Mal was Vernünftiges zu Impfungen

Bevor ich wieder etwas über Physik schreibe (versprochen, versprochen), geht es heute doch nochmal kurz um Impfungen. Im Gegensatz zu meiner kleinen Materialsammlung über Clemens Arvay und sein Unterstützerumfeld neulich habe ich heute aber mal ein erfreuliches Thema.

Wenn man sich das Programm der großen Publikumsverlage ansieht, könnte man ja den Eindruck bekommen, Pseudomedizin, Verschwörungsglauben und Esoterik seien bei uns der absolute Normalfall. Bei Bastei Lübbe erscheint Clemens Arvays Agitation für die Verlängerung der Pandemie; Droemer Knaur verlegt Martin Hirtes angebliches „Handbuch für die individuelle Impfentscheidung“, ein nur oberflächlich getarntes Impfgegnermachwerk, und die auflagenstärkeren unter den Unsäglichkeiten von Rüdiger Dahlke finden sich quer durch die Bertelsmann-Gruppe sowie beim zur Ganske-Gruppe gehörenden Verlag Gräfe und Unzer. Bei Gräfe und Unzer erscheinen auch gleich serienweise Homöopathieratgeber mit Highlights wie Homöopathie für Kinder, Globuli statt Pillen und „Die sanften 3 der Naturheilkunde“. Ohne alle gelesen zu haben, kann man getrost davon ausgehen, dass man in diesen Büchern weder den Hinweis finden wird, dass Homöopathie eben nicht Naturheilkunde ist noch den alles entscheidenden: Homöopathie wirkt nicht über den Placeboeffekt hinaus. Weil man mit Büchern über Homöopathie gut Geld verdienen kann, findet man diese wie bei so ziemlich allen anderen größeren Verlagen natürlich auch bei „meinen“ beiden, aber dort eben wenigstens auch deutlichen Widerspruch.

Wenn man jetzt zwischen den ganzen Homöopathieratgebern bei Gräfe und Unzer ein Buch mit dem Titel „Fakten-Check Impfen“ findet, dann kann man leicht auf den Gedanken kommen, dass es sich um Impfgegner-Propaganda wie von Martin Hirte handelt. Vermutlich war es auch genau die Absicht der Autoren, auf diesem Weg die richtigen, nämlich die am Impfen zweifelnden, Leser zu erreichen – gehört doch zum Autorentrio mit Prof. Cornelia Betsch eine der anerkanntesten Expertinnen für für die Psychologie der Impfgegner. Der Mediziner Jan Oude-Aost ist einer der Initiatoren des wissenschaftsnahen Informationsnetzwerks Impfen (INI), das leider noch nicht die Reichweite des Informationsnetzwerks Homöopathie (INH) erreicht hat. Gleichzeitig ist er, auch aus seiner Tätigkeit als Kinder- und Jugendpsychiater heraus, einer derjenigen Skeptiker, die sich für einen verständnisvollen Dialog mit Anhängern antiwissenschaftlicher Glaubenssysteme einsetzen. Nicola Kuhrt ist eine erfahrene Medizinjournalistin und war jahrelang Chefredakteurin der Onlineausgabe der Deutschen Apotheker Zeitung. Inzwischen ist sie mit dem Rechercheportal MedWatch fragwürdigen medizinischen Behauptungen auf der Spur.

Im Sinne eines klassischen Ratgebers richtet sich das Buch vor allem an Leser, die zu Impfungen in irgendeiner Form verunsichert sind. Gleich am Anfang finden sich schon Verweise auf bestimmte Kapitel für Leser, die eher zum Impfgegnerlager tendieren, für Unentschlossene, Zögerliche und für Menschen, die zum Impfen bereit sind. Es geht dabei nicht schwerpunktmäßig um die aktuell heiß diskutierten innovativen Impfstoffe gegen Covid-19, wobei diese natürlich auch erwähnt werden. Gerade dem Thema Impfungen für Kinder wird breiter Raum gegeben, und neben einem Interview mit einer Kinderärztin gibt es praktische Tips, wie man den Impftermin für Kinder möglichst positiv gestalten kann.

Nach einem einführenden, sehr praxisbezogenen Teil gliedert sich das Buch in drei weitere große Abschnitte: Zunächst einmal wird, in viele Einzelfragen aufgeteilt, die Wirkung und Sicherheit von Impfstoffen erklärt. Dazu gehören die unterschiedlichen Impfstofftypen, auch innovative, die erst in der Pandemie in den Blickpunkt der Öffentlichkeit geraten sind, ebenso wie Fragen der Erprobung und Zulassung, bis hin zu den auch für zugelassene Impfstoffe nicht selbstverständlichen Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO). Im folgenden Abschnitt wird ein breites Spektrum an Impfmythen und mehr oder weniger unrealistischen Vorbehalten diskutiert, von Inhaltsstoffen über den vermeintlichen Nutzen von Kinderkrankheiten bis hin zu typischem Verschwörungsdenken. Dann folgt ein ziemliches Alleinstellungsmerkmal dieses Buches: Ein umfassender Einblick in die Struktur und Argumentationsweise der Impfgegnerszene, von einer Kommunikation, die fast nur noch in der eigenen Blase stattfindet, über das Herauspicken einzelner, methodisch minderwertiger Studien bis zum Nacherzählen reißerischer und oft realitätsferner Einzelfallgeschichten. Abschließend folgen noch Empfehlungen für Diskussionen mit dem Partner und anderen Eltern, ein Quellennachweis sowie Hinweise auf nützliche Informationsquellen im Internet.

„Fakten-Check Impfen“ ist allgemeinverständlich und angenehm zu lesen, wobei die Ratgeberstruktur dazu führt, dass beim Durchlesen von vorne nach hinter gelegentlich der Eindruck relativ erratischer Themensprünge entsteht. Unterhaltsam ist es ebenfalls, nicht nur dank des Vorworts von Eckart von Hirschhausen.

Alle Inhalte sind solide und fachlich belegt, und es ist zu hoffen, dass viele Verunsicherte, vor allem viele Eltern, im Regal mit den Gesundheitsratgebern zu diesem wirklich erfreulichen Werk greifen.

 

Leider noch was zu Arvay

Update24.3.23: Ein bisschen was zum Nachdenken für die Querdenker, die hier in ihren Kommentaren herumpöbeln (die außer im Archiv für die Staatsanwaltschaft ohnehin nirgends zu sehen sein werden) und allen Ernstes von „Hetze“ gegen den Impfgegner und Verschwörungspropagandisten Arvay fabulieren, weil ein paar wissenschaftsinteressierte und -kompetente Bürger ihre Freizeit aufgewendet haben, um aufzuklären über die lebensgefährliche Desinformation, die Arvay über Covid, Impfungen und andere Schutzmaßnahmen verbreitet hat, über seine Verschwörungsideologie und seine Verbindungen zur rechten Szene. Seht es Euch an und überlegt einfach mal, ob Ihr wirklich zu diesen Leuten gehören wollt:

Nach dem Artikel über Clemens Arvay vom letzten September hatte ich mir vorgenommen, die Aktivitäten dieses Menschen nicht mehr weiter zu kommentieren, um ihm nicht noch zusätzliche Aufmerksamkeit zuzuleiten. Ich habe ihn dann nur noch beiläufig in Antworten auf die Kommentare zu anderen Artikeln erwähnt und bei wichtigen Themen den früheren Artikel aktualisiert.

Update 14.6.21: Falls jemand das gerade aktuelle Arvay-Video durchlitten hat und eine Einordnung von seriöser Seite sucht oder einfach wissen möchte, welcher Unsinn dort jetzt wieder herumgeistert, dem kann ich den folgenden Twitter-Thread (für die Nicht-Twitterer: ein Twitter-Posting samt einer Reihe von Antworten, auch ohne Twitter-Anmeldung sichtbar) von @DerGraslutscher empfehlen. Der Mediziner Janos Hegedüs hat Arvays neues Geschwurbel inzwischen auch in einem Video fachlich eingeordnet.

Da er die Aufmerksamkeit dank der Beihilfe des Lübbe/Quadriga-Verlags, seiner vielen Fans aus der Querdenker-, QAnon– und Reichsbürgerszene und diverser willfähriger Journalisten nun ohnehin bekommen hat, hat sich dieser Vorsatz inzwischen erledigt. Lust auf einen ausführlichen, kommentierenden Artikel habe ich aber immer noch nicht, also liste ich einfach mal auf, was sich in letzter Zeit so alles ereignet hat. Das ist nicht mehr als eine Aneinanderreihung einzelner Beobachtungen – erwartet also keinen durchdachten Artikel.

  • Nachdem Arvay seine Fanboys inzwischen mehrfach in weinerlichen Videos gegen mich aufgewiegelt hat, werde ich von denen mehr als sechs Monate nach meinem Artikel über ihn immer noch auf unterschiedlichen Kommunikationskanälen belästigt, womit sich inzwischen auch schon die Staatsanwaltschaft beschäftigen musste.
  • Da er seit vergangenem Jahr ja immer wieder darauf aufmerksam gemacht wurde, dass einen ein Abschluss in Agraringenieurwesen mit einer Masterarbeit zu einem soziologischen Thema nicht zum Biologen macht, hat sich Arvay von der European Countries Biologists Association ein Zertifikat als „European Professional Biologist“ ausstellen lassen, mit dem er jetzt ständig in den sozialen Netzwerken herumwedelt. Dazu ist er offenbar auch der Austrian Biologist Association (ABA) beigetreten, was tatsächlich ein seriöser Fachverband ist. Nachdem deutlich wurde, wozu Arvay seine Mitgliedschaft benutzt, hat sich die ABA am 16. April sehr nachdrücklich von seinem Gedankengut distanziert und sich zu Covid-Impfungen und den Aussagen der entsprechenden wissenschaftlichen Institutionen bekannt – vorsichtshalber ohne Arvays Namen zu nennen, aber inhaltlich klar erkennbar.
  • Wo er jetzt ja das Zertifikat hat, hat Arvay auch erklärt, er habe eine Doktorarbeit in Biologie begonnen – er will also offenbar doch noch versuchen, zu lernen, wie man wissenschaftlich arbeitet. Dazu behauptet er: „Ich habe zuvor noch nie ein Doktorat begonnen und habe auch nie eine Dissertation abgebrochen.“
    Das ist allerdings irgendwie seltsam, denn für sein Buch „Der Biophilia-Effekt“ wurde schon seit mindestens 2016 (und auch noch vor vier Wochen) mit der Aussage geworben, er arbeite an einem Doktorat in Medizinwissenschaft über ein ganz anderes Thema. Nachzulesen war das auf der Homepage seines eigenen Verlags. Mir würde ja auffallen, wenn einer meiner Verlage in der Darstellung eines meiner Bücher mit falschen Behauptungen zu meiner Biographie werben würde. Da fragt man sich doch, von wem der Verlag die Biographie seines Autors denn bekommen hat.
    Dort ist auch nachzulesen, dass sich Arvay zu seinem Buch ein Vorwort von Rüdiger Dahlke hat schreiben lassen. Dahlke verbreitet unter anderem den Verschwörungsmythos, dass wir alle im Auftrag diverser Regierungen von Flugzeugen gezielt mit Giften (Chemtrails) besprüht würden. Auf dem rechtsesoterischen Quer-Denken-Kongress in Friedberg 2015, von dem damals führende NPD-Funktionäre begeistert berichtet haben, erklärte Dahlke, (ähnlich wie in diesem Video) wir hätten zu viel Demokratie und zu wenig Hierarchie.
  • Inzwischen ist ja auch Arvays lange angekündigtes Anti-Impf-Buch erschienen. Dr. med. Jan Oude-Aost (einer der Autoren des sehr viel empfehlenswerteren Buchs Fakten-Check Impfen)  hat es in drei Artikeln auf eingeimpft.de (1 2 3) ausführlich auf seinen Wahrheitsgehalt überprüft. Ich finde es bewundernswert, wie Jan Oude-Aost es schafft, ein so vernichtendes Ergebnis so respektvoll und wertschätzend zu formulieren. Ich hoffe, meine Leser hier erwarten das nicht auch von mir.
  • Ein lustiges Falschmeldungs-Spiel gab es im April zwischen Arvay und der Frankfurter Rundschau. Zunächst, am 8. April, brachte FR-Wissenschaftsredakteurin Pamela Dörhöfer eine vollkommen unkritische Rezension über Arvays inhaltlich, wie schon erwähnt, höchst mangelhaftes Anti-Impf-Buch. Vier Tage später berichtete dieselbe Autorin dann über eine israelische Studie zur Wirksamkeit von Impfungen gegen unterschiedliche Virusvarianten. Die Erkenntnis aus der Studie ist eigentlich weder sonderlich neu noch schwer zu verstehen: Aktuelle Impfstoffe schützen gegen alle Virusvarianten, aber gegen die „südafrikanische“ B.1.351 (vor allem in den ersten zwei Wochen nach der Impfung) nicht ganz so herausragend gut wie gegen die bei uns vorherrschende „britische“ B.1.1.7. In der Rundschau wurde daraus für mehrere Tage die falsche Aussage, „dass sich Geimpfte häufiger als Ungeimpfte mit der südafrikanischen Variante infizierten.“ Arvay sprang auf die Falschmeldung (die er als angeblicher Experte doch eigentlich sofort hätte erkennen müssen…) nicht nur auf, sondern setzte noch eins drauf:

    Infektionsverstärkende Antikörper, also der bei einigen wenigen Viren auftretende Effekt, dass bestimmte Reaktionen des Immunsystems dem Virus seine Arbeit erleichtern anstatt sie zu verhindern, gehören logischerweise zum Ersten, wonach man bei einem neuen Impfstoff lange vor der Zulassung sucht. Dass sie bei SARS-CoV-2 (und zwar bei allen bekannten Varianten) keine relevante Rolle spielen können, zeigt sich aber auch schon daran, dass die zugelassenen Impfstoffe vor allen Varianten schützen – nur eben nicht vor allen gleich gut.
    Um den 21.4. herum wurde der Artikel auf der Seite der FR dann stillschweigend korrigiert – und war kurz darauf von Arvays Facebookprofil spurlos verschwunden.
  • Es gibt tatsächlich auch Zeitungen, die die Mängel in Arvays Behauptungen deutlich ansprechen, zumindest in seiner Heimat Österreich. Im Zusammenhang mit Covid-19 und der Querdenkerbewegung ist allerdings auch der Blog Volksverpetzer.de zu empfehlen, der nicht nur die Fehler in der Frankfurter Rundschau und die Löschung kritischer Kommentare (unter anderem von mir) durch die FR ausführlich aufgearbeitet hat. Auch zu Arvays absurder Agitation gegen die Wissenschafts-Erklärvideos von MaiLab gibt es dort zwei sehr lesenswerte Artikel. Wer mich kennt, kann sich denken, dass ich kein besonderes Interesse damit verbinde, einen deutlich linken Politblog zu promoten, aber gerade bei allem, was mit Covid und den damit verbundenen Verschwörungsmythen zu tun hat, sind die Qualität der Recherchen und die journalistische Aufarbeitung beim Volksverpetzer wirklich hervorragend und stellen die Arbeit vieler etablierter Medien deutlich in den Schatten.
  • Falls jemand tatsächlich noch Zweifel hatte, dass es sich bei Clemens Arvay  um einen Hardcore-Querdenker handelt, empfehle ich mal einen Blick darauf, wie er auf der Facebook-Seite von ORF 2 das Gedenken an die Opfer der Pandemie verhöhnt, von „hunderttausenden“ Toten durch den Lockdown halluziniert und sich dann auf seiner eigenen Seite auch noch damit brüstet:
    Um die wirren Behauptungen zu Malaria und Hunger mal in Perspektive zu rücken: Innerhalb eines Jahres sterben laut Global Burden of Disease Monitor weltweit rund 140.000 Menschen an Unterernährung und knapp 600.000 an Malaria. Wie sich diese Zahlen durch Maßnahmen gegen Covid-19 nennenswert verändern sollen, erscheint mir nur im Rahmen eines völligen Realitätsverlusts durch Versinken im Verschwörungsglauben nachvollziehbar. Innerhalb der letzten 12 Monate wurden dagegen allein schon rund 3 Millionen Todesfälle durch Covid-19 offiziell erfasst. Hinzu kommen  diejenigen Covid-Toten in Entwicklungsländern, die nie diagnostiziert werden, weil sie ohne ärztliche Versorgung zu Hause gestorben sind – und dazu noch sämtliche Covid-Toten in Ländern wie Tansania, Nicaragua oder Nordkorea, wo überhaupt nicht getestet wird.
  • Interessant übrigens, dass in Arvays eigenem Screenshot oben eine Mitteilung des Telegram-Messengers zu sehen ist, wo er doch behauptet, Telegram noch nie gesehen zu haben und überhaupt nicht zu benutzen:
  • Angesichts der aktuellen Enthüllungen über Frank „den Reisenden“ Schreibmüller, der für diverse Größen der Rechts- und Querdenkerszene Telegram-Kanäle etabliert und ihnen dann zur Übernahme angeboten haben soll, erhält Arvays Behauptung allerdings eine gewisse Glaubwürdigkeit, der inzwischen umbenannte Telegram-Kanal mit seinem Namen sei nicht von ihm selbst eingerichtet worden.
  • Wenn man liest, wie Arvay auf Facebook über die extrem seltenen Komplikationen durch Astra Zenecas Impfstoff Vaxzevria schreibt, könnte man meinen, er hätte im Fußball gewonnen.

    Nein, es hat niemand gewonnen; es sind Menschen gestorben. Genau gesagt sind europaweit bis zum 25.3. dieses Jahres 18 Menschen gestorben, von rund 25 Millionen, die bis dahin diesen Impfstoff erhalten hatten. Zur Einordnung: Wären diese Menschen dauerhaft ungeimpft geblieben, hätte man damit rechnen müssen, dass zwischen 50.000 und 200.000 von ihnen an Covid-19 sterben. Dass wir überhaupt über so seltene Impfkomplikationen reden, liegt eigentlich nur daran, dass wir mit den mRNA-Impfstoffen Alternativen haben, bei denen noch nicht einmal dermaßen seltene schwerere Probleme zu finden sind. Dass er vor ein paar Monaten gegen die auch agitiert hat, erwähnt Arvay zumindest in seinen Facebook-Posts vorsichtshalber nicht mehr.
  • Dass Arvay sein ganzes Anti-Impf-Geschwurbel vor einem Jahr mit dem Verbreiten der großen Bill-Gates-Impf-Verschwörung eingeleitet hat, hatte ich ja schon im letzen Artikel erwähnt. Er propagiert aber auch alle möglichen anderen abstrusen Verschwörungsmythen. Vor ein paar Tagen hat er sich erst einen Artikel über einen implantierbaren Chip herausgegriffen, der dazu dienen soll, Ausbrüche ansteckender Krankheiten in isolierten Militäreinheiten schnell zu erkennen. Dazu spinnt er sich dann zusammen, mit dem Chip seien „offenbar“ Bewegungsverfolgung und Überwachung möglich, und er sei entwickelt worden, um (gerichtet an seine Facebook-Fans) „Euer Blut permanent zu überwachen“.
    Damit verbreitet er unmittelbar den Chip-Implantat-Überwachungsmythos antisemitischer Verschwörungsideologen, wie er schon seit Jahren immer wieder auch vom Hetzkanal kla.tv der OCG-Sekte verbreitet wird, gerne auch als Teil von Anti-Impf-Propaganda. Kein Wunder, dass man in den Videos von kla.tv dann auch den „besorgten“ Bürger Arvay wiederfindet, was um so witziger ist, weil er in letzter Zeit offenbar auch versucht, sich an selbsternannte „revolutionäre Antifaschisten“ anzubiedern.
  • An anderer Stelle schreibt Arvay, Bill Gates habe in ein Patent zur Verdunkelung der Sonne investiert. Dazu gibt er als Fußnote einen Artikel auf einer Seite namens TechAndNature an, was den Eindruck erweckt, es handele sich um einen Beleg für seine Behauptung – nur dass in dem Artikel von einem Patent oder sonstiger wirtschaftlicher Verwertung mit keinem Wort die Rede ist. Arvay macht aber gleich weiter mit der Behauptung, das geschilderte Forschungsprojekt über denkbare Technologien zur Abschwächung des Klimawandels sei für Gates „bestimmt gewinnbringend“ und bringt das mit Gates‘ angeblich lukrativen „Pharmaseilschaften“ in Verbindung.

    Wie ein Zuschuss über eine gemeinnützige Stiftung zu einem Experiment der Grundlagenforschung, von dem selbst die Versuchsleiter sagen, dass sie die erforschte Technologie lieber nicht in großem Maßstab eingesetzt sehen möchten, gewinnbringend sein soll, kann Clemens Arvay sich selbst wahrscheinlich irgendwie erklären. Zur Frage, warum aus der Sicht von Verschwörungsgläubigen hinter solchen Aktivitäten unbedingt finstere Gewinnerzielungsabsichten stehen müssen, empfehle ich die Bücher Verschwörungsmythen und Warum der Antisemitismus uns alle bedroht des Antisemitismusbeauftragten von Baden-Württemberg, Michael Blume.
  • Ende Dezember verlinkt Arvay auf Facebook ein Video über angebliche „Mediale Diffamierung“ gegen ihn in der österreichischen Wochenzeitung Falter und kommentiert das mit: „Dank an den Urheber!“

    Unter dem Link diskutiert Arvay mit Kommentatoren fröhlich, wer „the Fuck“ die im Video attackierte Journalistin sei.

    Damit kann ihm eigentlich auch nicht entgangen sein, welch wirre Fake News und antisemitisches Verschwörungsgeschwurbel in den weiteren Kommentaren zu seinem Post verbreitet werden. Das scheint ihn aber nicht zu stören, denn er hat es bis heute weder kommentiert noch gelöscht:


    Wer der von Arvay mit solchem Dank bedachte Urheber des Videos ist, kann ich leider nicht mehr feststellen, weil selbiger offensichtlich Gründe hatte, das Video auf Youtube wieder zu löschen. Eine Google-Suche nach dem Titel zeigt aber deutlich, bei welchem Umfeld Arvay sich da bedankt: Sie führt auf die Seite Korrekter.com:

    Sämtliche Links rechts neben dem Arvay-Video führen weiter auf die Seite „Journalistenwatch“, laut ZEIT eins der einflussreichsten Medien der Neuen Rechten in Deutschland. Unter der Rubrik „Verbotenes Wissen“ verlinkt Korrekter nicht nur wirre Räuberpistolen über UFOs, Aliens, die Antarktis und Erich von Däniken, sondern auch eine ganze Serie islamfeindlicher Videos des Pegida-Aktivisten Michael Stürzenberger.
    Die Dankbarkeit fügt sich also nahtlos ein in Arvays Verbrüderung mit Leuten wie Gunnar Kaiser, Wikihausen oder dem früher mal gerade noch ultrakonservativ zu nennenden österreichischen Querdenker-Granden Raphael Bonelli, sein Interview bei den NachDenkSeiten und seinen Solidaritätsbekundungen für den Verschwörungspropagandisten Sucharit Bhakdi, der inzwischen öffentlich erklärt hat, Deutschland sei eine Diktatur. Falls also tatsächlich noch jemand Clemens Arvay die Frage abkauft, wer ihn immer wieder mit der rechten Szene in Verbindung bringt: Das ist er selbst.

Update 29.8.21: Endlich fangen, wenigstens in Österreich, auch die Medien mal an, sich mit dem rechten Propagandanetzwerk um Clemens Arvay zu beschäftigen. Deutsche Medien, wie hier z.B. die Frankfurter Rundschau, fallen ja leider immer wieder auf ihn herein.

Der selbstgebastelte „Impfstoff“ aus Lübeck

Eigentlich würde ich vom Thema Impfstoffe hier gerne etwas wegkommen, wenn ich endlich wieder mehr Zeit zum Schreiben habe, aber irgendwas ist dann doch immer. Ich hatte ja schon vor einem Dreivierteljahr damit gerechnet, dass Leute sich etwa jetzt darüber aufregen würden, wer wann geimpft wird und warum wir nicht schon viiiiieeeeeelllll mehr Impfstoff haben. Ich hatte auch schon damit gerechnet, dass die üblichen Verschwörungsschwurbler Schauermärchen über erfundene Impfschäden erzählen. Ich hatte damit gerechnet, dass Pseudoexperten, deren einzige jemals vollbrachte wissenschaftliche Leistung eine soziologische Masterarbeit ist, mit Tatsachenverdrehungen über moderne Impfstoffe auf der Spiegel-Bestsellerliste landen. Mir war auch von Anfang an klar, dass Altenaivmediziner anfangen würden, homöopathische oder „geistige“ Impfungen zu verhökern. Hätte mir allerdings jemand erzählt, dass sich, noch nach der Zulassung seriöser Impfstoffe, Menschen dafür begeistern würden, Amateure mit ungetesteten Impfstoffkandidaten an ihrem Immunsystem herumpfuschen zu lassen, und dass etablierte Medien das noch anstacheln würden, dann hätte ich der betreffenden Person unterstellt, sie hätte zu viel Breaking Bad gesehen.

Im Moment werde ich aber von diversen Seite mit Anfragen, gerne garniert mit zynischen Bemerkungen gegen die Pharmaindustrie, zum angeblichen Wunderimpfstoff bombardiert, den ein Herr Stöcker aus Lübeck im Labor seiner Medizintechnikfirma entwickelt haben will. Aktuell kocht das Ganze total über, weil der Spiegel sich darüber ausgelassen hat, Stöcker habe „statt Lob und Anerkennung“ eine Strafanzeige bekommen – und um das vorwegzunehmen, ich frage mich, ob sich beim Spiegel irgendjemand zur Sach- und Rechtslage kundig gemacht hat, bevor man hier auf die Idee gekommen ist, Lob und Anerkennung könnten überhaupt zu Diskussion stehen. Oder, um die international renommierte Impfstoffgutachterin Petra Falb zu zitieren: Er hat sich definitiv massiv strafbar gemacht.“ Das Zitat habe ich hier nachträglich eingefügt – ich hatte mich in dem Punkt erst mal zurückgehalten, weil diesbezügliche Rechtsfragen nicht mein Thema sind. Ich empfehle ihren Kommentar generell zum Lesen. Inzwischen (7.3.) hat sie auch einen eigenen Blogartikel zum Thema online. Das ist unglaublich wertvoll, weil sie von der eigentlichen Problematik (ich kenne das ja nur von der Marktseite, von der grundsätzlichen Frage der Wissenschaftlichkeit her und von dem, was ich mir im Verlauf der Pandemie angelesen habe) wirklich tiefgreifende Ahnung hat. Die wichtigste Passage: „[…] es ist völlig unverständlich, wie sich hier jemand, der das Gesetz und auch die Arzneimittelsicherheit derart mit Füßen tritt, auch noch als Opfer darstellen kann. Leider muss man auch den betreffenden Journalisten, die diesen Bericht zu verantworten haben, schlechte Recherche vorwerfen – was hier zu sehen ist und vor allem wie dieses Thema aufbereitet wurde ist alles andere als objektiv und fachlich korrekt und trägt extrem zu Verwirrung und Verbreitung falscher Informationen bei.“ Lesenswert ist auch der Twitterthread des promovierten Neurobiologen Lars Dittrich, der inzwischen der MaiLab-Redaktion angehört.

Was mich ein bisschen verwundert hat, war zunächst, wer Stöcker zu diesem Hype verholfen hat, aber nach einem Hinweis aus der Twitter-Community dämmert mir langsam, aus welcher Ecke solch treue Gefolgschaft kommt. In seinem Blog wettert er gegen „Klimahysterie“ und geschlechtsneutrale Formulierungen, erklärt, die AfD habe „heute in vielen Sachfragen die besten Argumente“ und ruft wegen der Aufnahme von Flüchtlingen zum „Sturz der Kanzlerin Merkel“ und zu einem „Aufstand der Anständigen“ auf.

Was hat er aber jetzt bei seinem „Impfstoff“ gemacht: Er hat einen Bestandteil des SARS-CoV-2 Virus im Labor nachgebaut. Seine Idee ist, man spritzt diesen Bestandteil in einen Patienten, das Immunsystem reagiert auf dieses fremde Antigen, baut eine Immunreaktion auf, und die schützt dann auch gegen das ganze Virus. Das ist vom Prinzip her nicht viel anders, als praktisch alle westlichen Impfstoffkandidaten gegen Covid-19 funktionieren. Stöckers „Impfstoff“ wäre, falls er denn wirkte, ein Protein-Subunit-Impfstoff (die unterschiedlichen Impfstofftypen gegen Covid-19 habe ich schon im August erklärt) – sowas gibt es im Prinzip schon länger gegen Grippe, und es sind auch mehrere seriöse Kandidaten in der Entwicklung gegen Covid-19.

Warum ist aber nun bei den Impfstoffen und Impfstoffkandidaten der seriösen Labore und Hersteller alles doch ein bisschen komplizierter? Nun, die Erfahrung hat über viele Jahre gezeigt, dass, wenn man einfach nur ein fremdes, wirkungsloses Protein in hinreichender Menge in einem Muskel spritzt, das Immunsystem zwar reagiert und auch Antikörper produziert, die Wirkung aber weder stark noch andauernd genug ist, um einen längerfristigen Schutz zu erzeugen. Damit das Immunsystem dennoch einen entsprechenden Schutz aufbaut, verwendet man in der Regel einen der folgenden Tricks:

  • Man präsentiert dem Immunsystem das Antigen über einen längeren Zeitraum immer wieder, indem man z.B. Körperzellen dazu bringt, es nachzuproduzieren. Das tun die in meinem Artikel genannten RNA-, DNA- und Vektorvirusimpfstoffe.
  • Man bindet das Antigen in eine Struktur ein, die irgendwie virusähnlich aussieht (virus like particle, VLP), um dem Immunsystem etwas Gefährliches vorzutäuschen. Solche Impfstoffe sind gegen Covid-19 noch nicht in fortgeschrittenen Entwicklungsphasen. Falls zugelassen, wäre auch die Produktion nicht einfach.
  • Man sorgt dafür, dass durch eine lokale Entzündung am Ort der Injektion das Immunsystem wild auf alles losgeht, was gerade dort auftritt, also vor allem auf das dort injizierte Antigen. Das erreicht man mit sogenannten Impfadjuvantien (das historisch bekannteste davon sind übrigens die von Verschwörungsgläubigen gerne verteufelten und heute eher selten verwendeten Aluminiumsalze). So funktionieren praktisch alle seriösen Protein-Subunit-Impfstoffe, die gegen Covid-19 in der fortgeschrittenen Entwicklung sind. Das sind nach aktuellem Stand allein schon 24 Impfstoffkandidaten – ein weiterer wurde im Lauf der Patientenstudien schon aufgegeben.

Könnte es theoretisch sein, dass aus irgendeinem ominösen Grund ein solo gespritztes Protein trotzdem zu einer schützenden Immunreaktion führt, wenn es nicht von einem seriösen Hersteller, sondern von Stöcker kommt? Denkbar ist vieles. Zum Beispiel könnte eine bei ihm produktionsbedingte Verunreinigung zufällig als noch unbekanntes Impfadjuvans wirken. Das ist eben nur sehr, sehr, sehr unwahrscheinlich. Wesentlich wahrscheinlicher wäre, dass eine solche Verunreinigung zufällig gesundheitsschädlich ist. Wie es mit systematischer Adjuvierung von Stöckers Impfstoff aussieht, ist vollkommen unklar. Auf seiner Homepage erklärt er tatsächlich, der Impfstoff sei mit Alhydrogel (ja, dem angeblich doch so bösen, bösen Aluminium!!!) adjuviert, während er in Interviews wie dem verlinkten Spiegel-Video regelmäßig behauptet, es handele sich nur um ein Antigen. Eine dieser Behauptungen kann offensichtlich nicht stimmen.

9.3.21: So langsam trudeln von ein paar gutinformierten Lesern neue Hinweise ein, und ich kann mir über diesen Kerl einfach nur immer mehr an den Kopf fassen. Auf seiner Homepage schreibt er ausdrücklich, dass er in dem Zeug, das er seinen Angestellten injiziert hat und das er als „Impfstoff“ in Verkehr bringen will, Alhydrogel vom Lieferanten InvivoGen verwendet. Na gut, werfen wir mal einen Blick auf die Produktbeschreibung auf der Homepage des Herstellers, und was lesen wir da?InvivoGen products are for research purposes only; they are not for use in humans. Wie verantwortungslos kann man eigentlich sein?

Nun behauptet Stöcker aber, sein „Impfstoff“ schütze trotzdem. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Was ich aber weiß, ist, dass er es auch nicht weiß. Und Christian Drosten und Hendrik Streeck, von denen er behauptet, sie hätten die Wirksamkeit bestätigt (die das aber offenbar öffentlich nicht bestätigen wollen), können das ebenfalls nicht wissen. Dazu müsste man nämlich sehen, dass die damit Geimpften signifikant weniger häufig erkranken als Ungeimpfte. Genau das ist es, was die Entwicklung eines seriösen Impfstoffs so teuer und bei den meisten anderen Erkrankungen auch langwierig macht. Genau dieser Nachweis macht den Unterschied aus zwischen einem Impfstoff und irgendwas, was sich irgendwer in irgendeinem Labor zusammengebraut hat – und von dem in diesem Fall wie schon erwähnt auch sehr, sehr, sehr unwahrscheinlich ist, dass es schützt.

Wenn man nicht ausschließen kann, dass Stöckers Protein auch ohne ein gezielt eingesetztes Adjuvans wirkt, könnte man ja zumindest sagen, vielleicht hat er keinen Impfstoff, aber möglicherweise einen Kandidaten für die Impfstoffentwicklung? Im Prinzip schon. Das ist der erste und banalste Schritt in der Entwicklung eines Arzneimittels – man baut sich ein Molekül zusammen, von dem man hofft, dass es eine Wirkung hat und niemanden umbringt. Das hat auch gegen Covid-19 nach exakt dem gleichen Prinzip eine ganze Reihe von Pharmaherstellern schon vor einem Jahr getan. Die haben einen Bestandteil des SARS-CoV-2-Virus (in der Regel das Spike-Protein oder ein Teil davon mit irgendwas drangehängt) genommen und im Labor nachgebaut und mit unterschiedlichen Adjuvantien in Zellkultur- und Tierversuchen getestet, wie sie die beste Immunreaktion bekommen. Genau auf dem Stand ist er jetzt. Es ist allerdings auffällig, dass von dieser Art Impfstoffe noch keiner zugelassen ist. Offenbar ist es selbst mit sorgfältig ausgewählten und in ihrer Dosierung optimierten Adjuvantien nicht ganz trivial, aus einem Protein-Impfstoff eine gute, verträgliche Schutzwirkung gegen Covid-19 zu bekommen. Der fortgeschrittenste derartige Kandidat, von Novavax, steht aber inzwischen in mehreren Ländern kurz vor der Zulassung.

Dass viele Moleküle (mehr als 99,9%) den Schritt vom vielversprechenden Laborkandidaten zum zugelassenen Arzneimittel nie schaffen, ist ganz normal. Die meisten derartigen Entwicklungen, die in einzelnen Zellen noch gut gewirkt haben, müssen schon nach Tierversuchen aufgegeben werden. Diesen vor allem für die Sicherheit der Testpersonen wichtigen Zwischenschritt hat der gute Mann ganz offensichtlich einfach ausgelassen und gleich mal Menschen als Versuchskaninchen benutzt. Nun gut, es scheinen zufällig alle überlebt zu haben. Also, hoffentlich. So genau weiß er das ja nur selbst. Wer so etwas seriös betreibt, muss seine Patientenversuche vorher öffentlich nachvollziehbar registrieren, damit man unliebsame Daten nicht verschwinden lassen kann.

Wenn Tierversuche gut laufen, macht man Verträglichkeitstests (Phase I) an Freiwilligen, in denen man bei einem Impfstoff auch erkennt, ob das Immunsystem wenigstens kurzfristig Antikörper und eine T-Zell-Reaktion produziert. Entsprechende Daten hat Stöcker nicht veröffentlicht (und ich habe große Zweifel, ob die meisten dafür erforderlichen Informationen jemals erhoben wurden), aber er würde wahrscheinlich behaupten, eine Phase-I-Studie hätte er mit seinem illegalen Verspritzen gemacht – eine angebliche Phase-I-Studie ohne die zum Schutz der Versuchspersonen erforderliche Genehmigung, ohne Ethikkommission, ohne medizinische Überwachung der Versuchspersonen und ohne sachgerechte Dokumentation der Ergebnisse. Dafür behauptet Stöcker, die Gespritzten hätten danach Antikörper gegen SARS-CoV-2 gehabt. Wie erwähnt, irgendeine Immunreaktion bekommt man eigentlich immer, aber ein dauerhafter Schutz wäre sehr, sehr, sehr unwahrscheinlich. Und er müsste, wenn er denn existierte, erst mal bewiesen werden. Genau dazu gibt es die folgenden Erprobungsphasen, die Stöcker mal eben als „bagatellartige Immunisierung“ abtut, die aber die einzige Möglichkeit sind, eine Schutzwirkung zu erkennen.

Nach erfolgreicher Phase I kann man die Ergebnisse also mal einer Ethikkommission und dem Paul-Ehrlich-Institut vorlegen, ob der zu erwartende Nutzen das Risiko rechtfertigt, das Zeug einer größeren Probandenzahl (so 500 bis 2000) in der Phase II zu verabreichen, in der man dann schon systematischere Aussagen zur Sicherheit bekommt. Bei anderen Arzneimitteln sieht man in der Phase II auch meist schon eine Wirkung – dafür hat man aber bei einem Impfstoff, gerade bei der Häufigkeit von SARS-CoV-2-Infektionen in den meisten Ländern, noch viel zu wenig Probanden.

In der Phase III braucht man dann so zwischen 30.000 und 50.000 Probanden in Gebieten mit relativ hoher Infektionstätigkeit, um nachweisen zu können, dass die Immunreaktion tatsächlich vor einer Erkrankung schützt. Wenn man das geschafft hat, und alle zugelassenen Impfstoffe haben das geschafft, dann kann man eine Zulassung beantragen.

Insofern, ja, mit einem zwei- bis dreistelligen Millionenbetrag für Patientenstudien könnte Stöcker in sechs bis neun Monaten soweit sein, dass das Zeug zugelassen wird – falls es denn tatsächlich irgendwie schützt und sicher ist. Nur sind da eben schon 24 Andere mit dem identischen Ansatz besser umgesetzt (nämlich mit Adjuvans) und nochmal 52 Andere mit anderen Impfstoffansätzen, die alle auf genau diesem Weg schon viel, viel weiter sind.

Es gibt aber noch ganz andere Erfahrungen mit der Entwicklung von Covid-Impfstoffen nach Stöckers Muster. CSL-Sequirus, einer der weltgrößten Hersteller von Grippeimpfstoffen, hat sein Projekt für die Entwicklung eines Protein-Subunit-Impfstoffs gegen Covid-19 aufgegeben, offensichtlich weil sich in Patientenstudien ergeben hat, dass der Impfstoff nicht gleichzeitig sicher und wirksam einsetzbar hinzubekommen war. Sanofi und GSK, zwei Pharmariesen mit breiter Impfstofferfahrung, hängen in ihrer Entwicklung eines solchen Impfstoffs seit vielen Monaten in frühen Patientenstudien fest und peilen jetzt eine Markteinführung frühestens zum Jahresende an. Ein weiterer der weltgrößten Impfstoffhersteller, MSD, hat seine Entwicklung eines Vektorvirusimpfstoffs aufgeben müssen und wird seine Produktionskapazität jetzt wohl an andere Hersteller vermieten. Es gibt also wesentlich kompetentere Leute mit wesentlich mehr Geld, die vor einem Jahr auch da waren, wo Stöcker jetzt ist, und die in der Zwischenzeit einsehen mussten, es funktioniert nicht. Es ist in der Arzneimittelentwicklung vollkommen normal, dass Substanzen, die vor und noch in Phase I extrem vielversprechend aussehen und unter Umständen schon mehrere hundert Millionen Euro verschlungen haben, sich dann in den großen Patientenstudien als unbrauchbar herausstellen. Stöcker möchte seinen „Impfstoff“ praktischerweise ohne diese kritischen Studien auf die Menschheit loslassen: „Denn eine Zulassung würde zu viel Zeit beanspruchen, in Deutschland bestimmt Jahre. Aber man bedarf in der aktuellen katastrophalen Situation keiner langwierigen Doppelblindversuche…“ Komischerweise haben die seriösen Covid-Impfstoffe, von denen wir aus Patientenstudien wissen, dass sie tatsächlich wirken und sicher sind, für eine Zulassung in Deutschland aber eben keine Jahre gebraucht. Die sind ja schon im Einsatz.

Und wenn man bis dahin das Stöcker-Zeugs außerhalb einer genehmigten, medizinisch überwachten Studie irgendwem spritzt, dann ist das keine Impfung, sondern schlicht Quacksalberei und Körperverletzung.

Und was mich an der ganzen Sache besonders ärgert, ist, dass sich deutsche Medien, nach ersten Meldungen schon im vergangenen Jahr, in den letzten Monaten alle paar Wochen wieder von diesem Selbstdarsteller an der Nase herumführen lassen.

Sucharit Bhakdi ist für Covid-19 nicht bloß kein Experte – es ist viel schlimmer

Eigentlich wollte ich zu Sucharit Bhakdi hier nichts schreiben. Anders als der kleinere Pseudoexperte der Schwurbelszene, Clemens Arvay, zu dem sich bis zu meinem Artikel hier so gut wie niemand von wissenschaftlich-kritischer Seite geäußert hatte (was sich inzwischen zum Glück ändert und sogar ein Stück weit auf Wikipedia niedergeschlagen hat), hat Bhakdi ja durchaus kritische Aufmerksamkeit bekommen. Anders gesagt, seine wirren Thesen zu Covid-19 sind schon seit März wieder und wieder und wieder und wieder auseinandergenommen worden. Eigentlich muss jetzt nicht noch ein unbedeutender Physikblogger über Bhakdi schreiben.

Dass ich es jetzt doch tue, hat zwei Gründe: Erstens geht es mir mal ganz grundsätzlich um die Frage, was jemanden eigentlich zum Experten macht, und zweitens bin ich einfach wütend. Ich bin wütend, weil Sucharit Bhakdi jetzt schon seit sechs Monaten wieder und wieder und wieder nachgewiesen wurde, dass er über Covid-19 einfach Blödsinn erzählt, aber etablierte Medien ihm wieder und wieder und wieder Sendezeit und Druckspalten einräumen und so den Eindruck erwecken, er sei für dieses Thema ein Experte mit einer abweichenden Meinung. Ganz aktuell tut das, leider nicht zum ersten Mal, die Fuldaer Zeitung – aber sie verweist dabei selbst auch auf ein aktuelles Interview bei der Deutschen Welle.

Die Deutsche Welle, immerhin DER internationale Informationskanal für die (und im Eigentum der) Bundesrepublik Deutschland, präsentiert Bhakdi in einem Musterbeispiel grotesker False Balance im Dialog mit dem Münchener Biometrieprofessor Ulrich Mansmann und bemerkt dazu, in Sachen Coronavirus seien die beiden „nicht immer einer Meinung“. Mansmann hat sich aus mir nicht erfindlichen Gründen schon mehrfach für ein solches „wissenschaftliches Streitgespräch“ mit Bhakdi hergegeben.

Was ist also nun von diesen Experten zu halten?  Auf den ersten Blick tragen beide Professorentitel (auch wenn Bhakdis Zeit als aktiver Professor schon lange zurück liegt), und beide sind oder waren an Universitätskliniken tätig. Mansmann wird gerne als Epidemiologe vorgestellt, Bhakdi als Virologe und Epidemiologe, weil er mal Direktor des Mainzer Instituts für medizinische Mikrobiologie und Hygiene war. Für Tageszeitungsniveau scheint das auszureichen, um einen Experten auszuweisen, aber in der Praxis ist es leider nicht so einfach. Sehen wir uns die beiden Kontrahenten also näher an und vergleichen sie mal mit zwei anderen Professoren, die aktuell als Experten für Covid-19 durch die Medien geistern, nämlich den Virologen Christian Drosten und Hendrik Streeck.

Nachtrag 2.11.20: Inzwischen hat sich auf Scienceblogs Christian Meesters mit einer recht ähnlichen Herangehensweise neben (deutlich knapper als hier) Bhakdi auch noch den Rest der MWGFD, Bhakdis Verein von, äh, lupenreinen Demokraten, angesehen.

Nachtrag 6.11.20: Ende Oktober (und damit für meinen Geschmack ein gutes halbes Jahr zu spät, aber immerhin) hat jetzt auch die Uni Mainz gleich auf der Startseite seines früheren Instituts eine deutliche Distanzierung von Bhakdis pseudowissenschaftlichem Unsinn veröffentlicht. Ähnliches ist von der Uni Kiel, wo seine Frau und Koautorin noch beschäftigt ist, schon länger zu lesen, nur nicht ganz so auffällig platziert.

Das klingt auf den ersten Blick nicht allzu drastisch, und in der Tat könnte man sich das, vor allem wenn man selbst noch dort tätig ist und seinen eigenen Ruf von Bhakdis Machenschaften mit geschädigt sieht, noch deutlicher wünschen. Man muss es aber im Vergleich dazu sehen, wie zurückhaltend Hochschulen sonst die unwissenschaftlichen Aktivitäten ihrer aktuellen und ehemaligen Professoren kommentieren. Mein früheres Max-Planck-Institut hat zu den wüsten, physikalisch nicht begründeten und für das allgemeine Verständnis der Physik massiv schädlichen öffentlichen Spekulationen seines ex-Direktors Hans-Peter Dürr leider nie ein kritisches Wort verloren, sondern im Gegenteil noch einen lobhudelnden Nachruf veröffentlicht. Die Hochschule Furtwangen hat zur pseudowissenschaftlichen Skalarwellenlehre ihres Professors Konstantin Meyl lediglich öffentlich erklärt, er dürfe sie nicht in seinen Vorlesungen unterrichten. Von der Ostfalia-Hochschule warte ich bis heute auf eine Distanzierung von Professor Claus Turturs pseudowissenschaftlichen Nullpunktsenergie-Phantastereien und seinem Auftritt auf einer Veranstaltung, auf der öffentlich der Holocaust geleugnet wurde (ja, von jemand anders, aber klar vorher zu erwarten). Immerhin, in der aktuellen Version der Hochschulhomepage werden seine Thesen nicht mehr wiedergegeben, und die Verlinkung zum rechten Kopp-Verlag ist auch weg (er darf dazu aber noch auf die Wayback Machine verweisen).

Verglichen damit sind die Stellungnahmen der Unis in Kiel und Mainz zu Bhakdi so ziemlich die akademische Version von „Halt’s Maul, du Arschloch!“

Zur meiner nun folgenden grundsätzlichen Betrachtung von Bhakdi und seinem angeblichen Expertenstatus empfehle ich auch dieses Video von Mailab vom 7. Oktober, dass ich fahrlässigerweise erst jetzt angesehen habe.

Bei der Frage, was eigentlich ganz grundsätzlich ein Experte ist, nehme ich einfach mal mein eigenes früheres Arbeitsgebiet als Beispiel. In der heutigen Wissenschaft ist die Zeit von Universalgelehrten wie Goethe, Galilei oder Ibn Sina lange vorbei. Genau genommen war sie das schon zu Goethes Zeiten, was für diesen eine gewisse Tragik ausmacht, aber das ist eine andere Geschichte. Kurz gesagt, wie es Florian Aigner im Ferngespräch-Livestream zur Wissenschaftskommunikation so schön zusammengefasst hat: Fast jeder ist zu fast jedem Thema ein Laie. In meiner Zeit am CERN, dem Max-Planck-Institut für Physik und dem Brookhaven National Laboratory Ende der 1990er Jahre habe ich mich mit der Entwicklung sogenannter Spurendriftkammern und der Analyse von Messfehlern darin beschäftigt. Das ist ein relativ alter Typ von Teilchendetektor, der heute vor allem noch in der Analyse von Kollisionen schwerer Atomkerne verwendet wird. Für die vielleicht zwei oder drei Handvoll Menschen weltweit, die sich damals für diese Messfehler interessiert haben, dürfte ich als einer der Experten gegolten haben. Jedenfalls haben Professoren aus dem Ausland mich nach meinen Ergebnissen und Einschätzungen gefragt.  Mit den Leuten, die das 20 Jahre später, zum Beispiel am ALICE-Experiment am CERN tun, könnte ich vermutlich immer noch ein halbwegs kompetentes Gespräch führen, und vielleicht würde mir sogar noch der eine oder andere nützliche Tip einfallen, der irgendwie nie aufgeschrieben wurde und in Vergessenheit geraten ist. Die Experten dafür sind aber die Leute, die das jetzt tun, nicht mehr ich. In der sonstigen Erforschung von Kollisionen schwerer Atomkerne verstehe ich noch ganz gut, was die Forscher tun. Früher war ich da noch deutlich näher dran, aber selbst damals hätte ich jemandem, der dazu einen anderen Detektortyp verwendet oder gar die theoretischen Modelle entwickelt, nicht sagen können, ob seine Arbeit gut oder schlecht und seine Ergebnisse richtig oder falsch sind. Das war noch in meinem engeren Fachgebiet, aber schon so weit weg, dass ich deren Ergebnisse einfach akzeptieren musste. Ich konnte sie aber verstehen, wiedergeben und auch Dritten erklären. Wenn ich heute zum Beispiel im Quantenquark-Buch andere Themen aus der Physik, etwa zum Higgs-Boson oder zur extrem ungeschickt so bezeichneten „Quantenteleportation“ erkläre, dann muss ich mich dazu vorher in das Thema einlesen. Ich kann mich dazu aber schneller und in der Regel besser einlesen, als jemand, der nicht Physik studiert hat. Würde ich mich jedoch hinstellen und erklären, das am CERN nachgewiesene Higgs-Boson sei gar kein Higgs-Boson, dann würde es in Genf – völlig zu Recht – nicht mal jemand für nötig halten, mir zu widersprechen. Ich kann den wissenschaftlichen Konsens in anderen Bereichen meines Fachs zwar erklären, aber mir fehlt jede Grundlage, um ihn kompetent in Frage zu stellen. Wenn ich die Physik verlasse und mir die Medizin ansehe, was ich in letzter Zeit pandemiebedingt ja öfter mal tue, dann bin ich noch ein Stück weiter weg und kann mich in der Regel noch ein wenig langsamer und schlechter einlesen, als das jemand könnte, der in der Medizin, dort aber in einem anderen Bereich tätig ist. Ich kann es aber immer noch besser als jemand, der nie wissenschaftlich gearbeitet hat oder aus einem Feld kommt, das ganz andere Methoden verwendet als die in der Hinsicht recht ähnlichen Felder Medizin und Naturwissenschaften, also zum Beispiel ein Philosoph, ein Historiker oder ein Jurist.

Was aber jeder können sollte, der wissenschaftliches Arbeiten gelernt hat, ist, mit überschaubarem Aufwand festzustellen, ob jemand für ein Thema Experte ist oder nicht. Dafür gibt es nämlich sehr einfache Methoden. Wer in einem Feld forscht, veröffentlicht seine Ergebnisse in wissenschaftlichen Fachzeitschriften. Ohne das geht es nicht, denn ohne Veröffentlichung gibt es keine gegenseitige Überprüfung. Also: Keine Veröffentlichung – keine Wissenschaft. Alle Veröffentlichungen in den seriösen Fachzeitschriften eines Gebiets lassen sich in entsprechenden Datenbanken recherchieren. Die wichtigste derartige Datenbank für die Medizin ist Pubmed, betrieben von der National Library of Medicine. Wenn jemand in der Medizin zu einem Thema wissenschaftliche Leistungen vollbracht hat, dann findet man das in Pubmed. Dort kann jeder recherchieren. Man hat nicht unbedingt kostenlosen oder auch nur erschwinglichen Zugang zu den Artikeln, aber man findet, wo die Artikel stehen, und dabei steht eine Zusammenfassung.

Was erwarten wir nun also von einem Experten für Covid-19? So eine Krankheit ist selbst wieder extrem komplex, und es arbeiten Spezialisten aus unterschiedlichen Teilbereichen der Medizin, Pharmazie und Mikrobiologie daran. Wenn es um Ansteckung, Ausbreitung und Gefährlichkeit geht, können einem aber am ehesten Experten aus zwei Themenbereichen weiterhelfen: Entweder sie forschen am Virus selbst (das tun überwiegend Virologen) oder an seiner Ausbreitung (das tun eher Epidemiologen). Einen Experten für das SARS-CoV-2-Virus würde man daran erkennen, dass er genau dazu wissenschaftliche Artikel veröffentlicht hat, idealerweise auch schon vorher zu anderen Coronaviren wie SARS, MERS, den Erkältungsviren oder tierischen Coronaviren. Ein Experte für die Epidemiologie von Covid-19 sollte eben darüber veröffentlicht haben, und vielleicht schon vorher zur Ausbreitung anderer Atemwegsinfekte wie Grippe oder grippalen Infekten.

Wenn Sucharit Bhakdi jemals zu irgendwelchen Coronaviren geforscht hat, dann sollte sich das in Pubmed sehr leicht finden lassen, schon über die sehr einfache Suchabfrage „Sucharit Bhakdi Coronavirus“. Sie liefert 0 Treffer. „Ulrich Mansmann Coronavirus“ liefert ebenfalls 0 Treffer – das ist aber nicht sonderlich überraschend. Ulrich Mansmann ist kein Virologe, sondern Mathematiker und in der Medizin ein absoluter Methodenspezialist für komplexe mathematische Modelle. Dementsprechend ziehen sich seine Publikationen durch alle möglichen Teilbereiche der Medizin, mit Schwerpunkten bei Krebs und Malaria. Wenn man die schwierig zu erfassende epidemiologische Situation rund um Covid im und nach dem Lockdown im Frühjahr mathematisch modellieren will, wäre Mansmann sicherlich jemand, der zumindest beratend hilfreich dabei sein könnte. Vielleicht tut er das auch gerade, vielleicht hat er es getan, aber nicht in hinreichend zentraler Rolle, um als einer der Autoren aufzutauchen. Wieviel Mansmann selbst zu SARS-CoV-2 oder Covid-19 geforscht hat, ist aber auch gar nicht wichtig, denn was er in den Streitgesprächen tut, ist, er erklärt den wissenschaftlichen Konsens. Man muss selbst kein Experte zu einem Thema sein, wenn man einfach nur das erklärt, was die Experten sagen. Wenn man hingegen die Experten alle für dumm oder korrupt ausgibt, sollte man schon belegen können, dass man selbst entsprechend Ahnung hat.

Machen wir den gleichen Test mal mit unseren Vergleichs-Virologen. Die Suchanfrage „Hendrik Streeck Coronavirus“ ergibt fünf Treffer, alle aus dem Jahr 2020. Das ist kein Wunder, denn Streeck gilt als Experte für HIV und hat bekanntermaßen erst im Zuge des Ausbruchs von Covid-19 angefangen, zu SARS-CoV-2 zu forschen. Die Suchanfrage „Christian Drosten Coronavirus“ ergibt 149 Treffer von 2020 bis zurück ins Jahr 2003. Das ist (neben seiner hervorragenden Wissenschaftskommunikation und seiner angenehmen Eigenheit, dabei sich selbst gegenüber der Sache zurückzunehmen) genau der Grund, weshalb so viele Leute Wert auf Drostens Einschätzungen zu Covid-19 legen: Es gibt wahrscheinlich niemanden in Deutschland, vielleicht niemanden in Europa, der mehr zu menschlichen Coronaviren geforscht hat als Christian Drosten.

Wenn Sucharit Bhakdi also nicht zu Coronaviren geforscht hat, dann vielleicht zur Epidemiologie von viralen Atemwegserkrankungen? Er wird ja gerne auch als Epidemiologe verkauft. Die Suchanfrage „Sucharit Bhakdi respiratory“ ergibt vier Treffer – keiner davon hat irgendetwas mit Viruserkrankungen zu tun, schon gar nicht mit Grippe oder Ähnlichem. Was ist denn aber dann mit dem angeblichen Virologen Sucharit Bhakdi? Zu irgendwelchen Viren wird er ja wohl geforscht haben? Die Suchanfrage „Sucharit Bhakdi virus“ ist einigermaßen ernüchternd: Sie liefert genau drei Treffer. Einer der Artikel beschreibt eine tatsächliche eigene Studie, in der es um den Schaden geht, den Dengueviren (die mit Coronaviren nichts zu tun haben) an Blutgefäßwänden anrichten können. Bhakdi ist einer von 20 Autoren und war vermutlich an der Studie beteiligt, weil er lange zu Blutgefäßwänden geforscht hat. Der zweite Treffer ist ein Konferenzvortrag, in dem Bhakdi über einen Sonderforschungsbereich berichtet hat, dessen Sprecher er war und in dem er selbst über (Überraschung!) Blutgefäßwände geforscht hat, während andere Forscher darin auch an Viren, vor allem Hepatitisviren geforscht haben. Der dritte Treffer ist aus dem Jahr 2009, eine Spekulation über mögliche Risiken für (eben!) Blutgefäßwände durch Grippeimpfstoffe mit Wirkverstärkern. Hier werden also tatsächlich Grippeviren erwähnt, es geht aber inhaltlich nicht um die Grippe, schon gar nicht um das Virus, sondern nur um die Impfverstärker. Nachdem solche Wirkverstärker seit Jahren bei einer Vielzahl von Impfstoffen eingesetzt und die Effekte in großen Studien überwacht werden, kann man mit Sicherheit sagen, dass die von Bhakdi damals herbeispekulierten Nebenwirkungen nicht eingetreten sind. Solche Spekulationen sind ein normaler Teil eines wissenschaftlichen Prozesses. Dass Bhakdi Spekulationen über Schäden durch Grippeimpfungen damals gerade während der (unvorhersehbar zum Glück relativ harmlos verlaufenen) Schweinegrippepandemie veröffentlicht hat, lässt aber bei ihm ein Muster erahnen, das sich möglicherweise heute wieder zeigt.

Das war es mit Sucharit Bhakdis Arbeiten, die mit Viren zu tun haben. Tatsächlich geforscht hat er zunächst vor allem zu Bakterien, später hat er eine Außenseitermeinung zur  Entstehung von Atherosklerose (also der Verhärtung von Blutgefäßwänden) vertreten. Darauf, beziehungsweise auf einen Teilaspekt davon, sogenannte ADAM-Proteasen, beziehen sich auch alle Artikel, die in Pubmed noch mit seinem Namen auftauchten, nachdem er  vor knapp 10 Jahren das Rentenalter erreicht hat. Auch Außenseitermeinungen sind als Beiträge zur Wissenschaft wertvoll – wenngleich in der großen Mehrzahl der Fälle falsch.

Auch darauf kommt es aber nicht an. Entscheidend ist, Bhakdi widerspricht zu Covid-19 dem wissenschaftlichen Konsens der Experten, und das ist in diesem Fall eben keine wissenschaftliche Außenseitermeinung, denn dazu müsste Bhakdi selbst Experte in diesem Feld sein. Es gibt aber in Bhakdis kompletter Publikationsliste nicht den geringsten Hinweis darauf, dass er von Coronaviren oder auch nur von irgendwelchen anderen Atemwegsviren oder von Viren überhaupt (abgesehen vielleicht von der Wirkung von Dengueviren auf die Gefäßwände) irgendeine fachliche Ahnung hat. Er äußert sich schlicht zu Dingen, von denen er selbst nichts versteht, versteigt sich aber dazu, den Fachleuten zu widersprechen, wo er bestenfalls ihre Ergebnisse erklären sollte.

Und dennoch wird er von der Deutschen Welle und vielen anderen Medien als Experte (mit einer ach so interessanten Außenseitermeinung) ausgegeben.

Sucharit Bhakdi ist aber nicht bloß kein Experte – es ist viel schlimmer. Was mich wirklich wütend macht, sind die Aussagen von Bhakdi in seinem Interview mit der Deutschen Welle, das am 3.10. veröffentlicht wurde. Es kann sich auch nicht um eine zu diesem Zeitpunkt schon lange zurückliegende Aufzeichnung handeln, denn Bhakdi spricht darin von März und April als „vor sechs Monaten“. Im nächsten Satz kommt aber die entscheidende Aussage von Bhakdis Behauptungen: „Jetzt aber, nachdem die Epidemie definitiv vorbei ist…“ Am 3. Oktober 2020 erklärte Sucharit Bahkdi, die Covid-19-Epidemie sei definitiv vorbei. Das hat nichts mit der Frage zu tun, ob jemand ein Experte für Coronaviren oder für Epidemiologie von Atemwegserkrankungen ist. Es hat schlicht damit zu tun, dass es nichts mit der Realität zu tun hat. Zu diesem Zeitpunkt gab es in Deutschland pro Tag schon wieder über 2000 nachgewiesene Neuinfektionen, mehr als fünfmal so viele wie beim Minimum im Sommer. Weltweit gab es jeden Tag mehr als 300 000 nachgewiesene Neuinfektionen und innerhalb eines Monats 165 000 Tote, bei denen Covid-19 nachgewiesen war. Wieviel höher die Zahl der tatsächlichen Todesopfer in Ländern wie dem Iran, Indien oder Teilen Afrikas gewesen sein muss, kann man nur raten. Selbst in den USA mit ihrem gut ausgebauten Gesundheitssystem lag die Übersterblichkeit während der gesamten Pandemie fast 50% über den gemeldeten Covid-19-Toten. In Italien wurden im März „nur“ 12 000 Covid-19-Tote registriert – es starben aber zwischen 25 000 und 30 000 Menschen mehr als sonst im gleichen Zeitraum. In Deutschland war zum Zeitpunkt von Bhakdis „definitiv vorbei“ auch die Zahl der Covid-19-Patienten in Intensivstationen schon wieder deutlich am Steigen, und in Spanien näherte sich das Gesundheitssystem bereits wieder der Überlastung. Alle diese Informationen waren für jeden verfügbar und problemlos nachzurecherchieren.

Ich weiß nicht, was Sucharit Bhakdi Anfang Oktober zu seiner Aussage bewegt hat, die Epidemie sei „definitiv vorbei“ – ich kann ihm ja nicht in den Kopf sehen. Mir fallen für eine Person, die zu diesem Zeitpunkt öffentlich eine solche Aussage gemacht hat, aber eigentlich nur drei denkbare Erklärungen ein: Pure Dummheit, bewusste Lüge oder ein durch Verschwörungsglauben ausgelöster Realitätsverlust, der eigentlich nur mit dem von Xavier Naidoo oder Attila Hildmann vergleichbar ist.

Update 29.1.2021:

Guten Flug, Herr Bhakdi; lassen Sie sich gerne Zeit mit dem Zurückkommen. Und wenn Sie Deutschland totalitär finden, dann können Sie sich in Thailand ja mal kritisch über den König äußern.

Was quakt wie Wissenschaft muss noch lange keine Wissenschaft sein

Update24.3.23: Ein bisschen was zum Nachdenken für die Querdenker, die hier in ihren Kommentaren herumpöbeln (die außer im Archiv für die Staatsanwaltschaft ohnehin nirgends zu sehen sein werden) und allen Ernstes von „Hetze“ gegen den Impfgegner und Verschwörungspropagandisten Arvay fabulieren, weil ein paar wissenschaftsinteressierte und -kompetente Bürger ihre Freizeit aufgewendet haben, um aufzuklären über die lebensgefährliche Desinformation, die Arvay über Covid, Impfungen und andere Schutzmaßnahmen verbreitet hat, über seine Verschwörungsideologie und seine Verbindungen zur rechten Szene. Seht es Euch an und überlegt einfach mal, ob Ihr wirklich zu diesen Leuten gehören wollt:

Update 18.2.21: Da ich keine Lust habe, noch mehr meiner Lebenszeit auf diesen Menschen zu verschwenden und in diesem Volksverpetzer-Artikel auch alles über Arvays Desinformation zu MaiLab gesagt ist, empfehle ich aktuell einfach mal, den zu lesen:
https://www.volksverpetzer.de/corona-faktencheck/cgarvay-mailabder/
Einzige, aber wichtige Korrektur dazu; der Volksverpetzer schreibt: „Er behauptet aber auch veraltete Sachen, so z.B: dass „die Impfstoffe“ (er formuliert das ständig so pauschal, ohne konkret zu sagen, welchen Impfstoff er eigentlich meint) nicht in der Lage seien, die Infektiosität zu senken, was laut aktuellen Studien noch gar nicht abschließend beurteilt werden kann.“
Abschließend vielleicht nicht, aber bei halbwegs vernünftiger Interpretation der verfügbaren Datenlage ist vollkommen offensichtlich, dass die Covid-Impfstoffe, bei denen dazu etwas untersucht wurde (von Pfizer und AZ) die Wahrscheinlichkeit einer Weitergabe ganz erheblich reduzieren. Was Arvay da verbreitet, ist also mal wieder nicht bloß veraltet, sondern einfach vollkommen falsch, und da er ja offenbar wenigstens ab und zu in Forschungsdaten reinschaut, frage ich mich schon, wie das sein kann, dass er das nicht auch selbst weiß.
Insofern freue ich mich auch schon auf den kommenden Artikel über ihn im lesenswerten Rechercheportal MedWatch, den Arvay freundlicherweise schon selbst angekündigt hat. Dann muss ich hoffentlich wirklich nicht nochmal selbst etwas über ihn schreiben.

 

Nach dem Politfossil mit ferner Vergangenheit im Gesundheitsamt, Wolfgang Wodarg, dem lange in Pension gegangenen Bakterien- und (zu dem Thema schon damals umstrittenen) Atheroskleroseforscher, der jetzt gerne so tut als wäre er Virologe, Sukharit Bhakdi (Update 5.10.20: Ulf J. Froitzheim hat Bhakdi und seinem seltsamen Netzwerk von Verschwörungsgläubigen inzwischen ausführlicher nachrecherchiert, Teil 2, vergisst aber zu erwähnen, dass Bhakdi in seiner lange zurückliegenden Zeit in der Wissenschaft kaum etwas zu Viren und gar nicht zu Corona-, Grippe oder Erkältungsviren, sondern fast nur nur zu Bakterien und Atherosklerose publiziert hat. Interessant ist auch der hier zusammengefasste Faktencheck zu Bhakdis Buch in der Süddeutschen Zeitung.), und dem Schwindeldoktor Bodo Schiffmann rückt in der Szene der Verschwörungsgläubigen gerade ein neuer Pseudoexperte in die erste Reihe: Der österreichische Autor Clemens Arvay. Anhänger des bizarren, antisemitischen QAnon-Verschwörungskults präsentieren Arvay ebenso als Experten für Covid-19 und für Impfstoffe wie der russische Propagandakanal RT Deutsch. Dass in derselben Videoreihe von RT Deutsch wie Arvay inzwischen auch mein alter Bekannter und früherer Skeptikerkollege Mark Benecke aufgetreten ist, finde ich… naja, sagen wir bedauerlich, aber das ist ein anderes Thema.

Damit sind wir dann mal wieder mitten im Covid-19-Thema und weit weg von den Quanten – und irgendwie muss ich sagen, dass ich mich ein bisschen nach der vergleichsweisen Harmlosigkeit der Quantenschwurbler zurücksehne. Aber nachdem ich mir das Impfthema ja jetzt schon mehrfach vorgenommen habe, was soll’s, es ist eben aktuell das Wichtige. Also, in for a penny, in for a pound!

Im Frühjahr hat Arvay noch hauptsächlich gegen den Mund-Nasen-Schutz agitiert; heute spielt er für die Verschwörungsmythenszene vor allem den Kronzeugen gegen RNA-Impfstoffe. Was es mit RNA-Impfstoffen und anderen modernen Impfstoffkonzepten auf sich hat, habe ich Anfang August in einem längeren Artikel erklärt, den ich noch für eine Weile versuchen werde, halbwegs aktuell zu halten. Was ist aber nun von Arvay und seiner Argumentation zu halten?

Update 23.9.2020: Um es gleich mal vorwegzuschicken, Arvay selbst hat in einem ziemlich ausführlichen Video auf diesen Artikel reagiert. Ein paar Punkte darin sind inhaltlich diskussionsfähig, andere sind eher ein Herausreden – kann man sich ansehen, wenn man viel Zeit hat.

Update 27.9.2020: Am 26. hat er noch ein weiteres Video online gestellt, in dem er sich jetzt ganz offen als Verschwörungsgläubiger outet: „Corona ist ein großer Aufzeiger, wie unsere Gesellschaft unterwandert ist.“ Dazu kreiert er eine bizarre Verschwörungsgeschichte um sich selbst, nach der er im Auftrag der Pharmaindustrie von Wikipedia, dem Genetikprofessor im Ruhestand Wolfgang Nellen (der nach seriösen wissenschaftlichen Publikationen von Arvay gesucht und wenig gefunden hat) und natürlich von mir verfolgt wird. Dabei hat er immerhin meine Firmenwebsite gefunden (Kunststück, die ist oben unter „Der Autor“ verlinkt), war aber offensichtlich nicht in der Lage zu erkennen, dass es sich um eine Strategieberatung und nicht, wie er sich einbildet, um eine PR-Agentur handelt. Ich kenne ja einige Pharmaunternehmen ganz gut, und ohne mich jemals mit deren PR-Abteilungen beschäftigt zu haben, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass jemand, der auf Youtube Pseudowissenschaft verbreitet, denen etwas anderes als vollkommen egal ist. Arvays gesellschaftliche Relevanz liegt ausschließlich darin, dass er Stichwortgeber für antidemokratische Gruppierungen ist. Dass es Menschen gibt, die sich einfach so in ihrer Freizeit für Demokratie und Wissenschaft engagieren, ist für Arvay offensichtlich vollkommen unvorstellbar, was vielleicht auch einiges über ihn aussagt. Im Video beruft sich Arvay beim Versuch, sich als seriösen Wissenschaftler auszugeben, mehrfach auf den Psychiater Raphael Bonelli, der mit seinem erzkatholischen RPP-Institut in Österreich als aggressiver Covid-Verharmloser in Erscheinung tritt, trotz Fallzahlen in Österreich, die zum Zeitpunkt (Update 23.10.20) doppelt so hoch waren wie in Deutschland, Social Distancing als „extrem schädlich für die Menschen“ bezeichnet hat, früher „Psychiatrie am Telefon“ auf Radio Maria angeboten und auch schon einen „Homo-Heiler“ zu einem seiner Kongresse eingeladen hat. Beim Versuch, sich zu rechtfertigen, demontiert Arvay ganz nebenbei noch seine ohnehin bescheidene eigene wissenschaftliche Reputation – und die seiner früheren Hochschule gleich mit. Das Video ist also echt sehenswert.

Vorgestellt wird er bei seinen Absonderungen zu RNA-Impfstoffen als „Biologe“, was offenbar Sachkompetenz vorspiegeln soll – schließlich könnte ein Human- oder Molekularbiologe tatsächlich zum menschlichen Immunsystem oder zu Impfstoffen geforscht haben. Hat er aber nicht. Arvay ist Diplomingenieur in „Angewandten Pflanzenwissenschaften“ von der Universität für Bodenkultur Wien (Update 23.9.20: Bemerkung über die Universität für Bodenkultur entfernt). Update 27.9.20: Inzwischen hat Arvay in einem Video selbst erklärt, dass er seine offenbar einzige ernstzunehmende Leistung an einer wissenschaftlichen Institution überhaupt, nämlich seine Masterarbeit, am dortigen Institut für Gartenbau abgelegt hat – und zwar über die Soziologie von Selbstversorgern. Über einen Abschluss in Biologie verfügt er nicht. Eine Doktorarbeit, in der er überhaupt in relevantem Umfang geforscht haben könnte, hat er nicht gemacht. Nun gehöre ich ja nicht zu den Leuten, die meinen, dass eine Promotion der erste Schritt zur Menschwerdung sei. Die meisten Menschen, die promoviert haben, einschließlich mir, brauchen das für ihre tägliche Arbeit überhaupt nicht, aber in Arvays Fall ist das tatsächlich relevant: Seinen Versuchen, wissenschaftlich klingende Artikel zu verfassen, ist nämlich deutlich anzumerken, dass er wissenschaftliches Arbeiten schlicht nie gelernt hat.

Arvay ist also nicht vom Fach was Impfungen angeht. Nun habe ich schon bei meinem letzten Artikel zum Thema klargestellt, mein Fachgebiet ist das auch nicht. Ich kann, weil ich eben wissenschaftliches Arbeiten gelernt habe, den wissenschaftlichen Konsens in einem fremden Fachgebiet wiedergeben und erklären – das ist es aber auch. Ich würde mir nicht anmaßen, denen, die in einem Fachgebiet forschen oder denen, die beruflich deren Ergebnisse zusammenfassen (bei Impfstoffen zum Beispiel dem Paul-Ehrlich-Institut) zu erzählen, wie sie ihre Arbeit zu machen haben. Deswegen bemühe ich mich zum Beispiel auch, vorsichtig mit Äußerungen zum „Insektensterben“ zu sein, obwohl mir (mit meinem Hintergrund in einer experimentell arbeitenden Naturwissenschaft) beim Design der Studien, die dieses Sterben belegen sollen, die Haare zu Berge stehen. Das ist etwas vollkommen anderes, wenn ein pseudowissenschaftliches Glaubenssystem wie die Homöopathie „wissenschaftliche“ Studien verbreitet, die nicht den Standards im eigenen Fachgebiet (also der evidenzbasierten Medizin) entsprechen und zur Begründung Behauptungen aufstellt, die fundamentalen Erkenntnissen experimentell wesentlich zuverlässigerer Naturwissenschaften widersprechen.

Arvays Verkaufsargument ist „Ökologie“. Was er darunter versteht ist allerdings eher eine Art mystisch aufgeladene Naturromantik mit steilen Thesen zum Beispiel über gesundheitliche Effekte des Betrachtens von Bäumen, die er um immer dieselben aus dem Zusammenhang gerissenen Aussagen aus immer derselben Handvoll fragwürdiger Studien herum ausschmückt.

Seine vermeintliche Glaubwürdigkeit zu Impfstoffen gründet sich darauf, dass es ihm irgendwie gelungen ist, im Juli einen Artikel über „Genetische Impfstoffe gegen COVID-19“ in der Schweizerischen Ärztezeitung (SÄZ) unterzubringen. Einen ähnlichen Coup mit der Fachzeitschrift eines Berufsverbandes hatte er schon 2018, als er es geschafft hat, einen esoterischen Artikel über die angebliche Heilkraft des Waldes der Deutschen Apothekerzeitung (DAZ) unterzujubeln. Eine wissenschaftliche Begutachtung der Artikel (peer review) gibt es bei beiden Blättern nicht, sondern „Die Redaktion prüft eingereichte Beiträge nach den Kriterien der Qualität, Originalität und Aktualität“, wie es bei der SÄZ heißt.

Aktuell und, äh, ja, irgendwie auch originell ist Arvays SÄZ-Artikel wirklich, nur mit der Qualität ist das so eine Sache. Es handelt sich im Wesentlichen um ein offenbar per Schlagwortsuche zusammengetragenes Sammelsurium von Bedenken zu modernen Impfstofftechniken aus völlig unterschiedlichen Quellen und Motivationen. Verstanden hat Arvay von dem, was er da angesammelt hat, ganz offensichtlich nicht viel. So schreibt er, die Verabreichung von DNA-Impfstoffen erfolge standardmäßig über stark beschleunigte Goldpartikel mit einer sogenannten Genkanone. Alle derzeit an Patienten getesteten DNA-Impfstoffe werden jedoch durch eine ganz normale Injektion verabreicht. Das ist auch kein Wunder, denn um eine gute Impfquote erreichen zu können, muss eine Impfung ja ohne aufwendige technische Geräte in einer Hausarztpraxis zu verabreichen sein. Zu RNA-Impfstoffen zitiert er (auch bei RT Deutsch) Überreaktionen in Tierversuchen zu anderen Coronaviren, hat aber offensichtlich nicht verstanden, dass gerade dieses Risiko bei traditionellen Lebend- und Totimpfungen viel größer wäre. Das geringere Risiko von Überreaktionen ist ja eben der Hauptgrund, warum in westlichen Ländern moderne Impfstoffe (z.B. die auf RNA- und DNA-Basis) favorisiert werden. Noch größer wäre ein solches Risiko von Überreaktionen natürlich, wenn exakt dieselben Antigene wie bei einer Totimpfung durch aktive Viren bei einer normalen Covid-19-Infektion eingebracht würden – und man darf nicht vergessen, dass ohne Impfstoff früher oder später (je nach sonstigen Maßnahmen) rund drei Viertel der Bevölkerung so infiziert würden. Bei Arvays haarsträubender Übertreibung in der SÄZ, eine Phase-III-Studie dauere „typischerweise 4–6 Jahre“ muss man sich die Frage stellen, ob es sich hier ebenfalls um Unkenntnis oder doch eher um bewusste Desinformation handelt.

Das tatsächliche Problem bei Arvay ist aber nicht das, was er in der SÄZ geschrieben hat, wo allzu offensichtlicher Unsinn der Redaktion dann wohl doch aufgefallen wäre. Auf RT Deutsch erklärt er, bei RNA-Impfstoffen würde „manipulierte genetische Information […] vom Körper inkludiert […] in die eigenen genetischen Abläufe“. In dieser Formulierung ist das keine direkte Lüge, je nachdem, wass man unter genetischen Abläufen verstehen will, aber es erweckt ganz gezielt den falschen Eindruck, als würde damit das menschliche Erbgut verändert. Eine nicht ganz so bizarre These, die sowohl in der SÄZ als auch bei RT Deutsch auftaucht, bezieht sich auf DNA-Impfstoffe (die sich durchweg noch in der Phase-I-Erprobung oder in der vorklinischen Phase befinden). Bei diesen, so Arvay, könnte DNA aus dem Impfstoff zufällig ins Erbgut einzelner Körperzellen integriert werden. Falls wiederum zufällig eine sehr ungünstige Stelle des Erbguts betroffen wäre, könnte das fremde DNA-Stück dort ein Gen zerstören, das das Wachstum der Zelle kontrolliert – das könnte dann zu Krebs führen. Auch hier erweckt er allerdings den Eindruck, es könne das Erbgut von mehr als einzelnen Zellen betroffen sein. Schon eine Schicht tiefer in der Schwurbelszene, bei Wolfgang Wodarg, wird daraus die schwachsinnige Behauptung, DNA- und RNA-Impfungen seien gentechnische Veränderungen des Menschen. Weiterhin kehrt Arvay unter den Teppich, dass selbst die von ihm in der SÄZ angegebene Quelle ausdrücklich erklärt, dass es für diesen angenommenen Effekt experimentell kaum Bestätigungen gibt. Was bei dieser Hypothese völlig untergeht, ist, dass die gleiche Integration fremder DNA in das Erbgut mit dem gleichen Tumorrisiko natürlich ebenso bei jedem beliebigen der ständig im Körper vorkommenden Bakterien oder Viren passieren könnte, insbesondere bei solchen, die wie der Impfstoff DNA in Plasmidringen enthalten. Dafür ist es nämlich völlig belanglos, welcher fremde DNA-Schnipsel da zufällig an einer verheerend ungünstigen Stelle im Erbgut einer einzelnen Zelle landet.

Kurz gesagt, Arvay benutzt im typischen Stil moderner Verschwörungsideologen ein Gemisch aus Halbwahrheiten, unzulässigen Verkürzungen und aus dem Zusammenhang gerissenen Details, um den Eindruck zu erwecken, es gäbe globale dunkle Machenschaften, hinter denen, wie er ausdrücklich betont, Bill Gates stecke. (Update 23.9.2020: Dagegen wehrt er sich inzwischen, spricht aber schon im nächsten Moment in Bezug auf Gates Engagement von „einer Seilschaft mit verschiedenen Pharmakonzernen“.) Dementsprechend ist es auch kein Wunder, dass seine Aussagen im Wesentlichen von den typischen Fake-News-Schleudern der Verschwörungsmythenszene verbreitet werden.

Anders als die meisten Verschwörungsideologen scheint er jedoch weniger politische als Marketingzwecke zu verfolgen, denn rein zufällig erscheint in wenigen Tagen sein neues Buch, dessen Untertitel die Arvay’sche Phantasiewelt wunderbar zusammenfasst: „Wie Umweltzerstörung die Corona-Pandemie auslöste und warum ökologische Medizin unsere Rettung ist“.

Update 29.8.21: Endlich fangen, wenigstens in Österreich, auch die Medien mal an, sich mit dem rechten Propagandanetzwerk um Clemens Arvay zu beschäftigen. Deutsche Medien, wie hier z.B. die Frankfurter Rundschau, fallen ja leider immer wieder auf ihn herein.