnahmen zur Pandemiepolitik ankreiden, die das „Netzwerk evidenzbasierte Medizin“ auf Betreiben seines inzwischen endlich zurückgetretenen damaligen Vorsitzenden Andreas Sönnichsen abgegeben hat. Darin hat sich kein grundsätzliches Problem der EBM gezeigt, sondern schlichtweg die Tatsache, dass auch wissenschaftliche Vereinigungen nicht davor gefeit sind, sich faktenresistente Querulanten in den Vorstand zu holen – und dann mitunter überraschend lange brauchen, um sie wieder loszuwerden. Letzteres dürfte in vielen Fällen damit zu tun haben, dass man dann wieder einen neuen Dummen (m/w/d) finden muss, der bereit ist, den in der Regel unbezahlten Vorstandsposten zu übernehmen.

Um auch das noch vorwegzuschicken: Ich weiß natürlich, dass ich mich als Nichtmediziner mit diesem Artikel auf relativ dünnes Eis begebe. Es ist immer problematisch, als fachfremde Person einen zumindest scheinbaren Konsens der Experten eines Themas hinsichtlich Methoden oder Inhalten ihres Fachgebiets zu kritisieren. Nachher kommt noch jemand auf die Idee, mich mit Clemens Arvay zu vergleichen, was ich wirklich gruselig fände. Ganz so gewagt, wie sie auf den ersten Blick scheint, ist meine Kritik allerdings nicht: Vom Grundsätzlichen her geht es nämlich nicht um originär medizinische Themen, sondern um allgemeine Fragen der Wissenschaftlichkeit und des Umgangs mit Wissenslücken, und in den konkreten Einzelfragen gibt es eine ganze Reihe von Medizinern, medizinischen Fachwissenschaftlern und sogar engagierte Verfechter der EBM, die dieselben Kritikpunkte vorbringen.

Was mich stört, ist, dass es unter Vertretern der EBM eine Tendenz gibt, Patientenstudien zum Maß aller Dinge zu machen und andere Informationen schlicht zu ignorieren. Beispiele dafür kommen gleich – einen Moment Geduld bitte noch. Rein menschlich ist das völlig verständlich. Gerade bei vielen Medizinern in der medizinischen Wissenschaft (in der zum Beispiel auch Physiker, Chemiker, Biologen und Mathematiker tätig sind) besteht ihre Forschungstätigkeit fast ausschließlich aus Patientenstudien. Ein großer Teil der wissenschaftlichen Diskussionen in der EBM beschäftigt sich mit den Fragen, wie eine gute Patientenstudie aussehen sollte und wie man aus einer Vielzahl in der Regel nicht übereinstimmender Patientenstudien die richtigen Schlüsse zieht. Wenn man sich den ganzen Tag damit beschäftigt, die perfekten Klebstoffe zu entwickeln, kann man leicht den Blick dafür verlieren, dass man manche Dinge doch besser einfach festschraubt.

Die perfekten Klebstoffe der EBM sind nach heutigem Stand randomisierte, doppelblinde, placebokontrollierte Studien (randomized controlled trial, RCT) sowie nach klar festgelegten Regeln durchgeführte Metaanalysen aus vielen einzelnen Patientenstudien. Beides sind in langjährigen wissenschaftlichen Diskussionsprozessen ausgefeilte, trickreiche Methoden, um bekannte Fehlerquellen beim Experimentieren mit Menschen zu minimieren.

Wer die Methodik solcher Studien und die dadurch berücksichtigten Fehlerquellen schon gut kennt und auf den Punkt kommen möchte, kann gerne bis zur folgenden Zwischenüberschrift („Wo ist also das Problem?“) vorspringen. Da diese Methoden der EBM aber tatsächlich ziemlich genial sind und immer noch viel zu oft ignoriert werden, möchte ich sie an dieser Stelle doch noch einmal kurz rekapitulieren. Zunächst einmal, welche Probleme kann man bei der Durchführung einer einzelnen Patientenstudie durch eine RCT vermeiden?

  • Gesundheitliche Parameter eines Menschen ändern sich im Zeitverlauf von ganz allein; vor allem viele Krankheiten bessern sich zumindest zeitweilig. Um die Wirkung einer bestimmten Maßnahme erkennen zu können, taugt ein vorher-nachher-Vergleich also nicht. Man muss eine behandelte mit einer unbehandelten Patientengruppe vergleichen (kontrollierte Studie).
  • Begleitumstände einer Maßnahme wie die Aufmerksamkeit und Zeit behandelnder Personen, der Weg zur Behandlung oder die Einnahme eines Mittels können nicht nur die wahrgenommene Gesundheit, sondern auch objektiv messbare Parameter beeinflussen. Die Begleitumstände sollten also zwischen behandelter Gruppe und Kontrollgruppe möglichst identisch sein (Placebokontrolle).
  • Das Wissen, ob man zur behandelten oder zur Kontrollgruppe gehört, beeinflusst nicht nur die Wahrnehmung, sondern auch das Verhalten und letztlich messbare Parameter wie Blutdruck oder Hormonspiegel. Die Probanden dürfen das also während der Studie nicht wissen (Verblindung).
  • Wenn Mitarbeiter der Studie, die Probanden behandeln oder die Ergebnisse erheben, wissen, wer zu welcher Gruppe gehört, können sie, auch unbewusst, unterschiedlich mit den Probanden umgehen oder die Ergebnisse verzerren. Wer mit den Probanden oder mit den Daten einzelner Probanden zu tun hat, sollte die Gruppenzuordnung also ebenfalls nicht kennen (Doppelverblindung).
  • Jede systematische Zuordnung der Probanden zur behandelten oder der Kontrollgruppe (Ort, Zeit, Krankenhausstation…) kann zu einem ungewollten Einfluss auf die Ergebnisse führen. Man muss diese Zuordnung also auslosen (Randomisierung).

Diese Maßnahmen definieren den Standard bei den erwähnten RCTs, die nach heutigem Stand die  verlässlichste Form sogenannter Interventionsstudien (also Studien, bei denen man den Effekt einer kontrollierbar einzusetzenden Maßnahme untersucht) sind. Wenn man den zu untersuchenden Einfluss zum Zeitpunkt der Studie nicht (mehr) kontrollieren kann, dann ist man auf Beobachtungsstudien angewiesen. Diese sind zwangsläufig fehleranfälliger als RCTs. Auch hier hat die EBM allerdings Handwerkszeug, um die unvermeidlichen Fehler wenigstens einigermaßen im Griff zu halten. So kann ein case matching, also eine 1:1-Zuordnung von Probanden mit gleichen Eigenschaften den Effekt der Randomisierung in Teilen ersetzen. Will man also zum Beispiel den Krankheitsverlauf bei trotz Impfung erkrankten Covid-Patienten mit dem bei Ungeimpften vergleichen, dann würde man jeweils Patienten gleichen Alters und Geschlechts gegenüberstellen. Da das matching zwangsläufig unvollständig ist (man kann in der Regel nicht auch noch sämtliche einzelnen Vorerkrankungen, Rauchverhalten, sozialen Status und Freizeitgestaltung gegenüberstellen), hat aber auch dieses Verfahren Grenzen.

Schließlich versucht die EBM in aller Regel, ihre Schlussfolgerungen nicht nur aus einer einzelnen Studie zu ziehen. Da unterschiedliche Studien zur selben Fragestellung sich in der Regel in ihrer Methodik und in ihren Ergebnissen unterscheiden, nutzt man systematische Reviews um ein Gesamtbild der relevanten Datenlage zu bekommen. Als verlässlichste Form eines solchen Gesamtbilds gelten Metaanalysen, in denen die Daten aus vielen Patientenstudien statistisch zusammengeführt werden. Hierzu gibt es Regeln, nach denen die Qualität unterschiedlicher Studien bewertet und unzureichende Studien ausgeschlossen werden. RCTs haben danach einen höheren Wert als kontrollierte Studien ohne Verblindung, Beobachtungsstudien oder Einzelfallbeschreibungen, große RCTs einen höheren Wert als solche mit nur wenigen Probanden. Bei Metaanalysen gibt es sogar statistische Methoden, die berücksichtigen und in Teilen kompensieren können, dass Studien mit negativem oder uneindeutigem Ergebnis häufig nicht publiziert werden. Gründe für diesen sogenannten publication bias können darin liegen, dass Forschende eine Bestätigung für ihre eigenen Überzeugungen erhoffen und Studien ohne solches Ergebnis eher selbst für fehlerhaft halten – sie erhalten aber auch als Forschungsleistung allgemein weniger Anerkennung und werden mitunter auch als Doktorarbeit oder ähnliche Qualifikationsleistung nicht angenommen. Effektiv verhindert wird ein solcher publication bias aber nur bei den Zulassungsstudien für neue Arzneimittel. Dafür muss eine Studienbeschreibung mit Umfang, Methoden und Zielgrößen vor Studienbeginn öffentlich einsehbar registriert werden, so dass es nicht möglich ist, eine ganze Studie oder einzelne Auswertungen darin unbemerkt verschwinden zu lassen.

Wo ist also das Problem?

Angesichts dieses umfangreichen Instrumentariums, um Fehler bei Patientenstudien zu eliminieren, wo ist dann das Problem damit, sich bei medizinischen Fragen ganz an Patientenstudien orientieren zu wollen? Schließlich geht es in der Medizin immer darum, was Patienten hilft.

Im Spätsommer des Jahres 2000, in den letzten Wochen vor der Stillegung des damals leistungsstärksten Beschleunigers am CERN, des Large Electron Positron Collider (LEP), wurde die Strahlenergie über die normale Leistungsgrenze der Beschleunigerelemente hinaus gesteigert. Das Ziel war, ohne Rücksicht auf mögliche Schäden an der bereits ausgereizten Anlage doch noch einen Blick zu wenigstens etwas höheren Energien zu erhaschen und dort möglicherweise neue Teilchen zu entdecken. Tatsächlich meldeten im September 2000 mehrere Detektoren an dem Beschleuniger ungewöhnliche Ereignisse, entsprechend der Entdeckung eines neuen Teilchens der Masse 113 GeV und mit Eigenschaften passend zum lange gesuchten Higgs-Teilchen. Insgesamt wurden mehr als dreimal so viele dieser Ereignisse entdeckt als aufgrund der Streubreite des Untergrundrauschens durch Zufälle zu erwarten gewesen wäre – ein sogenannter 3-Sigma-Effekt. Die Messungen hätten damit ohne ein neues Teilchen nur mit einer Wahrscheinlichkeit von weniger als 1:300 zufällig zustande kommen können.  Die Leitung des CERN verlängerte auf Bitten der Experimente den Betrieb des Beschleunigers noch um wenige Wochen. Als die Daten dann noch nicht genauer waren, wurde die Anlage stillgelegt, um Platz für den 2010 in Betrieb genommenen Large Hadron Collider (LHC) zu schaffen. Ein 3-Sigma-Effekt lockt in der Teilchenphysik niemanden hinter dem Ofen hervor. Damit man von der Entdeckung eines neuen Teilchens ausgeht, braucht man mindestens einen 5-Sigma-Effekt, wie er nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:3,5 Millionen zufällig zustande kommt. Und die Zweifler hatten Recht: Als am 4. Juli 2012 das CERN erklärte, am LHC sei endlich das Higgs-Boson gefunden worden, lag seine Masse bei 125 GeV und damit weit außerhalb der Reichweite des LEP. Das mysteriöse Teilchen bei 113 GeV, das in den letzten Wochen des LEP beobachtet worden war, existiert nicht.

Was hat diese kleine Geschichte aus der jüngeren Historie der Teilchenphysik mit Patientenstudien zu tun? In der Medizin, aber auch in der Psychologie gilt ein 2-Sigma-Effekt, der immerhin mit einer Häufigkeit von 1:20 einfach durch Zufall auftreten kann, als „statistisch signifikant“ und als akzeptierter Beleg für die Existenz eines Effekts, also zum Beispiel für die Wirksamkeit eines Arzneimittels. Heute wissen wir auch aus der Praxis sehr sicher, dass alle gegen Covid-19 zugelassenen Impfstoffe extrem wirksam sind, aber bei der Zulassungsstudie für den Impfstoff von AstraZeneca gab es eine Gewissheit, dass der Schutz durch den Impfstoff besser als 50% ist, auch nur auf dem Niveau eines 2-Sigma-Effekts. Dieses schnelle Akzeptieren eigentlich noch recht unsicherer Ergebnisse ist kein Zeichen schlechten wissenschaftlichen Arbeitens, sondern ergibt sich mit einer gewissen Zwangsläufigkeit aus dem Untersuchungsgegenstand. Echte, lebende Menschen sind so ungefähr der beschissenste Untersuchungsgegenstand, mit dem Wissenschaftler zu tun haben können. Sie sind nicht nur komplexe biologische Systeme; sie wissen auch, dass sie Teil einer Untersuchung sind und beeinflussen absichtlich und unabsichtlich das Ergebnis. Man kann auch nicht wie in der Teilchenphysik einfach die Zahl der Versuche erhöhen, um statistisch belastbarere Aussagen zu bekommen. Selbst wenn man im Prinzip genug Patienten hätte – wenn eine Therapie in einer Studie „statistisch signifikant“ gezeigt hat, dass sie für kranke Menschen erhebliche Vorteile bietet und vielleicht lebensrettend ist, wird kaum eine Ethikkommission erlauben, dass man einer Placebogruppe diese Therapie noch vorenthält, nur um noch einmal zu überprüfen, ob die Ergebnisse dieser ersten Studie auch wirklich stimmen. Natürlich gibt es auch bei Untersuchungen an Patienten immer wieder Ergebnisse, die auch statistisch sehr, sehr eindeutig sind. So war vom BioNTech/Pfizer-Impfstoff schon bei der Zulassung klar, dass seine Wirksamkeit gegen symptomatische Erkrankungen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit über 90% und mit absoluter Sicherheit über 80% liegt. Auch dass die Infektionssterblichkeit von Covid (der ursprünglichen Variante, aktuelle sind gefährlicher) bei der in Deutschland vorliegenden Altersstruktur der Bevölkerung nicht wie von Querdenkern gerne behauptet bei 0,3%, sondern bei fast 1% liegt, ist mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu Milliarden sicher. So eindeutige Ergebnisse sind aber in Patientenstudien nicht unbedingt die Regel. Das liegt zum Teil auch einfach daran, dass Forschung an menschlichen Probanden sehr teuer ist und es gerade bei selteneren Krankheiten nicht einfach ist, viele geeignete Patienten zu finden, die auch noch bereit sind, an einer Studie teilzunehmen.

Zu diesen statistischen Problemen, die sich wenigstens halbwegs solide beziffern lassen, kommt eine ganze Reihe von systematischen Verzerrungen, die sich aus der Arbeit mit Menschen ergeben. Die offensichtlichsten Probleme werden durch gute Randomisierung zu statistischer Streuung umgewandelt – das schützt aber nicht vor absichtlicher Manipulation durch Beteiligte der Studie. Bei Interessenkonflikten, die Anlass zu solchen Manipulationen bieten können, denken die meisten Menschen zuerst an finanzielle Faktoren, zum Beispiel wenn Studien von Pharmaunternehmen finanziert werden. Diese sind jedoch veröffentlichungspflichtig und leicht nachvollziehbar. In Gesundheitsfragen, gerade bei der Forschung an Patienten, gibt es jedoch noch ganz andere Interessenkonflikte. So kann Ärzten, die an einer Patientenstudie beteiligt sind, unter Umständen das Wohlergehen ihrer eigenen Patienten näher liegen als ein wissenschaftlich sauberes Ergebnis der Studie insgesamt. Auch Querdenkerprofessoren wie John Ioannidis oder Luc Montagnier dürften bei ihren haarsträubenden Pseudostudien zur Pandemie oder ihrer Desinformation über Impfungen zumindest in einigen Fällen der Überzeugung gewesen sein, das Beste für die Menschheit zu bezwecken, auch wenn ihnen eigentlich klar gewesen sein muss, dass ihre Aussagen wissenschaftlich lächerlich sind.

Ein besonderes Problem in Patientenstudien ist der richtige Umgang mit Probanden, die ihre Beteiligung an der Studie vorzeitig abbrechen. Da eine solche Entscheidung neben externen Faktoren auch von fehlender Wirkung oder auftretenden Nebenwirkungen beeinflusst sein kann, lässt sich dieses Problem nicht durch Randomisierung und Verblindung in den Griff bekommen. Die korrekte Berücksichtigung solcher Studienaussteiger hängt daher von der exakten Fragestellung ab und ist entsprechend umstritten. Weitere Probleme, darunter eins, das in der Pandemie auftauchte, eine unüberschaubare Zahl viel zu kleiner, unkoordinierter und dadurch auch in der Summe wenig aussagekräftiger Studien zu sich überlagernden Themen, wurden im Mai in einem Artikel in Nature thematisiert.

Die Methoden, die im Rahmen der EBM für Patientenstudien entwickelt wurden, sind also nicht etwa das Nonplusultra der Wissenschaftlichkeit, sondern eher eine Krücke, die es ermöglichen soll, unter ausnehmend schwierigen Bedingungen wenigstens halbwegs belastbare Ergebnisse zu liefern. Letztlich können Patientenstudien selbst bei sorgfältigster Durchführung nicht die Verlässlichkeit guter Labordaten erreichen. Sie bleiben aber unverzichtbar, weil in der Medizin bei rein laborbasierten Studien immer die Frage der Übertragbarkeit auf das Gesamtsystem Mensch bleibt. In der Zulassung neuer Arzneimittel ist das kein Widerspruch: Bei neuen Substanzen, die heute als Arzneimittel zugelassen werden, sind die zugrundeliegenden chemischen Reaktionen verstanden, die Wirkung in der einzelnen Zelle ist im Labor mit höchster Genauigkeit geprüft, und die Übertragbarkeit auf einen Gesamtorganismus ist Tierversuchen nachgewiesen worden, bevor überhaupt die erste Patientenstudie genehmigt werden kann. In den klinischen Studien der Phasen II und III, in denen die Wirksamkeit nachzuweisen ist, geht es also nur noch darum, zu zeigen, dass das, was im Reagenzglas, in der einzelnen Zelle und im Tiermodell funktioniert, im Menschen auch noch funktioniert. Das ist nicht selbstverständlich, und auch hier müssen immer wieder Wirkstoffkandidaten aufgegeben werden, aber der verbleibende Schritt ist relativ klein. Nur deshalb ist es vertretbar, ein Arzneimittel schon nach zwei „statistisch signifikanten“ Patientenstudien (die unter Umständen auch in eine große Studie zusammengefasst werden können) für wirksam zu erklären.

Ganz anders sieht es aus, wenn Sachaussagen mit wissenschaftlichem Anspruch ausschließlich mit Studien am Menschen begründet werden, wie das neben der Medizin auch in der Psychologie oft unvermeidbar ist. Man kann und muss das mitunter tun, nur darf man dabei eben nicht das wackelige Fundament einer solchen Methodik vergessen. Genau das liest man aber immer wieder auch bei Vertretern der EBM, womit ich jetzt endlich bei meinen Beispielen bin.

Die sogenannte Alternativmedizin

2013 forderte Christian Weymayr unter dem Begriff der Scientabilität und damals konkret mit Bezug auf die Homöopathie, Patientenstudien nur dann durchzuführen, wenn die zu prüfende Wirkung nicht im Widerspruch zu sicheren wissenschaftlichen Erkenntnissen steht. Eine ähnliche Stoßrichtung hatte die Forderung nach einer science based medicine anstelle der heutigen evidence based medicine, die 2014 von den amerikanischen Medizinern David Gorski und Steven Novella erhoben wurde. Kritik an diesen eigentlich selbstverständlichen Forderungen hagelte es nicht nur von Vertretern antiwissenschaftlicher Positionen wie Harald Walach, sondern auch von namhaften Vertretern der EBM wie Heiner Raspe und Jutta Hübner, bizarrerweise sogar aus der Skeptikerszene. Eine Zusammenfassung der Diskussion um die Scientabilität findet sich in der Homöopedia. Selbst gestandene Naturwissenschaftler sind immer wieder bereit, sich auf Patientenstudien als einzigen Beleg einer Wirkung einzulassen. So betonte der von mir sehr geschätzte 2020 verstorbene Physikprofessor Martin Lambeck immer wieder, wie viele Nobelpreise nicht nur für Medizin, sondern auch für Physik und Chemie fällig wären, wenn diverse alternativmedizinische Verfahren wirksam sein sollten. In seinem Buch „Irrt die Physik?“ schlug er, um diese zu testen, jedoch ausgerechnet Patientenstudien vor. Ich bezweifle allerdings, dass Martin Lambeck es tatsächlich für sinnvoll gehalten hätte, einen Nobelpreis für Physik auf der Basis von Patientenstudien zu vergeben.

Selbstverständlich macht es für die Aussagekraft einer Patientenstudie einen erheblichen Unterschied, ob sie nur die Anwendbarkeit gesicherter Laborergebnisse im Menschen bestätigt (wie bei der Arzneimittelzulassung), ob sie Thesen prüft, die naturwissenschaftlich unbelegt, aber im Prinzip möglich sind (das gilt für viele Naturheilverfahren), ob das zu prüfende Verfahren an sich wirken könnte, aber auf einer komplett unsinnigen Theorie fußt (wie Ayurveda oder die „traditionelle chinesische Medizin“ samt der Akupunktur) oder ob schon die Wirkung selbst durch Naturgesetze ausgeschlossen ist, wie bei homöopathischen Hochpotenzen oder der Geistheilung. Keine Ansammlung noch so vieler Patientenstudien kann Naturgesetze widerlegen. Natürlich können wir auch Naturgesetze falsch verstanden haben. Natürlich können Physik und Chemie falsch oder grob unvollständig sein. Dafür müsste aber sehr, sehr, sehr vieles in der Natur ganz zufällig gerade so herauskommen, als wären unsere Naturgesetze eben doch fast immer richtig. Um das zu überprüfen, wären Studien am Menschen aber ein vollkommen untaugliches Mittel.

Eine Wirksamkeit der Homöopathie und damit die Ungültigkeit von Naturgesetzen aus Patientenstudien belegen zu wollen, ist ungefähr so sinnvoll, als wolle man die Bahn des Mondes aus Messungen der Gezeiten am Meer berechnen: Man kann das irgendwie machen, aber es ist so ziemlich das untauglichste Mittel, das man sich vorstellen kann, wenn das Ergebnis wesentlich verlässlicheren Methoden widerspricht. Das absurd klingende Beispiel ist übrigens nicht ganz willkürlich gewählt: 1692 berechnete Edmond Halley basierend auf Gezeitenmessungen an der englischen Küste, Newtons Mechanik und seinen eigenen Messungen von Mondbahn und Monddurchmesser die Dichte der Erde im Verhältnis zu der des Mondes und kam zum Ergebnis, dass die Erde innen hohl sein müsse.

Die HPV-Impfung

2008 forderte eine Gruppe angesehener Medizinprofessoren eine Rücknahme der Empfehlung der Ständigen Impfkommission (STIKO), Mädchen gegen menschliche Papillomaviren (HPV) zu impfen, „und ein Ende der irreführenden Information“. Zu den Unterzeichnern des Aufrufs gehörten mit Norbert Schmacke und dem heutigen Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) Jürgen Windeler auch prägende Vertreter der EBM in Deutschland. HPV verursachen Genitalwarzen und ähnliche Zellveränderungen auf Schleimhäuten und sind in der Folge für einen großen Teil der oft tödlich verlaufenden Erkrankungen mit Gebärmutterhalskrebs verantwortlich. Zwei Impfstoffe (Gardasil und Cervarix) verhindern eine Infektion mit den HPV-Untertypen, die am häufigsten für Gebärmutterhalskrebs verantwortlich sind (und wie man inzwischen weiß auch recht gut mit anderen Untertypen). Die Argumentation des Aufrufs basierte darauf, dass zu diesem Zeitpunkt die Wirksamkeit der Impfung nur gegen Krebsvorstufen nachgewiesen war. Ein direkter statistischer Nachweis, dass geimpfte Frauen weniger Tumore bekommen, war noch nicht erbracht. Das lag aber nicht an den Impfstoffen, sondern einfach an der Natur der Sache: Geimpft wurden damals weibliche Jugendliche von 12 bis 17 Jahren (sinnvollerweise vor dem ersten Geschlechtsverkehr, weil die Viren sexuell übertragen werden), und das mittlere Erkrankungsalter für Gebärmutterhalskrebs liegt bei 52 Jahren. Für den direkten Nachweis hätte man also einfach nur sehr lange warten müssen, während mehr junge Frauen ungeimpft geblieben, mit HPV infiziert worden und später an Krebs gestorben wären. Was die Zulassungsbehörden in allen entwickelten Ländern und eben auch die STIKO stattdessen getan haben, war, die Informationen aus Patientenstudien zur Wirkung der Impfstoffe mit anderen Patientenstudien und Laborforschung über die Entwicklung der Krebszellen zusammenzufassen und entsprechende Schlüsse zu ziehen.

Ich bin kein Mediziner. Ich war damals tatsächlich neugierig und hätte gerne von jemandem vom Fach eine Erklärung gehabt, wie denn nach Meinung der Unterzeichner des Aufrufs die Tumore plötzlich trotzdem entstehen sollten, wenn die Viren, von denen sie ausgelöst werden, und die Krebsvorstufen, aus denen sie entstehen, nicht mehr da sind. Auf diese Frage konnte mir Professor Windeler in einem E-Mail-Wechsel keine nachvollziehbare Antwort geben. Stattdessen kam von ihm ein Beharren darauf, dass nach den Regeln der EBM ein direkter Wirksamkeitsnachweis in Patientenstudien erforderlich sei, um die Impfung empfehlen zu können.

Ich weiß, hinterher ist man immer klüger. Ich weiß, es hätte irgendeine (zwangsläufig extrem seltene, weil weder in den Zulassungsstudien noch in den ersten zwei Jahren der Anwendung entdeckte) schwere Nebenwirkung der Impfungen geben können. Ich weiß, die Tumore hätten durch irgendeinen verrückten Mechanismus auch ohne die Viren und die Krebsvorstufen entstehen können. Ich weiß nur bis heute nicht, wie man das damals für wahrscheinlich oder für entscheidungsrelevant halten konnte. Inzwischen, da wir klüger sind, wird die Impfung nicht nur für Mädchen schon im Alter von 9 bis 14 Jahren empfohlen, sondern auch für Jungen – weil die Impfstoffe so gut vertragen werden, weil dadurch auch ungeimpfte Frauen geschützt werden können, weil auch Peniskrebs und sogar der häufige Prostatakrebs mit HPV in Verbindung gebracht werden und weil eben auch Genitalwarzen bei Männern nicht toll sind.

Die Forderung nach dem „Ende der irreführenden Information“ schlug damals hohe Wellen durch die deutschen Publikumsmedien. Sie verunsicherte Eltern, die eine Impfentscheidung für ihre Töchter und später auch für ihre Söhne hätten treffen müssen. Sie verunsicherte aber auch die Politik, die sich nie zu systematischen Impfkampagnen in den Schulen, wie ich sie aus meiner Kindheit gegen Polio kenne, aufraffen konnte. 2018 lag die Impfquote gegen HPV unter 15jährigen Mädchen in Deutschland bei erbärmlichen 31%. An unverbesserlichen Impfgegnern lag das nicht: Die agitieren viel stärker gegen die Masernimpfung, und dort hatten wir bei der Einschulung schon vor der Einführung der Impfpflicht 2020 Impfquoten um 95% mit zwei Impfungen und über 98% Erstimpfungen.

Inzwischen kommen immer mehr Daten aus der realen Anwendung, die zeigen, wie wichtig es gewesen wäre, schon vor 12 Jahren weitaus konsequenter gegen HPV zu impfen, aus Australien, aus Finnland (wo inzwischen auch eine direkte Wirkung der Impfung gegen Tumore nachgewiesen ist), aus Schweden…  Und während es in den USA, Großbritannien, Kanada, Australien und Skandinavien längst völlig normal ist, dass Jugendliche unabhängig vom Geschlecht gegen HPV geimpft werden, werden in Deutschland in 20 oder 30 Jahren Frauen mittleren Alters an Tumoren sterben, die sie nicht haben müssten.

AstraZeneca für Senioren

Die Absurditäten, die unter Berufung auf die EBM verbreitet wurden, haben in der Pandemie einen neuen Höhepunkt erreicht; wieder geht es um Impfstoffe, nur anders als 2008 ist es dieses Mal die STIKO selbst mit ihrem jetzigen Vorsitzenden Thomas Mertens, die einseitig den Patientenstudien verfallen ist.

Der Covid-Impfstoff von AstraZeneca (Vaxzevria/ChAdOx1/AZD1222) wurde am 29.1.2021 in der EU zugelassen. Schon einen Tag vorher hatte die STIKO die Empfehlung abgegeben, den neuen Impfstoff nur für die Altersgruppe unter 65 und damit nicht für die am meisten gefährdete Risikogruppe über 80 einzusetzen. Der Grund für die kuriose Empfehlung waren nicht etwa konkrete Bedenken. Die Begründung war schlichtweg die hier schon bekannte: Zur Wirksamkeit in dieser Altersgruppe gäbe es in den Zulassungsstudien keine hinreichenden Daten für einen direkten Nachweis. Der STIKO waren schlicht zu wenige Senioren in den Studien. Etwas zugespitzt hätte man mit derselben Begründung empfehlen können, den Impfstoff nicht für Rothaarige, für Linkshänder oder für Beamte zu verwenden.

Es ist natürlich bekannt, dass ein Immunsystem im hohen Alter nicht mehr so gut lernt, sich an neue Bedrohungen anzupassen, was auch den Effekt von Impfungen reduziert. Man wusste aber aus Laboruntersuchungen in den frühen klinischen Studienphasen, dass durch alle drei zu diesem Zeitpunkt zugelassenen Impfstoffe eine robuste Immunreaktion auch bei alten Probanden erzeugt wurde, und von den beiden anderen Impfstoffen wusste man auch aus dem direkten Nachweis an Probanden, dass diese Immunreaktion auch alte Menschen vor einer Erkrankung schützt. Es gab keinen vernünftigen Grund für die Annahme, dass die Altersabhängigkeit der Wirkung bei dem AZ-Impfstoff anders sein sollte. Die Empfehlung basierte ausdrücklich nur auf dem Fehlen eines direkten Nachweises durch zu wenige alte Probanden in den Studien.

Die STIKO-Empfehlung trug auch dazu bei, dass das durch Verzögerungen und die (nach der Papierform) etwas geringere Wirksamkeit bereits beschädigte Image des AZ-Impfstoffs weiter geschwächt wurde. Einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren für eine Impfkampagne, das Vertrauen der Bevölkerung in die Sicherheit und Wirksamkeit der eingesetzten Impfstoffe, wurde leichtfertig aufs Spiel gesetzt. Die fragwürdige Stellungnahme von Deutschlands wichtigstem Expertengremium zu diesem Thema befeuerte auch die haltlosen Gerüchte, der AZ-Impfstoff sei bei älteren nur zu 8% wirksam (tatsächlich stammte die absurde Zahl daher, dass in den Zulassungsstudien nur 8% der Probanden über 65 war).

Ich weiß, hinterher ist man immer klüger. Niemand konnte zu diesem Zeitpunkt wissen, dass der psychologische Schaden noch viel größer werden würde. Niemand konnte wissen, dass gerade der AZ-Impfstoff möglicherweise in sehr seltenen Fällen zu ernsten Nebenwirkungen in Form von Sinusvenenthrombosen führen könnte, die, wie es aktuell aussieht, vor allem junge Menschen betreffen könnten – ausgerechnet die jungen Menschen, die gerade in Deutschland ganz überwiegend mit AZ geimpft wurden, weil die STIKO sich gegen eine Anwendung bei alten Menschen ausgesprochen hatte. Das konnte niemand wissen.

Was man aber wissen konnte: Zu diesem Zeitpunkt hatten in Deutschland weniger als zwei Millionen Menschen eine Erstimpfung gegen Covid erhalten, erst rund 500.000 waren voll geimpft. Der weit überwiegende Teil der über 80jährigen hatte noch nicht einmal einen Impftermin. In Hessen waren viele Impfzentren noch gar nicht eröffnet. Die Intensivstationen waren noch voll von der zweiten Welle; in Großbritannien wütete die Alpha-Variante, und jeder (außer vielleicht den Ministerpräsidenten der Bundesländer) konnte wissen, dass uns durch Alpha eine üble dritte Welle bevorstand. Die Nutzung der AZ-Impfung für Jüngere mag dazu geführt haben, dass die eine oder andere Pflegekraft früher geschützt war – für die (nach der eigenen Analyse der STIKO) am dringendsten zu schützenden Personen hat die STIKO die Aussicht auf einen Impftermin aber weiter nach hinten geschoben. So sind unnötig viele alte Menschen ungeschützt in die dritte Welle geraten, und auch wenn sich das nach den strengen Regeln der EBM nicht wird beziffern lassen – es müssen unnötig viele dadurch gestorben sein.

Covid-Impfung für Jugendliche

Am 31.5. genehmigte die Europäische Kommission auf Empfehlung der europäischen Arzneimittelagentur (EMA) den Einsatz des ersten Covid-Impfstoffs (Comirnaty von BioNTech/Pfizer) für Jugendliche ab 12 Jahren. Zu diesem Zeitpunkt war der Impfstoff in den USA bereits seit drei Wochen bei Jugendlichen im Einsatz, mit dem erklärten Ziel, die entsprechende Altersgruppe bis zum Ende der Sommerferien möglichst flächendeckend geimpft zu haben. Schon in den ersten Medienberichten über die Zulassung tauchten jedoch Gerüchte auf, in Deutschland werde die STIKO den tatsächlichen Einsatz der Impfung für Jugendliche nicht empfehlen.

Einen Tag später erschien die bislang wohl skurrilste Folge des NDR-Podcasts Coronavirus Update. Die Frankfurter Virologin Sandra Ciesek und die aus diversen Folgen mit Ciesek und Christian Drosten erfahrene NDR-Journalistin korinna Hennig versuchten mit mäßigem Erfolg, ihre Fassungslosigkeit zu überspielen, als der als Gast zugeschaltete STIKO-Vorsitzende Thomas Mertens die zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal offiziell beschlossene Entscheidung seines Gremiums verteidigte. Auch wenn das sicherlich nicht Mertens‘ Absicht war – seine Argumentation wäre auf der Bühne einer Querdenker-Demo nicht sonderlich aufgefallen.

5.7.21: Angesichts Mertens‘ aktueller Äußerungen zum Testen von Schülern würde ich meine Einschätzung „Auch wenn das sicherlich nicht Mertens‘ Absicht war“ in Frage stellen. Das lässt auch Mertens‘ bizarre Äußerungen im NDR-Podcast, dass er die noch völlig ungetesteten Lebendimpfungen gegen Covid für sicherer hält als die inzwischen hunderte-millionenfach erfolgreich eingesetzten modernen Impfstoffe, in einem anderen Licht erscheinen. Letztlich muss man wohl einfach konstatieren, dass wir in der STIKO ein Personalproblem haben

4.7.21: Inzwischen beruft sich, wenig überraschend, die AfD genüsslich auf diese Glanzleistung der STIKO:

So erklärte Mertens, sachlich nicht falsch, die in den Studien geimpften 1100 Jugendlichen seien zu wenig, um seltene Nebenwirkungen ausschließen zu können, blieb aber jede Antwort dazu schuldig, wie man einen solchen Nachweis denn erbringen könne, wenn nicht dadurch, dass man eben mehr Jugendliche impft. In der Praxis wird das dazu führen, dass dann eben amerikanische, israelische und britische Jugendliche das Versuchskaninchen für Mertens‘ Sicherheitsanforderungen sein werden, weil in diesen Ländern die wissenschaftlichen Berater realistischer sind. Weitaus schlimmer war aber Mertens‘ folgende Aussage: „So […] wissen wir natürlich, dass bestimmte Spätfolgen einer Impfung schon auch nach Monaten sehr selten natürlich, aber möglich sind.“ Praktisch alle Fachwissenschaftler und seriösen Wissenschaftskommunikatoren, die sich öffentlich zu Covid äußern, reden sich seit einem halben Jahr den Mund fusselig, dass es solche „Spätfolgen“ bei Impfungen noch nie gegeben hat und dass auch kein halbwegs plausibler Mechanismus vorstellbar ist, wie ein im Körper längst abgebauter Impfstoff solche Folgen haben könnte. Dass ausgerechnet der Vorsitzende der STIKO diesen Gerüchte-Zombie wieder aus der Impfgegner-Gruft wanken lässt, ist, gelinde gesagt, enttäuschend.

Während sich Mertens zu vollkommen hypothetischen (und zumindest zum Teil vollkommen unrealistischen) Nebenwirkungen also – sachlich nicht falsch – auf die unzureichende Datenlage beruft, stuft er die aus den USA  berichteten, sehr seltenen Fälle von Myocarditis in zeitlicher Nähe zu einer Impfung als entscheidungsrelevant ein, obwohl ihm selbst klar ist, dass die Datenlage ebenfalls unzureichend ist, um zu beweisen, dass es da überhaupt einen kausalen Zusammenhang gibt. Erst mit den nach dem Podcast zusätzlich eingetroffenen Daten sprechen die amerikanischen Centers for Disease Control (CDC) inzwischen von einem „wahrscheinlichen Zusammenhang“, verweisen aber gleichzeitig auf die sehr kleine Zahl überwiegend harmloser Fälle. Am 11. Juni waren von 1226 Fällen von Myocarditis, die bei 300 Millionen Impfungen aufgetreten waren, fast alle schon wieder gesund. Nur neun waren noch im Krankenhaus, zwei auf Intensivstationen. Kurz gesagt präsentiert Mertens, unter Berufung auf die EBM, jede Wissenslücke und jede Unsicherheit als Argument fürs Nichtstun und vergrößert diese Wissenslücken noch, indem er, wie wir es hier jetzt schon mehrfach hatten, jede Überlegung beiseite wischt, die sich nicht unmittelbar aus Patientenstudien ergibt. Und, nochmal, ich kritisiere hier nicht als medizinischer Laie einen Konsens von Fachwissenschaftlern. Vielmehr ist es, wie zuvor bei der Altersempfehlung für den AZ-Impfstoff, die STIKO, die gegenüber internationalen Fachkreisen eine Außenseitermeinung vertritt. Die Experten der CDC kommen auch aufgrund der heutigen Datenlage zur exakt gegensätzlichen Einschätzung wie die STIKO. 5.7.21: Ebenso eindeutig ist die Einschätzung des Nationalen Impfgremiums, des Gegenstücks der STIKO in Österreich:

Auch in Frankreich werden nach einem entsprechenden Votum des wissenschaftlichen Beratergremiums seit dem 15.6. alle Jugendlichen ab 12 geimpft. In Israel läuft die Impfkampagne für Jugendliche ab 12 seit dem 6.6., in den Niederlanden seit dem 2.7.. Neben Deutschland zögert in Europa ausgerechnet UK, wo die Inzidenz von 257 (am 5.7.) nicht unbedingt eine Empfehlung für die dortige Seuchenpolitik abgibt.

So wie Mertens die Risiken der Impfung durchgängig zur Obergrenze des gerade noch Denkbaren abschätzt, erklärt er sämtliche Risiken der Krankheit, die nicht durch Patientenstudien an Jugendlichen eindeutig statistisch belegt sind, für nicht existent. Während ein aktueller britischer Artikel in The Lancet zur multisystemischen Entzündungserkrankung bei Kindern und Jugendlichen (PIMS) auf 26 Todesopfer in den USA sowie die noch ungeklärten Spätfolgen verweist und betont, wie wichtig es ist, die Infektionszahlen in diesen Altersgruppen niedrig zu halten, weiß Mertens: „Das Risiko für PIMS ist gering. Die Prognose ist gut.“ Seine Begründung ist einmal mehr, wie jetzt schon des Öfteren bei EBM-Vertretern aufgezeigt, der klassische Denkfehler des Argumentum ad Ignorantiam: Das Gegenteil lässt sich (noch) nicht beweisen. Dem gleichen Muster folgt er zu Long Covid, also den, für Erwachsene klar belegt, teilweise sehr hartnäckigen Spätfolgen einer Covid-Infektion: Die Datenlage bei Jugendlichen ist unzureichend, und damit ist das Thema abgehakt. Er schiebt dann noch das Scheinargument nach, dass ja nur wenige Kinder wegen Covid intensivmedizinisch behandelt werden müssten, obwohl er mit Sicherheit weiß, dass Long Covid bei Erwachsenen auch bei milden und sogar asymptomatischen Verläufen belegt ist. Dass die Datenlage bei Jugendlichen schlecht ist, überrascht nicht, wenn man bedenkt, dass typische, bei Erwachsenen gut verfolgbare, Long-Covid-Symptome wie Erschöpfung, Kopf- und Gliederschmerzen, Schlaf- und Konzentrationsstörungen bei Jugendlichen gerne auf Wachstum oder Pubertät geschoben werden. Man kann sich leicht vorstellen, dass dieselben Symptome, wenn sie zu alterstypischen Problem noch zusätzlich auftreten, auch für die weitere Entwicklung von Jugendlichen problematisch sein können. Wenn man über „die Datenlage ist unzureichend“ hinausschaut und versucht, das Beste aus den vorhandenen Daten herauszuholen, stellt man fest, dass das britische Statistikamt bei fast 10% der infizierten (nicht etwa nur der ernsthaft erkrankten) Kinder und Jugendlichen Langzeitfolgen meldet. Ob es, wie eine italienische Studie ausweist, sogar über 40% sind, kann man natürlich kritisch hinterfragen, aber eine unzureichende Datenlage heißt eben nicht 0%.

20.8.21: Inzwischen hat die STIKO viel zu spät ihre katastrophale Fehlentscheidung korrigiert und begründet das mit „neuen Erkenntnissen“. Wie neu die tatsächlich sind und was die Begründung der STIKO über Mertens‘ Medienauftritte in den letzten Monaten aussagt, habe ich mir in einem Kommentar unten in der Diskussion angesehen.

Ganz abgesehen von problematischen Auslegungen der EBM ist Mertens‘ Haltung, dass man Kinder und Jugendliche nur impfen dürfe, wenn für sie selbst der unmittelbare medizinische Nutzen eventuelle, hypothetische Risiken überwiegt, auch grundsätzlich problematisch. Bei sehr vielen (nicht allen) Impfungen liegt ein erheblicher Teil des Nutzens darin, durch Herdenschutz auch (noch) nicht impfbare oder trotz Impfung nicht geschützte Personen vor einer Infektion abzuschirmen. Warum dieser gesamtgesellschaftliche Nutzen nur innerhalb der eigenen Altersgruppe berücksichtigt werden soll, erschließt sich mir nicht, zumal natürlich auch mild erkrankte Kinder mitbetroffen sind, wenn ihre Eltern auf der Intensivstation oder ihre Großeltern auf dem Friedhof landen. Das ist auch eine ganz normale gesellschaftliche Praxis: Während der gesamten Pandemie wurde auch das Leben von Kindern eingeschränkt, um primär hochgradig gefährdete Ältere vor Covid zu schützen. Warum sollte dieses gesamtgesellschaftliche Handeln ausgerechnet bei einer Impfung enden, die letztlich alle schützt? Die nichtpharmazeutischen Maßnahmen, auch und gerade in Schulen, werden auch nicht mit den Sommerferien enden. Der Nachwuchs hat also durchaus auch ein über das rein Medizinische hinausgehendes Interesse an der Impfung: Indem wir Jugendliche und möglichst bald auch Kinder impfen, ersparen wir es ihnen, zweimal wöchentlich Unterrichtszeit für Antigentests zu verlieren und (wie die aktuellen Entwicklungen in schon stärker von der Delta-Variante betroffenen Ländern erwarten lassen) wahrscheinlich mehrfach pro Halbjahr wegen erkrankter Mitschüler unter Quarantäne gestellt zu werden.

Im Podcast hat Sandra Ciesek noch versucht, die Situation zu retten, indem sie betont hat, dass die Impfung von Kindern eine private Entscheidung ist und Eltern ihre Kinder natürlich auch ohne entsprechende Empfehlung der STIKO impfen lassen können. Zudem hat sich auch Mertens im Podcast die Hintertür offen gehalten, dass die STIKO ihre Empfehlungen anpassen kann, wird und das auch schon getan hat, wenn sich wissenschaftliche Erkenntnisse (oder vielmehr das, was er als wissenschaftliche Erkenntnisse akzeptiert) ändern. Insofern ist vorauszusehen, was passieren wird: Mit immer mehr Daten aus der Anwendungsbeobachtung in den USA, Israel und Großbritannien wird die STIKO wahrscheinlich eher früher als später umschwenken und doch eine Covid-Impfung für Jugendliche ohne Vorerkrankung und nach der entsprechenden Zulassung wahrscheinlich wieder mit einer unnötig langen Verzögerung auch für Kinder im Grundschulalter empfehlen. Der (einmal mehr) von der STIKO verursachte Vertrauensschaden wird sich aber auch hier nicht wiedergutmachen lassen. Verunsicherte Eltern sind das Schlimmste, was einer Impfkampagne passieren kann.

Tatsächlich hatte die STIKO zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht einmal die geringste Notwendigkeit, diesen Flurschaden anzurichten. Sie hätte sich, wie es eigentlich ihre Aufgabe ist, überhaupt nicht öffentlich äußern müssen. Sie hätte die Frage der Impfung von Jugendlichen auch zurückstellen und sich problemlos noch mindestens sechs bis acht Wochen Zeit erkaufen können, wenn sie einfach nur gefordert hätte, den Impfstoff vor den gesunden Jugendlichen für alle impfbereiten Erwachsenen zu reservieren. Das wäre so oder so ohne jeden Zweifel die richtige Priorisierung gewesen. Damit hätte man noch bis irgendwann im August Zeit gehabt, eine Empfehlung abzugeben und hätte in vielen Bundesländern trotzdem noch vor Ende der Sommerferien mit einer Impfkampagne für Jugendliche starten können. Wahrscheinlich werden wir das so oder so tun, wenn die STIKO ihre Entscheidung ändert, was durchaus auch schon im August passieren kann – nur eben jetzt mit (zu Recht) völlig verunsicherten Eltern.

5.7.21: In dem Punkt muss ich meine Aussage revidieren. Anscheinend sind wir schon im Juli an dem Punkt, dass mRNA-Impfstoff nicht mehr knapp ist, weil die Impfbereitschaft sich insgesamt langsam ausschöpft. In dem Punkt freut mich die überraschend schnelle Bereitschaft der STIKO, für die AZ-Erstgeimpften eine Zweitimpfung mit einem mRNA-Impfstoff zu empfehlen. Interessanterweise ist auch hier der Wirksamkeitsvorteil nur in Labordaten zu erkennen, und direkte Informationen über die Sicherheit einer solchen heterologen Impfung sind kaum deutlicher als vor ein paar Wochen, als die STIKO das noch mit eben dieser Begründung abgelehnt hat. Das Argument der fehlenden Datenlage scheint bei der STIKO also recht selektiv zu greifen…
Ich persönlich hätte allerdings ohne mich zu beschweren die paar Wochen bis zum geplanten Zweittermin mit AZ (oder eben gegebenenfalls bis zur hinreichenden Verfügbarkeit von mRNA-Impfstoff) gewartet, wenn das notwendig gewesen wäre, um die Jugendlichen zu impfen. Da ganz offiziell genug da sein soll, habe ich die Gelegenheit aber auch genutzt und werde in Kürze heterolog geimpft sein. Da ist der lange Abstand nicht unbedingt erforderlich, weil man keine Gefahr einer Vektorimmunität hat.  

Gesamtgesellschaftlich ist das aber ohnehin erst der zweite Schritt. Das nächste, was die Wissenschaftskommunikation in Deutschland zu leisten hat, ist vollkommen unabhängig von der Frage, wann und mit welcher Durchschlagskraft wir die Impfkampagne bei Jugendlichen starten, weil sie dafür ohnehin zu spät greift: Wir müssen den Schulpolitikern (schnellstmöglich) den Zahn ziehen, dass man nach den Sommerferien an den Schulen einfach zum Regelbetrieb zurückkehren kann, damit wir nicht wieder völlig unvorbereitet in ein Schuljahr voller Einschränkungen, Tests und Quarantänen rutschen.

9.12.21: Ich muss meine beim Entstehen des Artikels noch eher differenzierte Sicht zu Thomas Mertens revidieren. Man erfährt doch immer wieder neues. Wer sich vor den Karren eines anthroposophischen Impfgegnervereins spannen lässt und auf einem Kongress mit Leuten wie Angelika Müller, Martin Hirte und Harald Walach auftritt, wie Mertens und sein Kollege Martin Terhardt, war als STIKO-Mitglied schon lange vor der Pandemie nicht mehr tragbar. Mit dem Wissen muss ich ganz nüchtern feststellen, dass das BMG bei der Ernennung mindestens dieser beiden wirklich den Bock zum Gärtner gemacht hat. 

Der Screenshot stammt aus diesem (an seiner ursprünglichen Stelle nach dem Tweet von Jan Hartmann ganz plötzlich gelöschten) Dokument. Eine Übersicht von Rednern auf dem Impfgegnerkongress mit Verweis auf eine DVD mit Aufzeichnungen findet sich hier.

Kurzes Impfstoff-Update: Keine gute Nachricht aus Tübingen

Die aktuelle Wasserstandsmeldung zur Phase-III-Studie für den mRNA-Impfstoff von CureVac ist auf jeden Fall keine gute Nachricht. Es gibt noch immer kein vollständiges Ergebnis, aber eine geschätzte Wirksamkeit von 47% ist ganz sicher nicht konkurrenzfähig mit den Impfstoffen, die wir heute in Deutschland einsetzen. Das Unternehmen verweist mit einer gewissen Berechtigung darauf, dass die Studie (die zum Teil in Lateinamerika durchgeführt wurde) mit anderen, aggressiveren Virusvarianten zu tun hatte als die Zulassungsstudien früherer Impfstoffe. Ich habe auch immer betont, dass Zahlen zur Wirksamkeit aus unterschiedlichen Studien kaum vergleichbar sind und zwischen BioNTech, Moderna, Janssen und AstraZeneca (AZ) in den Medien gerne Äpfel und Birnen gegenübergestellt werden. Gleichzeitig gilt aber, dass jeder ganz neue Impfstoff gegenüber denen, die schon zigmillionenfach eingesetzt wurden, immer ein zusätzliches Risiko unentdeckter seltener Nebenwirkungen hat. Wer mit einem Arzneimittel für denselben Bedarf später kommt, muss in der Regel in irgendeiner Hinsicht einen deutlichen Zusatznutzen mitbringen, um noch eine Zulassung zu bekommen, und da sind solche Zwischenergebnisse vor allem gegenüber den amerikanischen und europäischen Behörden sicher nicht hilfreich. 
Schlecht ist das vor allem im globalen Maßstab, weil viele Länder außerhalb Europas und Nordamerikas immer noch einen riesigen Bedarf an Impfstoff haben. Bei aller Schwierigkeit, Daten aus unterschiedlichen Studien zu vergleichen: Eine Wirksamkeit von 47% gegen Erkrankungen durch das aktuelle Variantenumfeld in Europa und Lateinamerika ist ähnlich gut, möglicherweise sogar besser als das, was die in vielen Ländern eingesetzten chinesischen Totimpfstoffe bieten. Die lagen schon gegen den ursprünglichen Wildtyp nur in dieser Größenordnung der Wirksamkeit. Ich denke aber nicht, dass CureVac sich ernsthaft mit dem Ruf eines drittklassigen Impfstoffs um eine Zulassung in diesen Ländern bemühen würde, wenn sich die Daten so erhärten und eine Zulassung bei EMA und FDA aussichtslos bleiben dürfte.
Gleichzeitig ist dieser Zwischenstand auch nicht so katastrophal, dass CureVac-Partner wie Bayer jetzt sehr kurzfristig aufgeben und ihre vorgehaltenen Produktionskapazitäten an Pfizer vermieten würden. Das wird uns also global einfach deutlich Zeit kosten.
Für Deutschland sehe ich den Effekt nicht so wahnsinnig dramatisch. Es war schon seit ein paar Wochen absehbar, dass CureVac durch den Rückgang bei den Fallzahlen gerade in Europa nicht genug Erkrankungen in der Studie haben würde, um noch im Juni eine Wirksamkeit belegen und im Juli zu unserer Versorgung beitragen zu können. Damit man zeigen kann, dass Geimpfte weniger erkranken als Placeboteilnehmer, braucht man ja Infektionen – ein Problem, das schon AstraZeneca letzten Sommer in Großbritannien hatte. 
Um mit dem ersten Durchimpfen der impfbereiten Erwachsenen bis September fertig zu sein, brauchen wir die ursprünglich eingeplanten Dosen von CureVac aber auch nicht. Dafür war es eben gut, dass Deutschland und die EU von vornherein auf diverse Hersteller verteilt viel mehr bestellt haben als nötig. Die aktuelle Impfkampagne läuft mit vier Impfstoffen parallel auf Hochtouren, und sie dürfte in der zweiten Junihälfte nochmal an Fahrt aufnehmen.
Eine kleine Delle bei den Lieferungen erwartet uns nochmal im Juli. Bislang wird die Kampagne mit mehr als 70% der insgesamt gelieferten Dosen ganz massiv durch den mRNA-Impfstoff von BioNTech/Pfizer getragen, auch durch die zusätzlichen Kontingente, die Deutschland als Gegenleistung für die Anschubfinanzierung der Bundesregierung bei BioNTech erhält. Diese Sonderkontingente laufen aber aus – nach 50 Millionen Dosen allein im zweiten Quartal sind von BioNTech/Pfizer nur noch 57 Millionen für den gesamten Rest des Jahres in der Planung. Bis September sollten das die anderen Hersteller aber ausgeglichen haben. Vor allem Moderna hat mit seinem mRNA-Impfstoff zunächst seinen eigenen Geldgeber USA priorisiert. Deutschland hat bislang erst 6 Millionen Dosen von Moderna erhalten, aber bis zum Jahresende sollen noch weitere 72 Millionen Dosen kommen, also deutlich mehr als von BioNTech. Bei diesem relativ teuren Impfstoff dürfte auch der Andrang von Drittländern, die deutschen Kontingente zu übernehmen, überschaubar sein. Bei Janssen mit seiner amerikanischen Muttergesellschaft Johnson & Johnson ergibt sich ein sehr ähnliches Bild. Die Zahlen sind insgesamt nur etwa halb so groß, aber dieser Impfstoff wird ja aktuell als Einzeldosis eingesetzt (wobei ich vermuten würde, dass das die ersten Kandidaten für eine Auffrischung im Herbst sein werden, weil der Impfschutz nach aktueller Datenlage wirklich nicht gleich gut ist wie zwei Dosen der Wettbewerber). Bei AstraZeneca sind die zukünftigen Mengen am unsichersten, weil noch nicht klar ist, wie der Rechtsstreit mit der EU wegen der bisherigen Lieferverzögerungen beigelegt wird. Eigentlich hat Deutschland noch über 40 Millionen Dosen Vaxzevria zu bekommen – aber nach schlechter Presse hält sich das Interesse der deutschen Bevölkerung an diesen Dosen ja bekanntlich sehr in Grenzen, und ein großer Teil davon wird als Hilfe in anderen Ländern dankbar aufgenommen werden. Moderna, Janssen und AZ sind jedenfalls dabei, ihre Lieferungen deutlich zu steigern, werden aber wohl Anfang Juli den Rückgang bei BioNTech/Pfizer noch nicht ganz auffangen können.
So oder so – in zwei bis drei Monaten wird es bei den Erwachsenen nur noch darum gehen, wer sich impfen lassen will. Es bleibt nur zu hoffen, dass dann, mit mehr Daten aus den USA, auch die STIKO bereit ist, ihre Haltung (was man nicht direkt aus Patientendaten ablesen kann, wird immer in Richtung Harmlosigkeit der Krankheit und Gefährlichkeit der Impfung interpretiert) zur Impfung von Jugendlichen zu überdenken, damit wir nicht im Winter eine massive Durchseuchung der Schulen erleben und wieder ständig Schulklassen in Quarantäne haben müssen. Von den Kultusministern darf man hinsichtlich Vorsichtsmaßnahmen ja bekanntlich kein Verantwortungsbewusstsein erwarten.

Leider noch was zu Arvay

Update24.3.23: Ein bisschen was zum Nachdenken für die Querdenker, die hier in ihren Kommentaren herumpöbeln (die außer im Archiv für die Staatsanwaltschaft ohnehin nirgends zu sehen sein werden) und allen Ernstes von „Hetze“ gegen den Impfgegner und Verschwörungspropagandisten Arvay fabulieren, weil ein paar wissenschaftsinteressierte und -kompetente Bürger ihre Freizeit aufgewendet haben, um aufzuklären über die lebensgefährliche Desinformation, die Arvay über Covid, Impfungen und andere Schutzmaßnahmen verbreitet hat, über seine Verschwörungsideologie und seine Verbindungen zur rechten Szene. Seht es Euch an und überlegt einfach mal, ob Ihr wirklich zu diesen Leuten gehören wollt:

Nach dem Artikel über Clemens Arvay vom letzten September hatte ich mir vorgenommen, die Aktivitäten dieses Menschen nicht mehr weiter zu kommentieren, um ihm nicht noch zusätzliche Aufmerksamkeit zuzuleiten. Ich habe ihn dann nur noch beiläufig in Antworten auf die Kommentare zu anderen Artikeln erwähnt und bei wichtigen Themen den früheren Artikel aktualisiert.

Update 14.6.21: Falls jemand das gerade aktuelle Arvay-Video durchlitten hat und eine Einordnung von seriöser Seite sucht oder einfach wissen möchte, welcher Unsinn dort jetzt wieder herumgeistert, dem kann ich den folgenden Twitter-Thread (für die Nicht-Twitterer: ein Twitter-Posting samt einer Reihe von Antworten, auch ohne Twitter-Anmeldung sichtbar) von @DerGraslutscher empfehlen. Der Mediziner Janos Hegedüs hat Arvays neues Geschwurbel inzwischen auch in einem Video fachlich eingeordnet.

Da er die Aufmerksamkeit dank der Beihilfe des Lübbe/Quadriga-Verlags, seiner vielen Fans aus der Querdenker-, QAnon– und Reichsbürgerszene und diverser willfähriger Journalisten nun ohnehin bekommen hat, hat sich dieser Vorsatz inzwischen erledigt. Lust auf einen ausführlichen, kommentierenden Artikel habe ich aber immer noch nicht, also liste ich einfach mal auf, was sich in letzter Zeit so alles ereignet hat. Das ist nicht mehr als eine Aneinanderreihung einzelner Beobachtungen – erwartet also keinen durchdachten Artikel.

  • Nachdem Arvay seine Fanboys inzwischen mehrfach in weinerlichen Videos gegen mich aufgewiegelt hat, werde ich von denen mehr als sechs Monate nach meinem Artikel über ihn immer noch auf unterschiedlichen Kommunikationskanälen belästigt, womit sich inzwischen auch schon die Staatsanwaltschaft beschäftigen musste.
  • Da er seit vergangenem Jahr ja immer wieder darauf aufmerksam gemacht wurde, dass einen ein Abschluss in Agraringenieurwesen mit einer Masterarbeit zu einem soziologischen Thema nicht zum Biologen macht, hat sich Arvay von der European Countries Biologists Association ein Zertifikat als „European Professional Biologist“ ausstellen lassen, mit dem er jetzt ständig in den sozialen Netzwerken herumwedelt. Dazu ist er offenbar auch der Austrian Biologist Association (ABA) beigetreten, was tatsächlich ein seriöser Fachverband ist. Nachdem deutlich wurde, wozu Arvay seine Mitgliedschaft benutzt, hat sich die ABA am 16. April sehr nachdrücklich von seinem Gedankengut distanziert und sich zu Covid-Impfungen und den Aussagen der entsprechenden wissenschaftlichen Institutionen bekannt – vorsichtshalber ohne Arvays Namen zu nennen, aber inhaltlich klar erkennbar.
  • Wo er jetzt ja das Zertifikat hat, hat Arvay auch erklärt, er habe eine Doktorarbeit in Biologie begonnen – er will also offenbar doch noch versuchen, zu lernen, wie man wissenschaftlich arbeitet. Dazu behauptet er: „Ich habe zuvor noch nie ein Doktorat begonnen und habe auch nie eine Dissertation abgebrochen.“
    Das ist allerdings irgendwie seltsam, denn für sein Buch „Der Biophilia-Effekt“ wurde schon seit mindestens 2016 (und auch noch vor vier Wochen) mit der Aussage geworben, er arbeite an einem Doktorat in Medizinwissenschaft über ein ganz anderes Thema. Nachzulesen war das auf der Homepage seines eigenen Verlags. Mir würde ja auffallen, wenn einer meiner Verlage in der Darstellung eines meiner Bücher mit falschen Behauptungen zu meiner Biographie werben würde. Da fragt man sich doch, von wem der Verlag die Biographie seines Autors denn bekommen hat.
    Dort ist auch nachzulesen, dass sich Arvay zu seinem Buch ein Vorwort von Rüdiger Dahlke hat schreiben lassen. Dahlke verbreitet unter anderem den Verschwörungsmythos, dass wir alle im Auftrag diverser Regierungen von Flugzeugen gezielt mit Giften (Chemtrails) besprüht würden. Auf dem rechtsesoterischen Quer-Denken-Kongress in Friedberg 2015, von dem damals führende NPD-Funktionäre begeistert berichtet haben, erklärte Dahlke, (ähnlich wie in diesem Video) wir hätten zu viel Demokratie und zu wenig Hierarchie.
  • Inzwischen ist ja auch Arvays lange angekündigtes Anti-Impf-Buch erschienen. Dr. med. Jan Oude-Aost (einer der Autoren des sehr viel empfehlenswerteren Buchs Fakten-Check Impfen)  hat es in drei Artikeln auf eingeimpft.de (1 2 3) ausführlich auf seinen Wahrheitsgehalt überprüft. Ich finde es bewundernswert, wie Jan Oude-Aost es schafft, ein so vernichtendes Ergebnis so respektvoll und wertschätzend zu formulieren. Ich hoffe, meine Leser hier erwarten das nicht auch von mir.
  • Ein lustiges Falschmeldungs-Spiel gab es im April zwischen Arvay und der Frankfurter Rundschau. Zunächst, am 8. April, brachte FR-Wissenschaftsredakteurin Pamela Dörhöfer eine vollkommen unkritische Rezension über Arvays inhaltlich, wie schon erwähnt, höchst mangelhaftes Anti-Impf-Buch. Vier Tage später berichtete dieselbe Autorin dann über eine israelische Studie zur Wirksamkeit von Impfungen gegen unterschiedliche Virusvarianten. Die Erkenntnis aus der Studie ist eigentlich weder sonderlich neu noch schwer zu verstehen: Aktuelle Impfstoffe schützen gegen alle Virusvarianten, aber gegen die „südafrikanische“ B.1.351 (vor allem in den ersten zwei Wochen nach der Impfung) nicht ganz so herausragend gut wie gegen die bei uns vorherrschende „britische“ B.1.1.7. In der Rundschau wurde daraus für mehrere Tage die falsche Aussage, „dass sich Geimpfte häufiger als Ungeimpfte mit der südafrikanischen Variante infizierten.“ Arvay sprang auf die Falschmeldung (die er als angeblicher Experte doch eigentlich sofort hätte erkennen müssen…) nicht nur auf, sondern setzte noch eins drauf:

    Infektionsverstärkende Antikörper, also der bei einigen wenigen Viren auftretende Effekt, dass bestimmte Reaktionen des Immunsystems dem Virus seine Arbeit erleichtern anstatt sie zu verhindern, gehören logischerweise zum Ersten, wonach man bei einem neuen Impfstoff lange vor der Zulassung sucht. Dass sie bei SARS-CoV-2 (und zwar bei allen bekannten Varianten) keine relevante Rolle spielen können, zeigt sich aber auch schon daran, dass die zugelassenen Impfstoffe vor allen Varianten schützen – nur eben nicht vor allen gleich gut.
    Um den 21.4. herum wurde der Artikel auf der Seite der FR dann stillschweigend korrigiert – und war kurz darauf von Arvays Facebookprofil spurlos verschwunden.
  • Es gibt tatsächlich auch Zeitungen, die die Mängel in Arvays Behauptungen deutlich ansprechen, zumindest in seiner Heimat Österreich. Im Zusammenhang mit Covid-19 und der Querdenkerbewegung ist allerdings auch der Blog Volksverpetzer.de zu empfehlen, der nicht nur die Fehler in der Frankfurter Rundschau und die Löschung kritischer Kommentare (unter anderem von mir) durch die FR ausführlich aufgearbeitet hat. Auch zu Arvays absurder Agitation gegen die Wissenschafts-Erklärvideos von MaiLab gibt es dort zwei sehr lesenswerte Artikel. Wer mich kennt, kann sich denken, dass ich kein besonderes Interesse damit verbinde, einen deutlich linken Politblog zu promoten, aber gerade bei allem, was mit Covid und den damit verbundenen Verschwörungsmythen zu tun hat, sind die Qualität der Recherchen und die journalistische Aufarbeitung beim Volksverpetzer wirklich hervorragend und stellen die Arbeit vieler etablierter Medien deutlich in den Schatten.
  • Falls jemand tatsächlich noch Zweifel hatte, dass es sich bei Clemens Arvay  um einen Hardcore-Querdenker handelt, empfehle ich mal einen Blick darauf, wie er auf der Facebook-Seite von ORF 2 das Gedenken an die Opfer der Pandemie verhöhnt, von „hunderttausenden“ Toten durch den Lockdown halluziniert und sich dann auf seiner eigenen Seite auch noch damit brüstet:
    Um die wirren Behauptungen zu Malaria und Hunger mal in Perspektive zu rücken: Innerhalb eines Jahres sterben laut Global Burden of Disease Monitor weltweit rund 140.000 Menschen an Unterernährung und knapp 600.000 an Malaria. Wie sich diese Zahlen durch Maßnahmen gegen Covid-19 nennenswert verändern sollen, erscheint mir nur im Rahmen eines völligen Realitätsverlusts durch Versinken im Verschwörungsglauben nachvollziehbar. Innerhalb der letzten 12 Monate wurden dagegen allein schon rund 3 Millionen Todesfälle durch Covid-19 offiziell erfasst. Hinzu kommen  diejenigen Covid-Toten in Entwicklungsländern, die nie diagnostiziert werden, weil sie ohne ärztliche Versorgung zu Hause gestorben sind – und dazu noch sämtliche Covid-Toten in Ländern wie Tansania, Nicaragua oder Nordkorea, wo überhaupt nicht getestet wird.
  • Interessant übrigens, dass in Arvays eigenem Screenshot oben eine Mitteilung des Telegram-Messengers zu sehen ist, wo er doch behauptet, Telegram noch nie gesehen zu haben und überhaupt nicht zu benutzen:
  • Angesichts der aktuellen Enthüllungen über Frank „den Reisenden“ Schreibmüller, der für diverse Größen der Rechts- und Querdenkerszene Telegram-Kanäle etabliert und ihnen dann zur Übernahme angeboten haben soll, erhält Arvays Behauptung allerdings eine gewisse Glaubwürdigkeit, der inzwischen umbenannte Telegram-Kanal mit seinem Namen sei nicht von ihm selbst eingerichtet worden.
  • Wenn man liest, wie Arvay auf Facebook über die extrem seltenen Komplikationen durch Astra Zenecas Impfstoff Vaxzevria schreibt, könnte man meinen, er hätte im Fußball gewonnen.

    Nein, es hat niemand gewonnen; es sind Menschen gestorben. Genau gesagt sind europaweit bis zum 25.3. dieses Jahres 18 Menschen gestorben, von rund 25 Millionen, die bis dahin diesen Impfstoff erhalten hatten. Zur Einordnung: Wären diese Menschen dauerhaft ungeimpft geblieben, hätte man damit rechnen müssen, dass zwischen 50.000 und 200.000 von ihnen an Covid-19 sterben. Dass wir überhaupt über so seltene Impfkomplikationen reden, liegt eigentlich nur daran, dass wir mit den mRNA-Impfstoffen Alternativen haben, bei denen noch nicht einmal dermaßen seltene schwerere Probleme zu finden sind. Dass er vor ein paar Monaten gegen die auch agitiert hat, erwähnt Arvay zumindest in seinen Facebook-Posts vorsichtshalber nicht mehr.
  • Dass Arvay sein ganzes Anti-Impf-Geschwurbel vor einem Jahr mit dem Verbreiten der großen Bill-Gates-Impf-Verschwörung eingeleitet hat, hatte ich ja schon im letzen Artikel erwähnt. Er propagiert aber auch alle möglichen anderen abstrusen Verschwörungsmythen. Vor ein paar Tagen hat er sich erst einen Artikel über einen implantierbaren Chip herausgegriffen, der dazu dienen soll, Ausbrüche ansteckender Krankheiten in isolierten Militäreinheiten schnell zu erkennen. Dazu spinnt er sich dann zusammen, mit dem Chip seien „offenbar“ Bewegungsverfolgung und Überwachung möglich, und er sei entwickelt worden, um (gerichtet an seine Facebook-Fans) „Euer Blut permanent zu überwachen“.
    Damit verbreitet er unmittelbar den Chip-Implantat-Überwachungsmythos antisemitischer Verschwörungsideologen, wie er schon seit Jahren immer wieder auch vom Hetzkanal kla.tv der OCG-Sekte verbreitet wird, gerne auch als Teil von Anti-Impf-Propaganda. Kein Wunder, dass man in den Videos von kla.tv dann auch den „besorgten“ Bürger Arvay wiederfindet, was um so witziger ist, weil er in letzter Zeit offenbar auch versucht, sich an selbsternannte „revolutionäre Antifaschisten“ anzubiedern.
  • An anderer Stelle schreibt Arvay, Bill Gates habe in ein Patent zur Verdunkelung der Sonne investiert. Dazu gibt er als Fußnote einen Artikel auf einer Seite namens TechAndNature an, was den Eindruck erweckt, es handele sich um einen Beleg für seine Behauptung – nur dass in dem Artikel von einem Patent oder sonstiger wirtschaftlicher Verwertung mit keinem Wort die Rede ist. Arvay macht aber gleich weiter mit der Behauptung, das geschilderte Forschungsprojekt über denkbare Technologien zur Abschwächung des Klimawandels sei für Gates „bestimmt gewinnbringend“ und bringt das mit Gates‘ angeblich lukrativen „Pharmaseilschaften“ in Verbindung.

    Wie ein Zuschuss über eine gemeinnützige Stiftung zu einem Experiment der Grundlagenforschung, von dem selbst die Versuchsleiter sagen, dass sie die erforschte Technologie lieber nicht in großem Maßstab eingesetzt sehen möchten, gewinnbringend sein soll, kann Clemens Arvay sich selbst wahrscheinlich irgendwie erklären. Zur Frage, warum aus der Sicht von Verschwörungsgläubigen hinter solchen Aktivitäten unbedingt finstere Gewinnerzielungsabsichten stehen müssen, empfehle ich die Bücher Verschwörungsmythen und Warum der Antisemitismus uns alle bedroht des Antisemitismusbeauftragten von Baden-Württemberg, Michael Blume.
  • Ende Dezember verlinkt Arvay auf Facebook ein Video über angebliche „Mediale Diffamierung“ gegen ihn in der österreichischen Wochenzeitung Falter und kommentiert das mit: „Dank an den Urheber!“

    Unter dem Link diskutiert Arvay mit Kommentatoren fröhlich, wer „the Fuck“ die im Video attackierte Journalistin sei.

    Damit kann ihm eigentlich auch nicht entgangen sein, welch wirre Fake News und antisemitisches Verschwörungsgeschwurbel in den weiteren Kommentaren zu seinem Post verbreitet werden. Das scheint ihn aber nicht zu stören, denn er hat es bis heute weder kommentiert noch gelöscht:


    Wer der von Arvay mit solchem Dank bedachte Urheber des Videos ist, kann ich leider nicht mehr feststellen, weil selbiger offensichtlich Gründe hatte, das Video auf Youtube wieder zu löschen. Eine Google-Suche nach dem Titel zeigt aber deutlich, bei welchem Umfeld Arvay sich da bedankt: Sie führt auf die Seite Korrekter.com:

    Sämtliche Links rechts neben dem Arvay-Video führen weiter auf die Seite „Journalistenwatch“, laut ZEIT eins der einflussreichsten Medien der Neuen Rechten in Deutschland. Unter der Rubrik „Verbotenes Wissen“ verlinkt Korrekter nicht nur wirre Räuberpistolen über UFOs, Aliens, die Antarktis und Erich von Däniken, sondern auch eine ganze Serie islamfeindlicher Videos des Pegida-Aktivisten Michael Stürzenberger.
    Die Dankbarkeit fügt sich also nahtlos ein in Arvays Verbrüderung mit Leuten wie Gunnar Kaiser, Wikihausen oder dem früher mal gerade noch ultrakonservativ zu nennenden österreichischen Querdenker-Granden Raphael Bonelli, sein Interview bei den NachDenkSeiten und seinen Solidaritätsbekundungen für den Verschwörungspropagandisten Sucharit Bhakdi, der inzwischen öffentlich erklärt hat, Deutschland sei eine Diktatur. Falls also tatsächlich noch jemand Clemens Arvay die Frage abkauft, wer ihn immer wieder mit der rechten Szene in Verbindung bringt: Das ist er selbst.

Update 29.8.21: Endlich fangen, wenigstens in Österreich, auch die Medien mal an, sich mit dem rechten Propagandanetzwerk um Clemens Arvay zu beschäftigen. Deutsche Medien, wie hier z.B. die Frankfurter Rundschau, fallen ja leider immer wieder auf ihn herein.

Der selbstgebastelte „Impfstoff“ aus Lübeck

Eigentlich würde ich vom Thema Impfstoffe hier gerne etwas wegkommen, wenn ich endlich wieder mehr Zeit zum Schreiben habe, aber irgendwas ist dann doch immer. Ich hatte ja schon vor einem Dreivierteljahr damit gerechnet, dass Leute sich etwa jetzt darüber aufregen würden, wer wann geimpft wird und warum wir nicht schon viiiiieeeeeelllll mehr Impfstoff haben. Ich hatte auch schon damit gerechnet, dass die üblichen Verschwörungsschwurbler Schauermärchen über erfundene Impfschäden erzählen. Ich hatte damit gerechnet, dass Pseudoexperten, deren einzige jemals vollbrachte wissenschaftliche Leistung eine soziologische Masterarbeit ist, mit Tatsachenverdrehungen über moderne Impfstoffe auf der Spiegel-Bestsellerliste landen. Mir war auch von Anfang an klar, dass Altenaivmediziner anfangen würden, homöopathische oder „geistige“ Impfungen zu verhökern. Hätte mir allerdings jemand erzählt, dass sich, noch nach der Zulassung seriöser Impfstoffe, Menschen dafür begeistern würden, Amateure mit ungetesteten Impfstoffkandidaten an ihrem Immunsystem herumpfuschen zu lassen, und dass etablierte Medien das noch anstacheln würden, dann hätte ich der betreffenden Person unterstellt, sie hätte zu viel Breaking Bad gesehen.

Im Moment werde ich aber von diversen Seite mit Anfragen, gerne garniert mit zynischen Bemerkungen gegen die Pharmaindustrie, zum angeblichen Wunderimpfstoff bombardiert, den ein Herr Stöcker aus Lübeck im Labor seiner Medizintechnikfirma entwickelt haben will. Aktuell kocht das Ganze total über, weil der Spiegel sich darüber ausgelassen hat, Stöcker habe „statt Lob und Anerkennung“ eine Strafanzeige bekommen – und um das vorwegzunehmen, ich frage mich, ob sich beim Spiegel irgendjemand zur Sach- und Rechtslage kundig gemacht hat, bevor man hier auf die Idee gekommen ist, Lob und Anerkennung könnten überhaupt zu Diskussion stehen. Oder, um die international renommierte Impfstoffgutachterin Petra Falb zu zitieren: Er hat sich definitiv massiv strafbar gemacht.“ Das Zitat habe ich hier nachträglich eingefügt – ich hatte mich in dem Punkt erst mal zurückgehalten, weil diesbezügliche Rechtsfragen nicht mein Thema sind. Ich empfehle ihren Kommentar generell zum Lesen. Inzwischen (7.3.) hat sie auch einen eigenen Blogartikel zum Thema online. Das ist unglaublich wertvoll, weil sie von der eigentlichen Problematik (ich kenne das ja nur von der Marktseite, von der grundsätzlichen Frage der Wissenschaftlichkeit her und von dem, was ich mir im Verlauf der Pandemie angelesen habe) wirklich tiefgreifende Ahnung hat. Die wichtigste Passage: „[…] es ist völlig unverständlich, wie sich hier jemand, der das Gesetz und auch die Arzneimittelsicherheit derart mit Füßen tritt, auch noch als Opfer darstellen kann. Leider muss man auch den betreffenden Journalisten, die diesen Bericht zu verantworten haben, schlechte Recherche vorwerfen – was hier zu sehen ist und vor allem wie dieses Thema aufbereitet wurde ist alles andere als objektiv und fachlich korrekt und trägt extrem zu Verwirrung und Verbreitung falscher Informationen bei.“ Lesenswert ist auch der Twitterthread des promovierten Neurobiologen Lars Dittrich, der inzwischen der MaiLab-Redaktion angehört.

Was mich ein bisschen verwundert hat, war zunächst, wer Stöcker zu diesem Hype verholfen hat, aber nach einem Hinweis aus der Twitter-Community dämmert mir langsam, aus welcher Ecke solch treue Gefolgschaft kommt. In seinem Blog wettert er gegen „Klimahysterie“ und geschlechtsneutrale Formulierungen, erklärt, die AfD habe „heute in vielen Sachfragen die besten Argumente“ und ruft wegen der Aufnahme von Flüchtlingen zum „Sturz der Kanzlerin Merkel“ und zu einem „Aufstand der Anständigen“ auf.

Was hat er aber jetzt bei seinem „Impfstoff“ gemacht: Er hat einen Bestandteil des SARS-CoV-2 Virus im Labor nachgebaut. Seine Idee ist, man spritzt diesen Bestandteil in einen Patienten, das Immunsystem reagiert auf dieses fremde Antigen, baut eine Immunreaktion auf, und die schützt dann auch gegen das ganze Virus. Das ist vom Prinzip her nicht viel anders, als praktisch alle westlichen Impfstoffkandidaten gegen Covid-19 funktionieren. Stöckers „Impfstoff“ wäre, falls er denn wirkte, ein Protein-Subunit-Impfstoff (die unterschiedlichen Impfstofftypen gegen Covid-19 habe ich schon im August erklärt) – sowas gibt es im Prinzip schon länger gegen Grippe, und es sind auch mehrere seriöse Kandidaten in der Entwicklung gegen Covid-19.

Warum ist aber nun bei den Impfstoffen und Impfstoffkandidaten der seriösen Labore und Hersteller alles doch ein bisschen komplizierter? Nun, die Erfahrung hat über viele Jahre gezeigt, dass, wenn man einfach nur ein fremdes, wirkungsloses Protein in hinreichender Menge in einem Muskel spritzt, das Immunsystem zwar reagiert und auch Antikörper produziert, die Wirkung aber weder stark noch andauernd genug ist, um einen längerfristigen Schutz zu erzeugen. Damit das Immunsystem dennoch einen entsprechenden Schutz aufbaut, verwendet man in der Regel einen der folgenden Tricks:

  • Man präsentiert dem Immunsystem das Antigen über einen längeren Zeitraum immer wieder, indem man z.B. Körperzellen dazu bringt, es nachzuproduzieren. Das tun die in meinem Artikel genannten RNA-, DNA- und Vektorvirusimpfstoffe.
  • Man bindet das Antigen in eine Struktur ein, die irgendwie virusähnlich aussieht (virus like particle, VLP), um dem Immunsystem etwas Gefährliches vorzutäuschen. Solche Impfstoffe sind gegen Covid-19 noch nicht in fortgeschrittenen Entwicklungsphasen. Falls zugelassen, wäre auch die Produktion nicht einfach.
  • Man sorgt dafür, dass durch eine lokale Entzündung am Ort der Injektion das Immunsystem wild auf alles losgeht, was gerade dort auftritt, also vor allem auf das dort injizierte Antigen. Das erreicht man mit sogenannten Impfadjuvantien (das historisch bekannteste davon sind übrigens die von Verschwörungsgläubigen gerne verteufelten und heute eher selten verwendeten Aluminiumsalze). So funktionieren praktisch alle seriösen Protein-Subunit-Impfstoffe, die gegen Covid-19 in der fortgeschrittenen Entwicklung sind. Das sind nach aktuellem Stand allein schon 24 Impfstoffkandidaten – ein weiterer wurde im Lauf der Patientenstudien schon aufgegeben.

Könnte es theoretisch sein, dass aus irgendeinem ominösen Grund ein solo gespritztes Protein trotzdem zu einer schützenden Immunreaktion führt, wenn es nicht von einem seriösen Hersteller, sondern von Stöcker kommt? Denkbar ist vieles. Zum Beispiel könnte eine bei ihm produktionsbedingte Verunreinigung zufällig als noch unbekanntes Impfadjuvans wirken. Das ist eben nur sehr, sehr, sehr unwahrscheinlich. Wesentlich wahrscheinlicher wäre, dass eine solche Verunreinigung zufällig gesundheitsschädlich ist. Wie es mit systematischer Adjuvierung von Stöckers Impfstoff aussieht, ist vollkommen unklar. Auf seiner Homepage erklärt er tatsächlich, der Impfstoff sei mit Alhydrogel (ja, dem angeblich doch so bösen, bösen Aluminium!!!) adjuviert, während er in Interviews wie dem verlinkten Spiegel-Video regelmäßig behauptet, es handele sich nur um ein Antigen. Eine dieser Behauptungen kann offensichtlich nicht stimmen.

9.3.21: So langsam trudeln von ein paar gutinformierten Lesern neue Hinweise ein, und ich kann mir über diesen Kerl einfach nur immer mehr an den Kopf fassen. Auf seiner Homepage schreibt er ausdrücklich, dass er in dem Zeug, das er seinen Angestellten injiziert hat und das er als „Impfstoff“ in Verkehr bringen will, Alhydrogel vom Lieferanten InvivoGen verwendet. Na gut, werfen wir mal einen Blick auf die Produktbeschreibung auf der Homepage des Herstellers, und was lesen wir da?InvivoGen products are for research purposes only; they are not for use in humans. Wie verantwortungslos kann man eigentlich sein?

Nun behauptet Stöcker aber, sein „Impfstoff“ schütze trotzdem. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Was ich aber weiß, ist, dass er es auch nicht weiß. Und Christian Drosten und Hendrik Streeck, von denen er behauptet, sie hätten die Wirksamkeit bestätigt (die das aber offenbar öffentlich nicht bestätigen wollen), können das ebenfalls nicht wissen. Dazu müsste man nämlich sehen, dass die damit Geimpften signifikant weniger häufig erkranken als Ungeimpfte. Genau das ist es, was die Entwicklung eines seriösen Impfstoffs so teuer und bei den meisten anderen Erkrankungen auch langwierig macht. Genau dieser Nachweis macht den Unterschied aus zwischen einem Impfstoff und irgendwas, was sich irgendwer in irgendeinem Labor zusammengebraut hat – und von dem in diesem Fall wie schon erwähnt auch sehr, sehr, sehr unwahrscheinlich ist, dass es schützt.

Wenn man nicht ausschließen kann, dass Stöckers Protein auch ohne ein gezielt eingesetztes Adjuvans wirkt, könnte man ja zumindest sagen, vielleicht hat er keinen Impfstoff, aber möglicherweise einen Kandidaten für die Impfstoffentwicklung? Im Prinzip schon. Das ist der erste und banalste Schritt in der Entwicklung eines Arzneimittels – man baut sich ein Molekül zusammen, von dem man hofft, dass es eine Wirkung hat und niemanden umbringt. Das hat auch gegen Covid-19 nach exakt dem gleichen Prinzip eine ganze Reihe von Pharmaherstellern schon vor einem Jahr getan. Die haben einen Bestandteil des SARS-CoV-2-Virus (in der Regel das Spike-Protein oder ein Teil davon mit irgendwas drangehängt) genommen und im Labor nachgebaut und mit unterschiedlichen Adjuvantien in Zellkultur- und Tierversuchen getestet, wie sie die beste Immunreaktion bekommen. Genau auf dem Stand ist er jetzt. Es ist allerdings auffällig, dass von dieser Art Impfstoffe noch keiner zugelassen ist. Offenbar ist es selbst mit sorgfältig ausgewählten und in ihrer Dosierung optimierten Adjuvantien nicht ganz trivial, aus einem Protein-Impfstoff eine gute, verträgliche Schutzwirkung gegen Covid-19 zu bekommen. Der fortgeschrittenste derartige Kandidat, von Novavax, steht aber inzwischen in mehreren Ländern kurz vor der Zulassung.

Dass viele Moleküle (mehr als 99,9%) den Schritt vom vielversprechenden Laborkandidaten zum zugelassenen Arzneimittel nie schaffen, ist ganz normal. Die meisten derartigen Entwicklungen, die in einzelnen Zellen noch gut gewirkt haben, müssen schon nach Tierversuchen aufgegeben werden. Diesen vor allem für die Sicherheit der Testpersonen wichtigen Zwischenschritt hat der gute Mann ganz offensichtlich einfach ausgelassen und gleich mal Menschen als Versuchskaninchen benutzt. Nun gut, es scheinen zufällig alle überlebt zu haben. Also, hoffentlich. So genau weiß er das ja nur selbst. Wer so etwas seriös betreibt, muss seine Patientenversuche vorher öffentlich nachvollziehbar registrieren, damit man unliebsame Daten nicht verschwinden lassen kann.

Wenn Tierversuche gut laufen, macht man Verträglichkeitstests (Phase I) an Freiwilligen, in denen man bei einem Impfstoff auch erkennt, ob das Immunsystem wenigstens kurzfristig Antikörper und eine T-Zell-Reaktion produziert. Entsprechende Daten hat Stöcker nicht veröffentlicht (und ich habe große Zweifel, ob die meisten dafür erforderlichen Informationen jemals erhoben wurden), aber er würde wahrscheinlich behaupten, eine Phase-I-Studie hätte er mit seinem illegalen Verspritzen gemacht – eine angebliche Phase-I-Studie ohne die zum Schutz der Versuchspersonen erforderliche Genehmigung, ohne Ethikkommission, ohne medizinische Überwachung der Versuchspersonen und ohne sachgerechte Dokumentation der Ergebnisse. Dafür behauptet Stöcker, die Gespritzten hätten danach Antikörper gegen SARS-CoV-2 gehabt. Wie erwähnt, irgendeine Immunreaktion bekommt man eigentlich immer, aber ein dauerhafter Schutz wäre sehr, sehr, sehr unwahrscheinlich. Und er müsste, wenn er denn existierte, erst mal bewiesen werden. Genau dazu gibt es die folgenden Erprobungsphasen, die Stöcker mal eben als „bagatellartige Immunisierung“ abtut, die aber die einzige Möglichkeit sind, eine Schutzwirkung zu erkennen.

Nach erfolgreicher Phase I kann man die Ergebnisse also mal einer Ethikkommission und dem Paul-Ehrlich-Institut vorlegen, ob der zu erwartende Nutzen das Risiko rechtfertigt, das Zeug einer größeren Probandenzahl (so 500 bis 2000) in der Phase II zu verabreichen, in der man dann schon systematischere Aussagen zur Sicherheit bekommt. Bei anderen Arzneimitteln sieht man in der Phase II auch meist schon eine Wirkung – dafür hat man aber bei einem Impfstoff, gerade bei der Häufigkeit von SARS-CoV-2-Infektionen in den meisten Ländern, noch viel zu wenig Probanden.

In der Phase III braucht man dann so zwischen 30.000 und 50.000 Probanden in Gebieten mit relativ hoher Infektionstätigkeit, um nachweisen zu können, dass die Immunreaktion tatsächlich vor einer Erkrankung schützt. Wenn man das geschafft hat, und alle zugelassenen Impfstoffe haben das geschafft, dann kann man eine Zulassung beantragen.

Insofern, ja, mit einem zwei- bis dreistelligen Millionenbetrag für Patientenstudien könnte Stöcker in sechs bis neun Monaten soweit sein, dass das Zeug zugelassen wird – falls es denn tatsächlich irgendwie schützt und sicher ist. Nur sind da eben schon 24 Andere mit dem identischen Ansatz besser umgesetzt (nämlich mit Adjuvans) und nochmal 52 Andere mit anderen Impfstoffansätzen, die alle auf genau diesem Weg schon viel, viel weiter sind.

Es gibt aber noch ganz andere Erfahrungen mit der Entwicklung von Covid-Impfstoffen nach Stöckers Muster. CSL-Sequirus, einer der weltgrößten Hersteller von Grippeimpfstoffen, hat sein Projekt für die Entwicklung eines Protein-Subunit-Impfstoffs gegen Covid-19 aufgegeben, offensichtlich weil sich in Patientenstudien ergeben hat, dass der Impfstoff nicht gleichzeitig sicher und wirksam einsetzbar hinzubekommen war. Sanofi und GSK, zwei Pharmariesen mit breiter Impfstofferfahrung, hängen in ihrer Entwicklung eines solchen Impfstoffs seit vielen Monaten in frühen Patientenstudien fest und peilen jetzt eine Markteinführung frühestens zum Jahresende an. Ein weiterer der weltgrößten Impfstoffhersteller, MSD, hat seine Entwicklung eines Vektorvirusimpfstoffs aufgeben müssen und wird seine Produktionskapazität jetzt wohl an andere Hersteller vermieten. Es gibt also wesentlich kompetentere Leute mit wesentlich mehr Geld, die vor einem Jahr auch da waren, wo Stöcker jetzt ist, und die in der Zwischenzeit einsehen mussten, es funktioniert nicht. Es ist in der Arzneimittelentwicklung vollkommen normal, dass Substanzen, die vor und noch in Phase I extrem vielversprechend aussehen und unter Umständen schon mehrere hundert Millionen Euro verschlungen haben, sich dann in den großen Patientenstudien als unbrauchbar herausstellen. Stöcker möchte seinen „Impfstoff“ praktischerweise ohne diese kritischen Studien auf die Menschheit loslassen: „Denn eine Zulassung würde zu viel Zeit beanspruchen, in Deutschland bestimmt Jahre. Aber man bedarf in der aktuellen katastrophalen Situation keiner langwierigen Doppelblindversuche…“ Komischerweise haben die seriösen Covid-Impfstoffe, von denen wir aus Patientenstudien wissen, dass sie tatsächlich wirken und sicher sind, für eine Zulassung in Deutschland aber eben keine Jahre gebraucht. Die sind ja schon im Einsatz.

Und wenn man bis dahin das Stöcker-Zeugs außerhalb einer genehmigten, medizinisch überwachten Studie irgendwem spritzt, dann ist das keine Impfung, sondern schlicht Quacksalberei und Körperverletzung.

Und was mich an der ganzen Sache besonders ärgert, ist, dass sich deutsche Medien, nach ersten Meldungen schon im vergangenen Jahr, in den letzten Monaten alle paar Wochen wieder von diesem Selbstdarsteller an der Nase herumführen lassen.

Noch ein Impfstoff-Update: Nachrichten von AstraZeneca und ein paar Fragezeichen

So, das packe ich jetzt mal in ein neues Update, denn die heutige (naja, jetzt ist es schon nach Mitternacht…) Meldung von AstraZeneca (AZ) enthält ein paar interessante Informationen, bietet Anlass für ein paar wichtige Erklärungen und wirft gleichzeitig ein paar neue Fragen auf.

Ich hatte in mehreren Artikeln erwähnt, dass ich etwas ungeduldig auf erste Ergebnisse aus den Phase-III-Studien von AstraZeneca warte. Der Grund, warum ich diesen Impfstoff so wichtig finde, ist, dass er sehr helfen kann, möglichst schnell möglichst viele Menschen geimpft zu bekommen. Das hat mehrere Gründe, die jeweils für unterschiedliche Gruppen wichtig sind:

  • Der Vektorvirusimpfstoff (zu den Impfstofftypen siehe hier) von AZ ist als fertiges Produkt einem normalen Impfstoff chemisch relativ ähnlich und wesentlich einfacher transport- und lagerfähig als die RNA-Impfstoffe von Pfizer und Moderna, auf die ich hier schon eingegangen war. Je weiter wir uns aus den Hauptmärkten Europa/USA/Japan herausbewegen, desto wichtiger wird das. Der Impfstoff könnte aber auch hierzulande außerhalb von Impfzentren durch die Hausärzte verimpft werden.
  • Da die Art, wie das Immunsystem angeregt wird, eine andere ist (über ein tatsächliches Virus anstatt durch eine größere Menge im Körper aus RNA erzeugter Virusteile) könnte dieser Impfstoff ein anders Wirk- und Nebenwirkungsprofil haben und bei anderen Zielgruppen einsetzbar sein als die einander sehr ähnlichen Impfstoffe von Pfizer und Moderna.
  • AZ hat von allen Herstellern die größte und kurzfristigste Lieferzusage an die EU – und hatte schon vorher im Juni einen Vertrag mit Deutschland, Frankreich, Italien und den Niederlanden abgeschlossen, von dem nie richtig öffentlich klargestellt wurde, ob der durch den Vertrag mit der EU erloschen ist. Da könnte nach einer Zulassung also relativ schnell eine große Menge Impfstoff in Deutschland bereit stehen. Dass AZ in der Pressemeldung mehrfach darauf verweist, zum Selbstkostenpreis zu liefern, klingt gut, macht aber zu den ebenfalls sehr zurückhaltenden Preisen der anderen Hersteller wenig Unterschied. Niemand, auch nicht die in der Branche als sehr am Ergebnis orientiert bekannte Pfizer, hat ein Interesse, sich aus einer kurzfristigen Machtposition heraus die Taschen voll zu machen, um dann in den nächsten Jahren bei Preisverhandlungen über die ganzen anderen Produkte von der Politik an die Wand genagelt zu werden.
  • Vor allem ist AZ aber wichtig für den Rest der Welt, denn die Masse macht’s: AZ hat seit dem späten Frühjahr ein Netzwerk von Partnern aufgebaut, das schon im August von allen Entwicklungen die größte Produktionskapazität umfasst hat und seitdem auf drei Milliarden Impfdosen (ausreichend je nach Dosierung für 1,5 bis 2 Milliarden Patienten) bis Ende 2021 angewachsen ist. Die AZ-Partner hätten natürlich bei einem Scheitern der Entwicklung auf andere Impfstoffe umstellen können, aber das hätte Zeit gekostet, und das AZ-Bündnis hat offenbar auch schon in relativ großem Umfang vorproduziert.

Es ist also wichtig, dass gerade dieser Impfstoff auch hilft, und jetzt kommt die erste Bestätigung einer tatsächlichen Schutzwirkung am Probanden. Die Zahlen wirken auf den ersten Blick nicht so spektakulär wie bei den Wettbewerbern: Im Durchschnitt 70 Prozent Schutzwirkung sind zwar okay, liegen aber deutlich unter dem Traumwert von 95 Prozent, den wir zuletzt gehört hatten. Außerdem beruhen die Ergebnisse nur auf Daten aus Großbritannien und Brasilien – der US-Teil der Studie fehlt wegen der in meinen vorherigen Artikeln schon erwähnten Verzögerungen noch. Gleichzeitig hatte Europa während eines großen Teils der bisherigen Studiendauer wenig Fälle. Die Ergebnisse beruhen also wohl zu einem großen Teil auf den gerade mal 10.300 Probanden in Brasilien (offenbar alle aus Sao Paulo), von denen, und das ist hier ausnahmsweise mal deutlich nachzulesen, die Hälfte zur Placebogruppe gehört. Auch die Suche nach seltenen Nebenwirkungen ruht bislang nur auf 11.636 Probanden, die über beide Länder den tatsächlichen Impfstoff bekommen haben.  Dass da keine schweren Nebenwirkungen aufgetreten sind, ist aber trotzdem schon mal sehr gut. Zur Erinnerung: Von den 11.636 würden sich ohne Impfstoff fast 9.000 früher oder später infizieren, und geschätzt 50 bis 100 würden daran sterben.

Was mir ein bisschen seltsam vorkommt – wobei man immer sagen muss, ich bin kein Immunologe – ist der in der Pressemitteilung auch dargestellte Vergleich zwischen zwei Teilgruppen der Stichprobe. Der größte Teil der Impfstoff-Probanden hat zwei volle Impfdosen im Abstand von einem Monat bekommen. Eine kleinere Teilstichprobe von 2.741 Probanden hat jedoch bei der ersten Impfung nur eine halbe Dosis bekommen, und bei denen errechnet sich ein Impfschutz von 90 Prozent im Vergleich zu nur 62 Prozent beim Rest der Geimpften (im Durchschnitt ergibt das dann die 70 Prozent). Laut Pressemitteilung ist das alles statistisch signifikant auf einem sehr hohen Niveau – was sich aber vermutlich auf den Vergleich mit der Nullhypothese (Impfung wirkt gar nicht) bezieht. Was mich interessieren würde, ist, wie signifikant der Unterschied zwischen den beiden Teilstichproben ist. Ganz naiv würde man schließlich erwarten, dass unterschiedliche Dosierungen entweder gleich gut wirken oder viel auch viel hilft – eventuell um den Preis von mehr Nebenwirkungen. Ein sich umdrehender Dosis-Wirkungs-Zusammenhang erscheint mir… naja, zumindest klärungsbedürftig. Wenn sich das in den Laborwerten der Probanden bei den früheren Phasen auch schon so abgezeichnet hätte, dann würde das die These, dass das ein echter Effekt ist, natürlich stützen. Noch deutlicher wäre, wenn das im amerikanischen Teil der Phase III auch herauskäme. Bis der da ist, hilft wohl nur Abwarten.

Worauf man wohl ebenfalls noch warten muss, was die AZ-Studien aber mittelfristig liefern sollten, ist eine Antwort auf die elendigliche Frage, ob der Impfstoff jetzt nur vor der Krankheit oder vollständig vor der Infektion (und damit auch der Ansteckung anderer) schützt. Wie ich schon geschrieben hatte, sind 95 Prozent weniger erkannte Infektionen eigentlich nicht dadurch zu erklären, dass ein Impfstoff nur den Ausbruch von Krankheitssymptomen verhindert, aber hier wird man es auch direkt herausfinden. Beim britischen Teil der Phase III werden tatsächlich alle 12.390 dortigen Probanden wöchentlich per Abstich und PCR nachgetestet, um auch symtomlose Infektionen erkennen zu können. Mit der im Lockdown zwar sinkenden, aber immer noch hohen Zahl von Infektionen im Königreich sollten da irgendwann Ergebnisse kommen. Die zweite Möglichkeit, das zu klären, besteht nach dem Abschluss des US-Teils der Phase III: Dort sollen die Probanden nach Studienende auf Antikörper gegen Bestandteile des SARS-CoV-2-Virus getestet werden, die nicht Teil des Impfstoffs sind – eine Möglichkeit, die ich schon einmal erwähnt hatte. Werden die gefunden, muss der Proband infiziert gewesen sein, ob das Virus dabei nachgewiesen wurde oder nicht. AZ geht das Thema also gleich auf zwei Wegen an, wovon der erste auch richtig Geld kosten dürfte. Die Phase-III-Studie von AZ (genau genommen sind es mehrere Einzelstudien) gefällt mir richtig gut – die bisherigen Ergebnisse sind halt eher dünn, weil noch zwei Drittel der geplanten Probanden (die aus den USA) fehlen.

Was mir hier auch gut gefällt, ist die trickreiche Placebokontrolle: Die Patienten bekamen in Großbritannien und Brasilien nicht einfach eine Salzlösung als Placebo, sondern einen schon zugelassenen Impfstoff gegen die von Zecken übertragenen Meningokokken. Der sollte natürlich gegen SARS-CoV-2 genauso wenig nutzen wie Salzlösung, aber er erzeugt die typischen Nebenwirkungen, die man eben von einem Impfstoff erwartet: Rötung, dicken Arm, Müdigkeit, eventuell etwas Fieber. Die Probanden können also nicht an fehlenden Nebenwirkungen erraten, dass sie zur Placebogruppe gehören, was die Verblindung deutlich verbessert. Falls Impfgegner wieder sagen, das sei kein richtiges Placebo – der US-Teil der Phase III nutzt ein klassisches Salzlösungs-Placebo, wie bei Pfizer und Moderna auch.

Was ist also mein Zwischenfazit? Wenn ich mich auf Basis der heute vorliegenden Informationen entscheiden müsste, ob ich mich impfen lasse, würde ich es mit jedem der drei Impfstoffe sofort tun. Wenn ich mir aussuchen dürfte, mit welchem, würde ich nach heutigem Wissen den von Pfizer nehmen – wegen der vielleicht (vielleicht aber auch nicht) tatsächlich besseren Wirksamkeit, wegen der momentan größeren Datenbasis zur Sicherheit und weil ich RNA-Impfstoffe (die im Körper relativ direkt zur Produktion einzelner Virusproteine führen) inhärent minimal sicherer finde als Vektorvirusimpfstoffe (bei denen diese Proteinproduktion durch ein echtes Virus ausgelöst wird, auch wenn das für Menschen völlig ungefährlich sein sollte).

Einstweilen hoffe ich aber, dass wir bei den aktuellen Wirksamkeitsdaten einen brasilianischen Sondereffekt sehen und sich die Wirksamkeiten zwischen den Impfstoffen noch angleichen – und dass wir nicht am Ende darüber diskutieren müssen, wer den guten RNA-Impfstoff bekommt, während sich die Masse mit einem eventuell etwas weniger wirksamen Volksimpfstoff begnügen muss.

Kurzes Impfstoff-Update: Der zweite Kandidat mit guten Zwischenergebnissen

Zuletzt aktualisiert am 20.11.20

Da die Berichterstattung in den gängigen Medien zu den aktuellen Impfstoffentwicklungen mir in vielen Punkten immer noch nicht so richtig gefällt (manches ist sehr lang und schwer verständlich, manches voller Fehler), fasse ich kurz zusammen, was ich an den heutigen Meldungen für wichtig halte:

  • Mit Moderna hat jetzt ein zweites US-Unternehmen Zwischenergebnisse aus einer Phase-III-Studie zu einem SARS-CoV-2-Impfstoff vorgestellt, und auch die zeigen einen Schutz vor Infektionen von irgendwo oberhalb von 90% (die errechnete Zahl von 94,5% aus ganzen 95 Fällen sagt wenig Genaueres aus). Auch hier gibt es natürlich bislang nur eine Pressemitteilung, keine wissenschaftliche Publikation.
  • Es handelt sich ebenfalls um einen RNA-Impfstoff, also sehr ähnlich zu dem von BioNTech und Pfizer. Der Moderna-Impfstoff soll aber länger bei Kühlschranktemperatur lagerfähig sein, was vor allem für weniger entwickelte Länder wichtig sein könnte, und bei uns später, wenn die Impfungen sich von Impfzentren in Hausarztpraxen verlagern. Impfstoffe bis kurz vor dem Verbrauch in flüssigem Stickstoff zu lagern zu müssen, lässt sich über Pharmagroßhandel und Apotheken nur schwer einrichten. Hier hätten die Vektorvirus-Impfstoffe von AstraZeneca und der russischen Gamaleya Vorteile, wenn sich Sicherheit und Wirksamkeit bestätigen, weil die einfach im Kühlschrank, zum Teil sogar als Pulver, monatelang lagerfähig sind. AstraZeneca hat aber nach ein paar Problemen in den Phase-III-Studien (die sehr wahrscheinlich einfach nur Pech waren) einen gewissen zeitlichen Rückstand in der Erprobung. Update 20.11.20: Eine breite Einsatzfähigkeit des russischen Impfstoffs scheint sogar noch in relativ weiter Ferne zu liegen: Nachdem im August PR-trächtig schon Personen geimpft wurden, die gar keine Studienprobanden waren, reicht die aktuelle Produktion offenbar nicht einmal, um die Teilnehmer der Studie zu impfen. Da hilft dann auch eine Vorveröffentlichung nicht, die eine Wirksamkeit von 92% auf Basis von 20 Infektionen errechnet haben will. Aber im
    merhin, irgendeine Schutzwirkung scheint auch dieser Impfstoff zu haben, und tot umgefallen sind die bislang 16.000 Probanden ganz offensichtlich auch nicht.
  • Es handelt sich um eine 1:1 placebokontrollierte Studie mit bis jetzt rund 30.000 Probanden. Es haben also bislang nur rund 15.000 Probanden tatsächlich den Impfstoff bekommen, gebenüber fast 39.000 bei Pfizer. Da auch die 39.000 für die FDA noch zu wenig waren, um seltene Nebenwirkungen auszuschließen, gehe ich davon aus, dass der Zulassungsantrag von Moderna in den USA deutlich später kommen wird als der von Pfizer.
    Update 20.11.20: Pfizer und Biontech haben inzwischen die Zielwerte für den Zulassungsantrag erreicht. Was mich verwirrt, ist allerdings , dass in der Pressemeldung (passend zu letzten) die Rede davon ist, von 43661 Probanden hätten 41135 „eine zweite Dosis des Impfstoffkandidaten bekommen“. Ich weiß nicht, ob hier die Formulierung falsch ist und die Placeboempfänger mitgezählt wurden, die natürlich keinen Impfstoff bekommen haben, oder ob die Placebogruppe bei den 43661 nicht mitgezählt ist. Die Differenz zwischen den beiden Zahlen scheint mir für eine Placebokontrolle jedenfalls sehr klein, und ich vermute, das sind Probanden, die aufgenommen sind, aber (noch) keine zweite Dosis bekommen haben. Kurz gesagt, das weiß ich nicht; das ist aus den bisherigen Veröffentlichungen nicht klar abzulesen. Anhand von inzwischen 170 Fällen berechnet Pfizer die Wirksamkeit genauer und spricht jetzt (wie Moderna) von „95 Prozent“ anstatt von „über 90 Prozent“. Die Wirksamkeit bei der Teilstichprobe der über 65-Jährigen mit 94 Prozent anzugeben, trägt für mich allerdings das Schild „Scheingenauigkeit“ in großen Lettern vor sich her.
    Noch’n Update vom 20.11.20: Gerade geht über den Ticker, dass Pfizer in den USA jetzt offiziell die Notfallzulassung beantragt hat. Okay, ist eine Formalie, aber trotzdem erwähnenswert.
  • In Europa läuft ein studienbegleitender Rolling Review für die Impfstoffe von Pfizer, Moderna und AstraZeneca. Gerüchteweise wird hier mit der ersten Zulassung im Januar gerechnet.
  • Moderna hat gezielt versucht, Risikogruppen als Probanden zu rekrutieren, allerdings niemanden unter 18. Der Impfstoff dürfte also ebenfalls zunächst nur für Erwachsene zugelassen werden. Pfizer testet außerhalb Europas auch an Jugendlichen ab 12 Jahren, hat aber noch keine Ergebnisse dazu vorgelegt.
  • Da die gemeldete Zahl von 94,5% sich laut Pressemitteilung ausdrücklich auf „confirmed cases“, also Infektionen, bezieht und nicht auf Erkrankungen, wie einige deutsche Medien gemeldet haben, erübrigt sich auch die hier zum Teil geführte Diskussion, ob der Impfstoff auch vor weiteren Ansteckungen schützt. Wer sich nicht infiziert, wird sehr wahrscheinlich niemanden anstecken.
    Korrektur 17.11.20: „Confirmed cases“ sind natürlich nur die erkannten Infektionen. Zumindest in der Moderna-Studie werden die Probanden nicht wöchentlich per Abstrich auf Viren getestet, sondern die Überwachung läuft vor allem durch elektronische Symptomtagebücher, regelmäßige Anrufe und nur drei Termine im Studienzentrum über ein Jahr. Die Diagnose läuft dann wie bei jedem anderen auch über einen lokalen Arzt oder ein Covid-Testzentrum. Theoretisch könnte so ein Impfstoff also die confirmed cases auch reduzieren, indem er nicht die Infektion verhindert, sondern nur die Symptome so vollständig unterdrückt, dass sich die geimpften Probanden nie testen lassen. Praktisch kann das in einem modernen Gesundheitssystem aber unmöglich ausreichen, um zu einer Reduzierung der Fälle um 90 oder 95 Prozent zu führen. Infektionen werden ja auch ohne Symptome durch Kontaktverfolgung wenigstens im Familienkreis oder Screeningtests von z.B. Reiserückkehrern entdeckt. Da ein solcher Impfstoff (anders als z.B. ein Totimpfstoff) nur Antikörper gegen einzelne Virusbestandteile verursacht, könnte man solche unerkannten Infektionen auch beim Abschluss der Studie noch nachweisen, indem man auf Antikörper gegen andere Teile des Virus testet, die nicht vom Impfstoff verursacht sein können. Realistisch muss man aufgrund der Daten jedenfalls davon ausgehen, dass die Wirkung des Impfstoffs zumindest zum allergrößten Teil darin besteht, dass tatsächlich Infektionen (und damit dann auch Ansteckungen) verhindert werden, und nicht nur der Ausbruch der Krankheit.
  • Nicht minder sinnlos ist allerdings die Diskussion in der Moderna-Pressemeldung selbst, ob der Impfstoff bei den Wenigen, die sich dennoch infizieren, schwere Verläufe verhindern kann. Der Vergleich von 0 schweren Verläufe unter 5 geimpften Infizierten mit 11 schweren Verläufen unter 90 nicht geimpften Infizierten sagt schlicht gar nichts aus. Es gibt aber finde ich Schlimmeres, als nichts über den Einfluss des Impfstoffs auf schwere Verläufe unter den dennoch Infizierten sagen zu können, weil der Impfstoff so gut ist, dass es kaum Geimpfte gibt, die sich überhaupt infizieren.
  • Moderna ist ein kleines, spezialisiertes Unternehmen, hat aber durch Kooperationen schon im Sommer viel mehr Produktionskapazität (1 Milliarde Impfdosen ausreichend für 500 Millionen Patienten) gemeldet als der Riese Pfizer. Daran ändert auch die neu zugekaufte eigene Kapazität des Pfizer-Partners BioNTech in Marburg wenig. Modernas Kapazitätsvorteil könnte vor allem für Menschen außerhalb der Hauptmärkte USA/EU/Japan wichtig sein. Ich weiß aber nicht, inwieweit diese Produktionspartner bereit sind, vor einer Zulassung schon vorzuproduzieren. Es kann also sein, dass diese Produktion so richtig erst im Frühjahr anläuft. Auffällig ist auch, dass Modernas Lieferant Catalent Produktionsverträge für mehrere konkurrierende Impfstoffentwicklungen hat – die werden vermutlich zumindest zum Teil alternativ eingeplant sein und nicht gleichzeitig. Da die chinesische Sinovac (die mit ihrem altmodischeren Totimpfstoff vor allem Länder außerhalb der Hauptmärkte auf dem Schirm haben dürfte) auch Verzögerungen in den Studien hat, könnte es also tatsächlich sein, dass die USA mit Vorteilen aus dem Rennen um Impfstoffdosen kommt. Update 20.11.20: Der Leser RPGN01 hat freundlicherweise in den Kommentaren darauf hingewiesen, dass die Unterbrechung bei Sinovac wohl nur extrem kurz war, nachdem sich die Todesursache als Suizid herausgestellt hatte.
  • Die EU verhandelt schon seit einigen Wochen mit Moderna, aktuell wohl über 160 Millionen Dosen in 2021, hat aber noch keinen festen Liefervertrag. Für die EU hängt damit immer noch viel an der Zulassung des Vektorvirusimpfstoffs von AstraZeneca oder alternativ wenigstens des Wettbewerbers Janssen. Ohne deren einfache Lagerfähigkeit, riesiges Produktionsnetzwerk und feste Lieferverträge kann 2021 noch ein langes Jahr werden…
  • Update 20.11.20: Inzwischen hat auch AstraZeneca neue Ergebnisse vorgestellt – die sind aber nicht wie bei den anderen Herstellern Vorabdaten der Phase III, sondern fassen die Ergebnisse der Phase II zusammen. Sie stammen nur von 560 Patienten und können daher nur Angaben zur Immunreaktion und zu häufigeren Nebenwirkungen umfassen, nicht zur tatsächlichen Wirksamkeit und seltenen Nebenwirkungen. Beim aktuellen Stand der Entwicklung ist das zwar solide und wichtig, aber irgendwie nicht so richtig sexy. Dass das gerade jetzt kommt, ist auch keine Reaktion auf die Konkurrenz nach dem Motto „Wir haben auch was“ – die Veröffentlichung ist eben jetzt im angesehenen Magazin „Lancet“ erschienen und somit keine Vorabmeldung, sondern tatsächlich eine wissenschaftliche Publikation. Dass die Entwickler des Impfstoffs an der Oxford University von Weihnachten als Termin der ersten Phase-III-Daten sprechen, deutet allerdings doch einen inzwischen deutlichen Rückstand an.

Warum (und wie) sich Naturwissenschaftler zu medizinischen Themen äußern sollten

Da ich in den Kommentaren hier immer wieder gesagt bekomme, als Physiker könne oder dürfe ich mich doch nicht kompetent zu gesundheitlichen Themen äußern, wollte ich dazu gerne etwas schreiben. Jetzt habe ich aber festgestellt, besser als Florian Aigner das gerade auf Facebook getan hat, kann man (oder jedenfalls ich) das einfach nicht ausdrücken. Daher freut es mich, dass ich seinen Text hier einfach übernehmen darf. Dank und Zustimmung möge also bitte direkt an Florian gehen – für Kritik und Diskussionsbedarf bin ich auch offen, da ich das ja exakt genauso sehe.

„Warum äußerst du dich als Physiker zu medizinischen Themen wie COVID-19? Das ist doch nicht dein Gebiet!“ Das höre ich jetzt wieder besonders häufig, oft gewürzt mit üblen Beschimpfungen. Gut, ich erkläre es gerne noch einmal.
Zuallererst: Jeder darf sich immer zu allem äußern. In einer Demokratie ist es Unsinn, jemanden dafür zu kritisieren, dass er sich zu einem bestimmten Thema äußert. Kritisieren soll man ihn, wenn er zu ein Thema Unsinn erzählt. Aber wahr ist natürlich: Nur weil man das Recht hat, seine Meinung zu verbreiten, heißt das noch lange nicht, dass es eine gute Idee ist. Manchmal ist es klüger, sich nicht zu äußern, und stattdessen lieber anderen Leuten zuzuhören, die es besser wissen. Ich als Physiker ärgere mich auch manchmal, wenn Leute über Physik reden, die keine Ahnung haben. Die erzählen dann, sie hätten Einstein widerlegt oder den Energieerhaltungssatz überlistet, verstehen aber nicht einmal die einfachsten Grundlagen.
Aber genau das mache ich nicht: Ich verbreite keine eigenen Theorien über medizinische Fragen. Ich habe nämlich keine. Ich bin fachlich nicht in der Lage, die Thesen der Experten zu überprüfen oder zu widerlegen, daher käme ich auch nicht auf die Idee, das zu versuchen. Vielleicht kann ich mir als Physiker ein paar ganz einfache mathematisch-statistische Zusammenhänge ansehen – aber auch hier gibt es Leute, die das besser, detaillierter und mit mehr Hintergrundwissen machen. Ich würde mir bei solchen Dingen niemals anmaßen, ein Experte zu sein.
Zwei Dinge gibt es in dem Zusammenhang allerdings schon, bei denen ich behaupten kann, ziemlich viel Erfahrung zu haben. Erstens: Nach langer naturwissenschaftlicher Ausbildung kann ich (zumindest in gewissem Rahmen) nachvollziehen, ob jemand naturwissenschaftlich arbeitet. Ich kann zwar keine Detailfehler in medizinischen Arbeiten finden, aber ich kann in vielen Fällen zumindest haarsträubenden Unsinn als solchen erkennen. Esoteriker von Wissenschaftlern zu unterscheiden – das gelingt meist recht einfach. Und zweitens: Nach fast 15 Jahren Wissenschaftsjournalismus glaube ich, komplizierte Dinge einigermaßen verständlich erklären zu können. Wenn es darum geht, medizinische Thesen aufzustellen, bin ich sicher kein Experte. Wenn es darum geht, aufgestellte Thesen zu erklären, dann schon ein bisschen.
Manchmal führt das zu seltsamen Situationen: Es gibt manchmal ganz spezielle Ärzte, die furchtbaren unwissenschaftlichen Unsinn erzählen. Wenn ich ihnen dann widerspreche, hat das keine gute Optik: Er ist doch ein Arzt, ich „nur“ Physiker. Da muss bei medizinischen Fragen doch der Arzt recht haben, oder? Nein – nicht wenn der Physiker sich zum Anwalt der naturwissenschaftlichen Medizin macht und die Meinung der besseren, naturwissenschaftlichen Ärzteschaft vertritt, während der verhaltensauffällige Arzt (peinlicherweise) jedes wissenschaftliche Denken verlassen hat. Auch dem Automechaniker würde ich beim Autoreparieren widersprechen, wenn er das Auto gesundbeten möchte – obwohl ich ziemlich wenig Ahnung von Autos habe.
Darum geht der Vorwurf „bleib bei deinem Fachgebiet“ ins Leere. Es stimmt: Wenn jemand kein Experte ist, sich aber gegen die Meinung der Experten stellt, dann sollte man vorsichtig sein. Ihm sollte man wirklich nur dann glauben, wenn er außergewöhnlich gute Argumente hat. Aber jemanden, der die Meinung der Experten wiedergibt, dafür zu kritisieren, selbst kein Experte zu sein, ist Unsinn. Nach diese Logik dürfte es keinerlei Journalismus geben, sondern nur noch Fachpublikationen. Das will wohl niemand.
Also: Sollte ich eines Tages verrückt werden, die etablierte Medizin attackieren und stattdessen mein eigenes Wunderheilmittel verkaufen, dann sollte man mich bitte mit aller Härte kritisieren. Solange ich aber nur versuche, zwischen Wissenschaft und verständlicherer Sprache zu übersetzen, sollte man mich kritisieren, wenn ich dabei Fehler mache – aber nicht dafür, dass ich es versuche.
Bei der Gelegenheit möchte ich es mir natürlich nicht nehmen lassen, auch auf Florians neues Buch aufmerksam zu machen. Darin erklärt er genau das, woran es bei vielen der Mediziner, die wir kritisieren, genau mangelt: Die Frage, wie eigentlich Wissenschaft funktioniert und was wissenschaftliches Arbeiten ist. Und Florian schreibt auch sonst sehr viel Lesenswertes.

Erster Wirksamkeitsnachweis bei einem SARS-CoV-2-Impfstoff – was heißt das?

Es ist heute sicher die Nachricht des Tages: Der deutsche Impfstoffentwickler BioNTech und der Pharmakonzern Pfizer haben bekanntgegeben, dass sie die Wirksamkeit und Sicherheit ihres SARS-CoV-2-Impfstoffkandidaten BNT162b2 nachweisen konnten.

Das bedeutet nicht, dass die Pandemie vorbei ist. Es bedeutet nicht, dass der Winter nicht noch richtig schlimm werden kann – und in vielen Ländern sogar ziemlich sicher, in Deutschland vielleicht auch, richtig schlimm werden wird. Es heißt nicht, dass wir die derzeitigen Kontaktbeschränkungen wieder aufheben können – und ich habe nach wie vor große Bedenken, ob wir sie vor Ostern wieder aufheben können, wenn wir sie nicht erst mal deutlich verschärfen.

Trotzdem ist es eine gute Nachricht, nicht nur wegen dieses Impfstoffs, sondern weil es auch ein gutes Zeichen für die Wirksamkeit weiterer moderner Impfstoffentwicklungen ist, die zwar in unterschiedlicher Weise auf das Immunsystem wirken, aber überwiegend eine ähnliche Reaktion gegen das Virus auslösen. Was ist aber nun tatsächlich über die neuen Ergebnisse bekannt? Die Berichte in den Medien beziehen sich auf eine Pressemeldung von Pfizer und BioNTech, die den Erfolg meldet. Was außerdem über die Studie bekannt ist, ist die Vorregistrierung bei der National Library of Medicine. Also, werfen wir mal einen Blick in beides.

Die Meldung bezieht sich auf einen Zwischenbericht zur Phase-III-Studie des Impfstoffs, der von einer unabhängigen Expertengruppe erstellt wurde, nachdem in der Studienpopulation (Geimpfte plus Placebogruppe) mindestens 62, tatsächlich waren es 94, nachgewiesene Infektionen mit SARS-CoV-2 aufgetreten waren. Der Impfstoff soll danach einen 90-prozentigen Schutz vor Infektion geboten haben. In Presseartikeln war von rund 40.000 Probanden die Rede, und naiv könnte man von 20.000 Geimpften und 20.000 Placeboprobanden ausgehen und daraus die Verteilung der Fälle hochrechnen wollen. So einfach ist es aber nicht, denn die Gruppen waren nicht annähernd gleich groß. Der Grund ist erstens, dass unterschiedliche Dosierungen des Impfstoffs getestet wurden,  zweitens dass man die Placebogruppe nur für den Nachweis der Wirksamkeit braucht, nicht für die Suche nach Nebenwirkungen. Nach der Pressemeldung haben 38.955 von 43.538 Probanden den Impfstoff erhalten. Da der Impfstoff keinen Wirkverstärker enthält (es handelt sich um einen der von Clemens Arvay und anderen Verschwörungsideologen gerne verteufelten RNA-Impfstoffe), hat die Placebogruppe auch eine einfache Placeboimpfung mit Kochsalzlösung bekommen, keinen Impfstoff gegen etwas anderes, wie das sonst zum Teil nötig ist. Das Gefasel von Impfgegnern, es gäbe ja kein echtes Placebo, trifft hier also nicht zu (nicht dass es sonst irgendeinen Sinn ergäbe).

Statistisch war die Infektionsrate unter den Geimpften (nicht angegeben ist, ab welcher Dosierung das der Fall war) laut Pressemeldung um 90 Prozent niedriger als in der Placebogruppe, und das ist eine großartige Nachricht. Erstens wurde im Sommer noch darüber diskutiert, dass ein Impfstoff eventuell nur 50 Prozent Schutz bieten und dennoch zugelassen werden könnte. Man hätte sich auch schon über einen Impfstoff gefreut, der Infektionen nicht verhindert, sondern nur schwere Verläufe vermieden hätte. Damit hätte man zwar die Ausbreitung der Pandemie nicht stoppen können, aber wenigstens die Risikogruppen geschützt. Bei 90 Prozent Infektionsschutz genügen rechnerisch 70 bis 75 Prozent Impfquote für eine wirksame Herdenimmunität, und die sollten wir eigentlich gut erreichen können, wenn wir die Zustimmung zu den bisherigen Seuchenschutzmaßnahmen und den aktuellen Run auf Grippeimpfstoff (es tut mir schon fast leid, dass welcher für mich verbraucht wurde) betrachten. Was wir noch nicht wissen (und auch noch eine Zeit lang nicht wissen werden) ist, wie lange die Schutzwirkung anhält.

Die Sicherheit des Impfstoffs sieht auch extrem gut aus. Unter den 38.955 Geimpften wurde kein Fall schwerer Nebenwirkungen berichtet. Um das mal in Perspektive zu rücken: Wenn es nie einen Impfstoff gegeben hätte, hätten sich rein statistisch früher oder später rund 30.000 von diesen Personen infiziert, und 200 bis 300 davon wären daran gestorben (außer die Therapie hätte bis dahin erhebliche Fortschritte gemacht).

Die US-Zulassungsbehörde FDA hat aber eine Untergrenze von Probanden für den Sicherheitsnachweis genannt, die noch etwas höher liegt. Die soll in der dritten Novemberwoche erreicht und dann sofort die Zulassung beantragt werden. Da Pfizer schon im September erklärt hat, mit der Produktion anzufangen, sollte bei erteilter Zulassung sehr schnell Impfstoff ausgeliefert werden – geplant sind 50 Millionen Dosen (für 25 Millionen Patienten) noch in diesem Jahr. Ein Wermutstropfen aus deutscher Sicht: In der Meldung ist nur von einem Zulassungsantrag bei der FDA die Rede; die europäische Zulassungsbehörde EMA wird nicht erwähnt. Die FDA ist für Pfizer aber auch wichtiger, denn für die USA gibt es schon seit Sommer Verträge über die Lieferung dieser 50 Millionen Dosen (vorbehaltlich Zulassung) noch in diesem Jahr. Die 200 Millionen Dosen, die der EU zugesagt sind, sollen ohnehin erst 2021 kommen, und unnötig Zeit verschenken werden die Hersteller bei der europäischen Zulassung auch nicht. Dass die Produktionskapazität bei Pfizer/BioNTech nicht riesig ist, hatten die Beraterkollegen von McKinsey schon im Juli berichtet, und der Kauf der Marburger Produktion von Novartis durch BioNTech hat das nur ein Stück weit verändert.

Der wichtigere Impfstoff für Europa (und für viele andere Länder) ist der ursprünglich an der Universität Oxford entwickelte Kandidat von AstraZeneca (AZ). Im Vertrauen darauf, den aussichtsreichsten Kandidaten im Rennen zu haben, hat AZ schon früh angefangen, weltweit riesige Kapazitäten von anderen Herstellern vertraglich zu binden und 300 bis 400 Millionen Dosen für 2020 und 2021 daraus der EU zugesagt. Eine Zulassung hatte AZ schon für den Oktober angestrebt, aber im Sommer trat bei einer Probandin in Großbritannien nach der Impfung eine Erkrankung des Nervensystems auf. „Nach der Impfung“ heißt aber bei einer so großen Probandenzahl nicht „wegen der Impfung“ – Menschen erkranken immer mal, und man muss im Einzelfall prüfen, ob ein Zusammenhang mit der Impfung bestätigt werden kann. In Brasilien ist ein 28jähriger Studienteilnehmer (ebenfalls von AZ) nach der Impfung an Covid-19 erkrankt und gestorben. Es stellte sich aber heraus, dass er zur Placebogruppe gehört hatte, sein Tod mit dem Impfstoff also ganz offensichtlich nichts zu tun haben konnte. Die Erkrankung der Probandin in Großbritannien wurde als schon vor der Impfung bestehende, aber nicht erkannte Multiple Sklerose diagnostiziert. In Großbritannien und Brasilien wurde die Studie daraufhin schnell fortgesetzt, aber in den USA führte der Fall zu einer Unterbrechung der Studie über sieben Wochen – und die USA sind wegen ihrer vielen Infizierten ein wichtiges Testland für diese Studien. In Großbritannien waren die Infiziertenzahlen über den Sommer ja fast so niedrig wie in Deutschland, was es sehr schwer macht, die Schutzwirkung eines Impfstoffs nachzuweisen. Der AZ-Impfstoff wird auch vermutlich in Europa zuerst zugelassen werden, denn für diesen läuft bei der EMA ein sogenannter Rolling Review: Informationen zur Produktion und Zwischenergebnisse aus der Studie werden an die Behörde weitergegeben, sobald sie dem Unternehmen vorliegen, und nicht erst wenn der Zulassungsantrag komplett ist. Das würde man auch nicht machen, wenn die Zwischenstände nicht alle ermutigend aussähen. Schauen wir mal, was da in den nächsten Wochen kommt.

Das sind auch nicht die einzigen Kandidaten. Bei der WHO sind inzwischen 10 Impfstoffe in der klinischen Phase III gemeldet, darunter mit Janssen ein weiterer Hersteller, der bereits Vorverträge mit der EU abgeschlossen hat. Moderna, ebenfalls aussichtsreich, hat auch schon Sondierungen mit der EU geführt. Zu den 10 gehört auch der russische Impfstoff von Gamaleya, über den immer wieder widersprüchliche Berichte kursieren, ob er nun trotz noch fehlenden Wirksamkeits- und Sicherheitsnachweises schon für größere Patientengruppen angewendet wird oder nicht. Außerdem gehören zu den Top 10 das kleine US-Unternehmen Novavax, das einen guten Teil seiner Produktionskapazität vom tschechischen Partner Praha Vaccines bekommt, sowie insgesamt fünf chinesische Projekte, von denen wir auf dem europäischen Markt voraussichtlich wenig sehen werden, die aber, falls erfolgreich, für die Versorgung vor allem von Schwellen- und Entwicklungsländern wichtig werden könnten, weil drei davon ganz klassische Totimpfstoffe sind, die auch von weniger modernen Herstellern in Lizenz produziert werden könnten. Update 10.11.20: Die Erprobung eines solchen Totimpfstoffs der chinesischen Firma Sinovac in Brasilien ist nach einem nicht näher bezeichneten Problem bei einem Probanden gestern unterbrochen worden. Wie schon erwähnt, sind solche Unterbrechungen bei Arzneimittelerprobungen zum Schutz anderer Probanden völlig normal, aber sie führen natürlich zu Verzögerungen, die sich auch auf den Zulassungstermin auswirken. Mit dem Impfstoff laufen derzeit drei Studien mit zusammen 27.700 Probanden in Brasilien, Indonesien und der Türkei. Eine Erprobung in China ist wegen der erfolgreichen Kontrolle der Pandemie durch Regierungsmaßnahmen dort nicht sinnvoll.

Inzwischen bin ich gefragt worden, ob nicht ein anderer Hersteller den Pfizer/BioNTech-Impfstoff nachbauen und durch „Rechtsbruch und Piraterie“ Menschenleben retten könnte. Die Frage geht aber am eigentlichen Problem vorbei. Wenn ein Hersteller heute freie Kapazitäten für die Herstellung eines RNA-Impfstoffs anzubieten hätte, könnte man sich mit Pfizer, BioNTech und den potentiellen Abnehmerländern sicher schnell über Kooperationen, Auftragsfertigungen oder Lizenzverträge einigen. Anders ist AZ auch nicht innerhalb weniger Monate auf fast die zehnfache weltweite Impfstoffproduktionskapazität (2,7 Milliarden Dosen bis Ende 2021) wie Pfizer gekommen, obwohl das Unternehmen nur halb so groß ist. Wer solche Kapazitäten hat, hat aber entweder einen eigenen Impfstoffkandidaten in der Entwicklung oder in der Regel schon einen Vertrag für den Kandidaten eines anderen Herstellers. Wer sich auf die Produktion des Vektorvirusimpfstoffs von AZ oder der Proteinimpfstoffe von Sanofi oder GlaxoSmithKline eingestellt hatte, kann auch nicht von heute auf morgen den RNA-Impfstoff von Pfizer herstellen. Dazu sind die Impfstoffe zu unterschiedlich. Den Rückstand, dass Pfizer und AZ schon vorproduziert haben, kann sowieso keiner aufholen. Wir werden aber sicherlich sehen, dass sich Kapazitäten neu verteilen, wenn die ersten fortgeschrittenen Entwicklungen aus dem Rennen aussteigen. Ein Kandidat könnte zum Beispiel mit MSD einer der weltweit führenden Impfstoffhersteller sein, der schon im Juli betont hat, dass Produktion und Vertrieb ja ein großes Problem für alle neuen Impfstoffe sein könnten. MSD hat zufällig eine riesige Produktion nebst entsprechendem Vertrieb und ist mit seinen eigenen Projekten noch in der ersten klinischen Phase…

So oder so bin mir inzwischen sehr sicher, meine Wette zu gewinnen, dass wir im ersten Quartal in Deutschland medizinisches Personal und Risikogruppen impfen werden. Und da ich selbst höchstens gelegentlich mal ein halbes Glas trinke, werde ich wohl nach dem Ende der Kontaktbeschränkungen ein paar Freunde des badischen Weins zu mir einladen können.

 

Die Sache mit der Sterblichkeit…

Das ist jetzt schon der zweite Artikel hier in relativ kurzer Zeit, den ich nie schreiben wollte. Warum sollte ich als Physiker auch einen Artikel über die Infektionssterblichkeit bei Covid-19 schreiben? Ich bin ja kein Epidemiologe. Das muss man allerdings auch nicht, um den publizierten Stand der Wissenschaft zusammenzufassen – und genau daran fehlt es in Deutschland leider momentan, obwohl das am Tag 2 unseres „Lockdown Light“ eigentlich eine wichtige Hintergrundinformation wäre.

Das Spannendste und Solideste, was es aktuell zu dem Thema zu sagen gibt, ist gestern in einer Metastudie in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift zum Thema erschienen, nämlich in Nature. Sucht man aber in Google nach dem Namen der Hauptautorin in Verbindung mit dem deutschen Begriff „Sterblichkeit“, dann findet man in den gängigen Medien, Stand heute – nichts. Dieses wichtige Ergebnis ist an den deutschen Medien wenigstens am Tag 1 komplett vorbeigegangen.

Ganz anders sah das vor einer Woche noch mit einem schlampigen Sammelsurium des wissenschaftlichen Außenseiters John Ioannidis aus. Das wurde nicht nur völlig unkritisch bei Heise abgefeiert, sondern auch in der Berliner Zeitung, und der Merkur verkaufte das Traktat sogar als „Corona-Studie der WHO“. Der Hintergrund der bizarren Fehleinordnung ist, dass Ioannidis‘ Text im WHO-Bulletin erschienen ist, einer wissenschaftlich vergleichsweise unbedeutenden Zeitschrift, die, von der WHO finanziert, vor allem dafür da ist, billige Veröffentlichungsmöglichkeiten für Studien aus Entwicklungsländern zu schaffen. Bekannt  geworden ist Ioannidis 2005 mit der steilen These, die meisten veröffentlichten wissenschaftlichen Ergebnisse aus der Medizin seien falsch. In 2020 hat er aber schon seit dem Frühjahr eine verharmlosende Arbeit über Covid-19 nach der anderen herausgehauen, wobei dem ehemals selbsternannten Wächter über die Sauberkeit der medizinischen Wissenschaft offensichtlich jedes Mittel recht ist, um zum gewünschten Ergebnis zu kommen. Ganz bezeichnend: Während er zu anderen Themen als Methodenspezialist gerne in eine lange Autorenliste mitgenommen wird, publiziert er seine Traktate zu Covid-19 in der Regel allein – offenbar zögern die Kollegen, ihren guten Namen dafür herzugeben.

Zunächst mal, worum geht es? Die Infektionssterblichkeit ist der Anteil der insgesamt Infizierten, der stirbt. Sie ist deutlich schwieriger herauszubekommen als die im Frühjahr viel diskutierte Fallsterblichkeit, also der Anteil der erfassten Infizierten, der stirbt. Der lag in Deutschland und vielen anderen Ländern zeitweise um 5 Prozent, als man nur einen kleinen Teil der Infizierten überhaupt diagnostiziert hat – aber das ist natürlich wenig aussagekräftig. Sucharit Bhakdi behauptet gerne, die Infektionssterblichkeit läge bei Covid-19 bei 0,1 bis 0,2 Prozent und sei damit nicht höher als bei einer Grippe. Dass Ioannidis‘ gerne in den Medien verbreiteter Medianwert von 0,23% nicht weit darüber liegt, verleiht Bhakdi natürlich scheinbare Glaubwürdigkeit.

Mit dem Bestimmen der Infektionssterblichkeit gibt es zwei Probleme:

Erstens muss man dazu die Dunkelziffer der Diagnosen erfassen, was in der Regel dadurch erfolgt, dass man rückwirkend möglichst halbwegs repräsentative Stichproben auf SARS-CoV-2-Antikörper von schon vergangenen Infektionen testet. Dabei handelt man sich leicht allerlei Verzerrungen ein, weil man in einem freien Land ja schlecht eine zufällig ausgewählte Stichprobe zwangstesten kann. Wer einem Test zustimmt, tut das in der Regel eher, wenn er den Verdacht hat, infiziert gewesen zu sein – das ist aber nicht der einzige störende Einfluss und nicht der einzige Grund, warum es eine solche repräsentative Studie für ganz Deutschland noch nicht gibt. Eine aktuelle Antikörperstudie in Bayern zeigt immerhin schon mal, dass wir die Zahl infizierter Kinder und Jugendlicher (und damit die Rolle von Kindergärten und Schulen für die Ausbreitung von Covid-19) bislang massiv unterschätzt haben – was nichts gutes für einen Lockdown erwarten lässt, der ausgerechnet diese Einrichtungen ausklammert.

Zweitens ist die Sterblichkeit extrem altersabhängig, und da gerade kleinere Ausbrüche Altersgruppen teilweise sehr unterschiedlich betreffen, ist auch da die Gefahr groß, ein falsches Bild zu bekommen. Das schränkt auch die Aussagekraft von Studien in einzelnen Dörfern, wie der sogenannten Heinsberg-Studie, die nicht in Heinsberg, sondern in Gangelt stattgefunden hat, oder von der aus Ischgl, seeeeehr ein.

Was noch hinzukommt: Die Zahl der Todesfälle, bei denen Covid-19 diagnostiziert wurde, ist nur ein Teil der Wahrheit. Das Gerede, ob jemand „an Corona oder nur mit Corona“ gestorben wäre, ist ja hinlänglich bekannt. Die entscheidende Frage ist aber, wie viele Menschen sterben wegen eines Covid-19-Ausbruchs, und das sind nicht etwa weniger, sondern erheblich mehr als diagnostiziert werden. Ein Beispiel zeigt die Sterbestatistik über die letzten sechs Frühjahre in Italien:

Die Sterbezahlen sind aus den stärker betroffenen Regionen in Italien [nachträgliche Korrektur]. Je nachdem wie man den Abstand zum langjährigen Mittel berechnet, kommt man allein für diese Regionen im März 2020 auf 15.000 bis 20.000 Tote mehr als in diesem Monat im Durchschnitt der Vorjahre. Gleichzeitig wurden in ganz Italien nur rund 12.000 Todesfälle durch Covid-19 gemeldet. Das dürfte einerseits daher kommen, dass in einer Situation wie in Bergamo Behandlungen für andere Krankheiten zum Teil unterbleiben oder Leute sich schlicht nicht in die Krankenhäuser trauen, andererseits daran, dass alte Menschen, die zu Hause an Covid-19 sterben, unter Umständen nie getestet werden, wenn der Arzt eben Herzversagen in den Totenschein schreibt. Das ist ein Einzelbeispiel; die tatsächlichen Todeszahlen sind aber bei allen größeren Ausbrüchen deutlich höher als die erfassten. Das zeigt eine Vielzahl von Studien für eine Vielzahl von Ländern. Dieser Anstieg der Sterbezahlen ist auch nicht einfach nur, wie gerne behauptet, eine Folge des Lockdowns, denn in Ländern wie Deutschland oder Neuseeland, die im Frühjahr einen großen Ausbruch erfolgreich verhindert haben, hat der Lockdown allein nicht zu einer Übersterblichkeit geführt. Eine Studie, die auch die Veränderungen bei einzelnen Todesursachen nachverfolgt hat, zeigt sogar, dass in Südafrika der Lockdown auch die dort sehr relevanten Todesursachen Verkehrsunfälle und Tötungsdelikte spürbar gesenkt hat. Dennoch kam es in der Folge mit dem Anstieg der Covid-Erkrankungen zu einer deutlichen Übersterblichkeit.

Man muss sich also darüber im Klaren sein, dass die Infektionssterblichkeit zu Covid-19 die Anzahl der tatsächlichen Todesfälle deutlich zu niedrig angibt. Das ist anders als bei der Grippe, wo die Sterblichkeitszahlen von vornherein nicht aus Diagnosen, sondern aus der Übersterblichkeit in der Grippesaison abgeleitet werden.

Wie hoch ist aber nun die Infektionssterblichkeit, mit der man bei einer breiten Durchseuchung der deutschen Bevölkerung rechnen müsste? Die eingangs erwähnte Publikation in Nature von O’Driscoll et. al. wertet dazu aus 22 jeweils landesweiten Erfassungen von großen Probandenzahlen die Zahl der Verstorbenen im Vergleich zur Zahl der (nach Antikörperstudien) infiziert Gewesenen aus – und zwar nach Altersgruppen aufgeteilt. So ergibt sich ein ziemlich dramatischer Zusammenhang von Alter und Sterblichkeit (man beachte die logarithmische Skala):

Es sterben insgesamt etwas mehr Männer als Frauen, aber ganz grob liegt die Sterblichkeit bei 0,01% für Mittzwanziger, 0,1% für Mittvierziger, 1% für Mittsechziger und 10% für über 80Jährige. Diese Altersabhängigkeit allein erklärt nach der Analyse den größten Teil der Unterschiede in der Sterblichkeit zwischen unterschiedlichen Ländern und unterschiedlichen regionalen Ausbrüchen. Wendet man das auf die Altersstruktur der deutschen Bevölkerung an (auch das steht schon in der Studie), dann kommt man auf eine durchschnittliche Sterblichkeit von 0,9%. Anders gesagt, wenn man die Epidemie durch die deutsche Bevölkerung laufen ließe, bis sie durch Herdenimmunität allmählich an Bedeutung verliert, dann würden dadurch voraussichtlich rund 600.000 Menschen sterben – vorausgesetzt, wir können das durch regelmäßige Lockdowns so in die Länge ziehen (über ungefähr drei bis fünf Jahre), dass unsere Krankenhäuser dabei nicht überlastet werden (sonst würde die Übersterblichkeit wie in Italien diese Zahlen noch weit übersteigen). Ersparen können uns das nur gute Impfstoffe, die wir hoffentlich bald haben.

Wie stark die Sterblichkeit von Ausbrüchen in Pflegeheimen und ähnlichen Einrichtungen abhängt, zeigt die Studie auch: Bei der ersten Welle in Frankreich lag die Infektionssterblichkeit bei 1,1%. Hätte man alle Ausbrüche in Pflegeheimen verhindern können, dann hätte sie nur 0,74% betragen – was immer noch viel mehr ist als Bhakdis und Ionannidis‘ abenteuerliche Behauptungen.  Das macht die Forderung der Lobbyisten von der „Great Barrington Declaration“ und dem Streeck-KBV-Papier nach einem gezielten Schutz nur für die Risikogruppen und „Freiheit zum Anstecken“ für alle Anderen aber nicht realistischer: Die wenigen Länder, die das wie Großbritannien oder Schweden ernsthaft versucht haben, sind damit krachend gescheitert.

Die Erkenntnisse der Studie von O’Driscoll et. al. sind auch nicht vom Himmel gefallen. Viele der Einzelstudien, auf denen die Metaanalyse beruht, sind schon seit Monaten veröffentlicht, und die Ergebnisse wurden in der seriösen Wissenschaft auch schon länger mit genau diesen Schlussfolgerungen (nur bislang nicht mit dieser statistischen Stringenz) diskutiert. Die Studie zeigt auch eine gute Übereinstimmung mit einer früheren Metaanalyse von Levin et. al.. Sie widerspricht auch nicht einer australischen Metaanalyse von Meyerowitz-Katz und Merone, die im Durchschnitt vieler Länder und ohne explizite Modellierung der Altersabhängigkeit auf eine Infektionssterblichkeit nahe 0,7% kommt. Deutschland hat eben eine relativ alte Bevölkerung.

Ich würde mich freuen, wenn das mit der relativ alten Bevölkerung noch eine Weile so bleibt – oder sich zumindest nicht dadurch ändert, dass wir uns aufgrund von Desinformationskampagnen und Verschwörungsglauben ein Massensterben älterer Mitmenschen einhandeln.

Sucharit Bhakdi ist für Covid-19 nicht bloß kein Experte – es ist viel schlimmer

Eigentlich wollte ich zu Sucharit Bhakdi hier nichts schreiben. Anders als der kleinere Pseudoexperte der Schwurbelszene, Clemens Arvay, zu dem sich bis zu meinem Artikel hier so gut wie niemand von wissenschaftlich-kritischer Seite geäußert hatte (was sich inzwischen zum Glück ändert und sogar ein Stück weit auf Wikipedia niedergeschlagen hat), hat Bhakdi ja durchaus kritische Aufmerksamkeit bekommen. Anders gesagt, seine wirren Thesen zu Covid-19 sind schon seit März wieder und wieder und wieder und wieder auseinandergenommen worden. Eigentlich muss jetzt nicht noch ein unbedeutender Physikblogger über Bhakdi schreiben.

Dass ich es jetzt doch tue, hat zwei Gründe: Erstens geht es mir mal ganz grundsätzlich um die Frage, was jemanden eigentlich zum Experten macht, und zweitens bin ich einfach wütend. Ich bin wütend, weil Sucharit Bhakdi jetzt schon seit sechs Monaten wieder und wieder und wieder nachgewiesen wurde, dass er über Covid-19 einfach Blödsinn erzählt, aber etablierte Medien ihm wieder und wieder und wieder Sendezeit und Druckspalten einräumen und so den Eindruck erwecken, er sei für dieses Thema ein Experte mit einer abweichenden Meinung. Ganz aktuell tut das, leider nicht zum ersten Mal, die Fuldaer Zeitung – aber sie verweist dabei selbst auch auf ein aktuelles Interview bei der Deutschen Welle.

Die Deutsche Welle, immerhin DER internationale Informationskanal für die (und im Eigentum der) Bundesrepublik Deutschland, präsentiert Bhakdi in einem Musterbeispiel grotesker False Balance im Dialog mit dem Münchener Biometrieprofessor Ulrich Mansmann und bemerkt dazu, in Sachen Coronavirus seien die beiden „nicht immer einer Meinung“. Mansmann hat sich aus mir nicht erfindlichen Gründen schon mehrfach für ein solches „wissenschaftliches Streitgespräch“ mit Bhakdi hergegeben.

Was ist also nun von diesen Experten zu halten?  Auf den ersten Blick tragen beide Professorentitel (auch wenn Bhakdis Zeit als aktiver Professor schon lange zurück liegt), und beide sind oder waren an Universitätskliniken tätig. Mansmann wird gerne als Epidemiologe vorgestellt, Bhakdi als Virologe und Epidemiologe, weil er mal Direktor des Mainzer Instituts für medizinische Mikrobiologie und Hygiene war. Für Tageszeitungsniveau scheint das auszureichen, um einen Experten auszuweisen, aber in der Praxis ist es leider nicht so einfach. Sehen wir uns die beiden Kontrahenten also näher an und vergleichen sie mal mit zwei anderen Professoren, die aktuell als Experten für Covid-19 durch die Medien geistern, nämlich den Virologen Christian Drosten und Hendrik Streeck.

Nachtrag 2.11.20: Inzwischen hat sich auf Scienceblogs Christian Meesters mit einer recht ähnlichen Herangehensweise neben (deutlich knapper als hier) Bhakdi auch noch den Rest der MWGFD, Bhakdis Verein von, äh, lupenreinen Demokraten, angesehen.

Nachtrag 6.11.20: Ende Oktober (und damit für meinen Geschmack ein gutes halbes Jahr zu spät, aber immerhin) hat jetzt auch die Uni Mainz gleich auf der Startseite seines früheren Instituts eine deutliche Distanzierung von Bhakdis pseudowissenschaftlichem Unsinn veröffentlicht. Ähnliches ist von der Uni Kiel, wo seine Frau und Koautorin noch beschäftigt ist, schon länger zu lesen, nur nicht ganz so auffällig platziert.

Das klingt auf den ersten Blick nicht allzu drastisch, und in der Tat könnte man sich das, vor allem wenn man selbst noch dort tätig ist und seinen eigenen Ruf von Bhakdis Machenschaften mit geschädigt sieht, noch deutlicher wünschen. Man muss es aber im Vergleich dazu sehen, wie zurückhaltend Hochschulen sonst die unwissenschaftlichen Aktivitäten ihrer aktuellen und ehemaligen Professoren kommentieren. Mein früheres Max-Planck-Institut hat zu den wüsten, physikalisch nicht begründeten und für das allgemeine Verständnis der Physik massiv schädlichen öffentlichen Spekulationen seines ex-Direktors Hans-Peter Dürr leider nie ein kritisches Wort verloren, sondern im Gegenteil noch einen lobhudelnden Nachruf veröffentlicht. Die Hochschule Furtwangen hat zur pseudowissenschaftlichen Skalarwellenlehre ihres Professors Konstantin Meyl lediglich öffentlich erklärt, er dürfe sie nicht in seinen Vorlesungen unterrichten. Von der Ostfalia-Hochschule warte ich bis heute auf eine Distanzierung von Professor Claus Turturs pseudowissenschaftlichen Nullpunktsenergie-Phantastereien und seinem Auftritt auf einer Veranstaltung, auf der öffentlich der Holocaust geleugnet wurde (ja, von jemand anders, aber klar vorher zu erwarten). Immerhin, in der aktuellen Version der Hochschulhomepage werden seine Thesen nicht mehr wiedergegeben, und die Verlinkung zum rechten Kopp-Verlag ist auch weg (er darf dazu aber noch auf die Wayback Machine verweisen).

Verglichen damit sind die Stellungnahmen der Unis in Kiel und Mainz zu Bhakdi so ziemlich die akademische Version von „Halt’s Maul, du Arschloch!“

Zur meiner nun folgenden grundsätzlichen Betrachtung von Bhakdi und seinem angeblichen Expertenstatus empfehle ich auch dieses Video von Mailab vom 7. Oktober, dass ich fahrlässigerweise erst jetzt angesehen habe.

Bei der Frage, was eigentlich ganz grundsätzlich ein Experte ist, nehme ich einfach mal mein eigenes früheres Arbeitsgebiet als Beispiel. In der heutigen Wissenschaft ist die Zeit von Universalgelehrten wie Goethe, Galilei oder Ibn Sina lange vorbei. Genau genommen war sie das schon zu Goethes Zeiten, was für diesen eine gewisse Tragik ausmacht, aber das ist eine andere Geschichte. Kurz gesagt, wie es Florian Aigner im Ferngespräch-Livestream zur Wissenschaftskommunikation so schön zusammengefasst hat: Fast jeder ist zu fast jedem Thema ein Laie. In meiner Zeit am CERN, dem Max-Planck-Institut für Physik und dem Brookhaven National Laboratory Ende der 1990er Jahre habe ich mich mit der Entwicklung sogenannter Spurendriftkammern und der Analyse von Messfehlern darin beschäftigt. Das ist ein relativ alter Typ von Teilchendetektor, der heute vor allem noch in der Analyse von Kollisionen schwerer Atomkerne verwendet wird. Für die vielleicht zwei oder drei Handvoll Menschen weltweit, die sich damals für diese Messfehler interessiert haben, dürfte ich als einer der Experten gegolten haben. Jedenfalls haben Professoren aus dem Ausland mich nach meinen Ergebnissen und Einschätzungen gefragt.  Mit den Leuten, die das 20 Jahre später, zum Beispiel am ALICE-Experiment am CERN tun, könnte ich vermutlich immer noch ein halbwegs kompetentes Gespräch führen, und vielleicht würde mir sogar noch der eine oder andere nützliche Tip einfallen, der irgendwie nie aufgeschrieben wurde und in Vergessenheit geraten ist. Die Experten dafür sind aber die Leute, die das jetzt tun, nicht mehr ich. In der sonstigen Erforschung von Kollisionen schwerer Atomkerne verstehe ich noch ganz gut, was die Forscher tun. Früher war ich da noch deutlich näher dran, aber selbst damals hätte ich jemandem, der dazu einen anderen Detektortyp verwendet oder gar die theoretischen Modelle entwickelt, nicht sagen können, ob seine Arbeit gut oder schlecht und seine Ergebnisse richtig oder falsch sind. Das war noch in meinem engeren Fachgebiet, aber schon so weit weg, dass ich deren Ergebnisse einfach akzeptieren musste. Ich konnte sie aber verstehen, wiedergeben und auch Dritten erklären. Wenn ich heute zum Beispiel im Quantenquark-Buch andere Themen aus der Physik, etwa zum Higgs-Boson oder zur extrem ungeschickt so bezeichneten „Quantenteleportation“ erkläre, dann muss ich mich dazu vorher in das Thema einlesen. Ich kann mich dazu aber schneller und in der Regel besser einlesen, als jemand, der nicht Physik studiert hat. Würde ich mich jedoch hinstellen und erklären, das am CERN nachgewiesene Higgs-Boson sei gar kein Higgs-Boson, dann würde es in Genf – völlig zu Recht – nicht mal jemand für nötig halten, mir zu widersprechen. Ich kann den wissenschaftlichen Konsens in anderen Bereichen meines Fachs zwar erklären, aber mir fehlt jede Grundlage, um ihn kompetent in Frage zu stellen. Wenn ich die Physik verlasse und mir die Medizin ansehe, was ich in letzter Zeit pandemiebedingt ja öfter mal tue, dann bin ich noch ein Stück weiter weg und kann mich in der Regel noch ein wenig langsamer und schlechter einlesen, als das jemand könnte, der in der Medizin, dort aber in einem anderen Bereich tätig ist. Ich kann es aber immer noch besser als jemand, der nie wissenschaftlich gearbeitet hat oder aus einem Feld kommt, das ganz andere Methoden verwendet als die in der Hinsicht recht ähnlichen Felder Medizin und Naturwissenschaften, also zum Beispiel ein Philosoph, ein Historiker oder ein Jurist.

Was aber jeder können sollte, der wissenschaftliches Arbeiten gelernt hat, ist, mit überschaubarem Aufwand festzustellen, ob jemand für ein Thema Experte ist oder nicht. Dafür gibt es nämlich sehr einfache Methoden. Wer in einem Feld forscht, veröffentlicht seine Ergebnisse in wissenschaftlichen Fachzeitschriften. Ohne das geht es nicht, denn ohne Veröffentlichung gibt es keine gegenseitige Überprüfung. Also: Keine Veröffentlichung – keine Wissenschaft. Alle Veröffentlichungen in den seriösen Fachzeitschriften eines Gebiets lassen sich in entsprechenden Datenbanken recherchieren. Die wichtigste derartige Datenbank für die Medizin ist Pubmed, betrieben von der National Library of Medicine. Wenn jemand in der Medizin zu einem Thema wissenschaftliche Leistungen vollbracht hat, dann findet man das in Pubmed. Dort kann jeder recherchieren. Man hat nicht unbedingt kostenlosen oder auch nur erschwinglichen Zugang zu den Artikeln, aber man findet, wo die Artikel stehen, und dabei steht eine Zusammenfassung.

Was erwarten wir nun also von einem Experten für Covid-19? So eine Krankheit ist selbst wieder extrem komplex, und es arbeiten Spezialisten aus unterschiedlichen Teilbereichen der Medizin, Pharmazie und Mikrobiologie daran. Wenn es um Ansteckung, Ausbreitung und Gefährlichkeit geht, können einem aber am ehesten Experten aus zwei Themenbereichen weiterhelfen: Entweder sie forschen am Virus selbst (das tun überwiegend Virologen) oder an seiner Ausbreitung (das tun eher Epidemiologen). Einen Experten für das SARS-CoV-2-Virus würde man daran erkennen, dass er genau dazu wissenschaftliche Artikel veröffentlicht hat, idealerweise auch schon vorher zu anderen Coronaviren wie SARS, MERS, den Erkältungsviren oder tierischen Coronaviren. Ein Experte für die Epidemiologie von Covid-19 sollte eben darüber veröffentlicht haben, und vielleicht schon vorher zur Ausbreitung anderer Atemwegsinfekte wie Grippe oder grippalen Infekten.

Wenn Sucharit Bhakdi jemals zu irgendwelchen Coronaviren geforscht hat, dann sollte sich das in Pubmed sehr leicht finden lassen, schon über die sehr einfache Suchabfrage „Sucharit Bhakdi Coronavirus“. Sie liefert 0 Treffer. „Ulrich Mansmann Coronavirus“ liefert ebenfalls 0 Treffer – das ist aber nicht sonderlich überraschend. Ulrich Mansmann ist kein Virologe, sondern Mathematiker und in der Medizin ein absoluter Methodenspezialist für komplexe mathematische Modelle. Dementsprechend ziehen sich seine Publikationen durch alle möglichen Teilbereiche der Medizin, mit Schwerpunkten bei Krebs und Malaria. Wenn man die schwierig zu erfassende epidemiologische Situation rund um Covid im und nach dem Lockdown im Frühjahr mathematisch modellieren will, wäre Mansmann sicherlich jemand, der zumindest beratend hilfreich dabei sein könnte. Vielleicht tut er das auch gerade, vielleicht hat er es getan, aber nicht in hinreichend zentraler Rolle, um als einer der Autoren aufzutauchen. Wieviel Mansmann selbst zu SARS-CoV-2 oder Covid-19 geforscht hat, ist aber auch gar nicht wichtig, denn was er in den Streitgesprächen tut, ist, er erklärt den wissenschaftlichen Konsens. Man muss selbst kein Experte zu einem Thema sein, wenn man einfach nur das erklärt, was die Experten sagen. Wenn man hingegen die Experten alle für dumm oder korrupt ausgibt, sollte man schon belegen können, dass man selbst entsprechend Ahnung hat.

Machen wir den gleichen Test mal mit unseren Vergleichs-Virologen. Die Suchanfrage „Hendrik Streeck Coronavirus“ ergibt fünf Treffer, alle aus dem Jahr 2020. Das ist kein Wunder, denn Streeck gilt als Experte für HIV und hat bekanntermaßen erst im Zuge des Ausbruchs von Covid-19 angefangen, zu SARS-CoV-2 zu forschen. Die Suchanfrage „Christian Drosten Coronavirus“ ergibt 149 Treffer von 2020 bis zurück ins Jahr 2003. Das ist (neben seiner hervorragenden Wissenschaftskommunikation und seiner angenehmen Eigenheit, dabei sich selbst gegenüber der Sache zurückzunehmen) genau der Grund, weshalb so viele Leute Wert auf Drostens Einschätzungen zu Covid-19 legen: Es gibt wahrscheinlich niemanden in Deutschland, vielleicht niemanden in Europa, der mehr zu menschlichen Coronaviren geforscht hat als Christian Drosten.

Wenn Sucharit Bhakdi also nicht zu Coronaviren geforscht hat, dann vielleicht zur Epidemiologie von viralen Atemwegserkrankungen? Er wird ja gerne auch als Epidemiologe verkauft. Die Suchanfrage „Sucharit Bhakdi respiratory“ ergibt vier Treffer – keiner davon hat irgendetwas mit Viruserkrankungen zu tun, schon gar nicht mit Grippe oder Ähnlichem. Was ist denn aber dann mit dem angeblichen Virologen Sucharit Bhakdi? Zu irgendwelchen Viren wird er ja wohl geforscht haben? Die Suchanfrage „Sucharit Bhakdi virus“ ist einigermaßen ernüchternd: Sie liefert genau drei Treffer. Einer der Artikel beschreibt eine tatsächliche eigene Studie, in der es um den Schaden geht, den Dengueviren (die mit Coronaviren nichts zu tun haben) an Blutgefäßwänden anrichten können. Bhakdi ist einer von 20 Autoren und war vermutlich an der Studie beteiligt, weil er lange zu Blutgefäßwänden geforscht hat. Der zweite Treffer ist ein Konferenzvortrag, in dem Bhakdi über einen Sonderforschungsbereich berichtet hat, dessen Sprecher er war und in dem er selbst über (Überraschung!) Blutgefäßwände geforscht hat, während andere Forscher darin auch an Viren, vor allem Hepatitisviren geforscht haben. Der dritte Treffer ist aus dem Jahr 2009, eine Spekulation über mögliche Risiken für (eben!) Blutgefäßwände durch Grippeimpfstoffe mit Wirkverstärkern. Hier werden also tatsächlich Grippeviren erwähnt, es geht aber inhaltlich nicht um die Grippe, schon gar nicht um das Virus, sondern nur um die Impfverstärker. Nachdem solche Wirkverstärker seit Jahren bei einer Vielzahl von Impfstoffen eingesetzt und die Effekte in großen Studien überwacht werden, kann man mit Sicherheit sagen, dass die von Bhakdi damals herbeispekulierten Nebenwirkungen nicht eingetreten sind. Solche Spekulationen sind ein normaler Teil eines wissenschaftlichen Prozesses. Dass Bhakdi Spekulationen über Schäden durch Grippeimpfungen damals gerade während der (unvorhersehbar zum Glück relativ harmlos verlaufenen) Schweinegrippepandemie veröffentlicht hat, lässt aber bei ihm ein Muster erahnen, das sich möglicherweise heute wieder zeigt.

Das war es mit Sucharit Bhakdis Arbeiten, die mit Viren zu tun haben. Tatsächlich geforscht hat er zunächst vor allem zu Bakterien, später hat er eine Außenseitermeinung zur  Entstehung von Atherosklerose (also der Verhärtung von Blutgefäßwänden) vertreten. Darauf, beziehungsweise auf einen Teilaspekt davon, sogenannte ADAM-Proteasen, beziehen sich auch alle Artikel, die in Pubmed noch mit seinem Namen auftauchten, nachdem er  vor knapp 10 Jahren das Rentenalter erreicht hat. Auch Außenseitermeinungen sind als Beiträge zur Wissenschaft wertvoll – wenngleich in der großen Mehrzahl der Fälle falsch.

Auch darauf kommt es aber nicht an. Entscheidend ist, Bhakdi widerspricht zu Covid-19 dem wissenschaftlichen Konsens der Experten, und das ist in diesem Fall eben keine wissenschaftliche Außenseitermeinung, denn dazu müsste Bhakdi selbst Experte in diesem Feld sein. Es gibt aber in Bhakdis kompletter Publikationsliste nicht den geringsten Hinweis darauf, dass er von Coronaviren oder auch nur von irgendwelchen anderen Atemwegsviren oder von Viren überhaupt (abgesehen vielleicht von der Wirkung von Dengueviren auf die Gefäßwände) irgendeine fachliche Ahnung hat. Er äußert sich schlicht zu Dingen, von denen er selbst nichts versteht, versteigt sich aber dazu, den Fachleuten zu widersprechen, wo er bestenfalls ihre Ergebnisse erklären sollte.

Und dennoch wird er von der Deutschen Welle und vielen anderen Medien als Experte (mit einer ach so interessanten Außenseitermeinung) ausgegeben.

Sucharit Bhakdi ist aber nicht bloß kein Experte – es ist viel schlimmer. Was mich wirklich wütend macht, sind die Aussagen von Bhakdi in seinem Interview mit der Deutschen Welle, das am 3.10. veröffentlicht wurde. Es kann sich auch nicht um eine zu diesem Zeitpunkt schon lange zurückliegende Aufzeichnung handeln, denn Bhakdi spricht darin von März und April als „vor sechs Monaten“. Im nächsten Satz kommt aber die entscheidende Aussage von Bhakdis Behauptungen: „Jetzt aber, nachdem die Epidemie definitiv vorbei ist…“ Am 3. Oktober 2020 erklärte Sucharit Bahkdi, die Covid-19-Epidemie sei definitiv vorbei. Das hat nichts mit der Frage zu tun, ob jemand ein Experte für Coronaviren oder für Epidemiologie von Atemwegserkrankungen ist. Es hat schlicht damit zu tun, dass es nichts mit der Realität zu tun hat. Zu diesem Zeitpunkt gab es in Deutschland pro Tag schon wieder über 2000 nachgewiesene Neuinfektionen, mehr als fünfmal so viele wie beim Minimum im Sommer. Weltweit gab es jeden Tag mehr als 300 000 nachgewiesene Neuinfektionen und innerhalb eines Monats 165 000 Tote, bei denen Covid-19 nachgewiesen war. Wieviel höher die Zahl der tatsächlichen Todesopfer in Ländern wie dem Iran, Indien oder Teilen Afrikas gewesen sein muss, kann man nur raten. Selbst in den USA mit ihrem gut ausgebauten Gesundheitssystem lag die Übersterblichkeit während der gesamten Pandemie fast 50% über den gemeldeten Covid-19-Toten. In Italien wurden im März „nur“ 12 000 Covid-19-Tote registriert – es starben aber zwischen 25 000 und 30 000 Menschen mehr als sonst im gleichen Zeitraum. In Deutschland war zum Zeitpunkt von Bhakdis „definitiv vorbei“ auch die Zahl der Covid-19-Patienten in Intensivstationen schon wieder deutlich am Steigen, und in Spanien näherte sich das Gesundheitssystem bereits wieder der Überlastung. Alle diese Informationen waren für jeden verfügbar und problemlos nachzurecherchieren.

Ich weiß nicht, was Sucharit Bhakdi Anfang Oktober zu seiner Aussage bewegt hat, die Epidemie sei „definitiv vorbei“ – ich kann ihm ja nicht in den Kopf sehen. Mir fallen für eine Person, die zu diesem Zeitpunkt öffentlich eine solche Aussage gemacht hat, aber eigentlich nur drei denkbare Erklärungen ein: Pure Dummheit, bewusste Lüge oder ein durch Verschwörungsglauben ausgelöster Realitätsverlust, der eigentlich nur mit dem von Xavier Naidoo oder Attila Hildmann vergleichbar ist.

Update 29.1.2021:

Guten Flug, Herr Bhakdi; lassen Sie sich gerne Zeit mit dem Zurückkommen. Und wenn Sie Deutschland totalitär finden, dann können Sie sich in Thailand ja mal kritisch über den König äußern.