Warum (und wie) sich Naturwissenschaftler zu medizinischen Themen äußern sollten

Da ich in den Kommentaren hier immer wieder gesagt bekomme, als Physiker könne oder dürfe ich mich doch nicht kompetent zu gesundheitlichen Themen äußern, wollte ich dazu gerne etwas schreiben. Jetzt habe ich aber festgestellt, besser als Florian Aigner das gerade auf Facebook getan hat, kann man (oder jedenfalls ich) das einfach nicht ausdrücken. Daher freut es mich, dass ich seinen Text hier einfach übernehmen darf. Dank und Zustimmung möge also bitte direkt an Florian gehen – für Kritik und Diskussionsbedarf bin ich auch offen, da ich das ja exakt genauso sehe.

„Warum äußerst du dich als Physiker zu medizinischen Themen wie COVID-19? Das ist doch nicht dein Gebiet!“ Das höre ich jetzt wieder besonders häufig, oft gewürzt mit üblen Beschimpfungen. Gut, ich erkläre es gerne noch einmal.
Zuallererst: Jeder darf sich immer zu allem äußern. In einer Demokratie ist es Unsinn, jemanden dafür zu kritisieren, dass er sich zu einem bestimmten Thema äußert. Kritisieren soll man ihn, wenn er zu ein Thema Unsinn erzählt. Aber wahr ist natürlich: Nur weil man das Recht hat, seine Meinung zu verbreiten, heißt das noch lange nicht, dass es eine gute Idee ist. Manchmal ist es klüger, sich nicht zu äußern, und stattdessen lieber anderen Leuten zuzuhören, die es besser wissen. Ich als Physiker ärgere mich auch manchmal, wenn Leute über Physik reden, die keine Ahnung haben. Die erzählen dann, sie hätten Einstein widerlegt oder den Energieerhaltungssatz überlistet, verstehen aber nicht einmal die einfachsten Grundlagen.
Aber genau das mache ich nicht: Ich verbreite keine eigenen Theorien über medizinische Fragen. Ich habe nämlich keine. Ich bin fachlich nicht in der Lage, die Thesen der Experten zu überprüfen oder zu widerlegen, daher käme ich auch nicht auf die Idee, das zu versuchen. Vielleicht kann ich mir als Physiker ein paar ganz einfache mathematisch-statistische Zusammenhänge ansehen – aber auch hier gibt es Leute, die das besser, detaillierter und mit mehr Hintergrundwissen machen. Ich würde mir bei solchen Dingen niemals anmaßen, ein Experte zu sein.
Zwei Dinge gibt es in dem Zusammenhang allerdings schon, bei denen ich behaupten kann, ziemlich viel Erfahrung zu haben. Erstens: Nach langer naturwissenschaftlicher Ausbildung kann ich (zumindest in gewissem Rahmen) nachvollziehen, ob jemand naturwissenschaftlich arbeitet. Ich kann zwar keine Detailfehler in medizinischen Arbeiten finden, aber ich kann in vielen Fällen zumindest haarsträubenden Unsinn als solchen erkennen. Esoteriker von Wissenschaftlern zu unterscheiden – das gelingt meist recht einfach. Und zweitens: Nach fast 15 Jahren Wissenschaftsjournalismus glaube ich, komplizierte Dinge einigermaßen verständlich erklären zu können. Wenn es darum geht, medizinische Thesen aufzustellen, bin ich sicher kein Experte. Wenn es darum geht, aufgestellte Thesen zu erklären, dann schon ein bisschen.
Manchmal führt das zu seltsamen Situationen: Es gibt manchmal ganz spezielle Ärzte, die furchtbaren unwissenschaftlichen Unsinn erzählen. Wenn ich ihnen dann widerspreche, hat das keine gute Optik: Er ist doch ein Arzt, ich „nur“ Physiker. Da muss bei medizinischen Fragen doch der Arzt recht haben, oder? Nein – nicht wenn der Physiker sich zum Anwalt der naturwissenschaftlichen Medizin macht und die Meinung der besseren, naturwissenschaftlichen Ärzteschaft vertritt, während der verhaltensauffällige Arzt (peinlicherweise) jedes wissenschaftliche Denken verlassen hat. Auch dem Automechaniker würde ich beim Autoreparieren widersprechen, wenn er das Auto gesundbeten möchte – obwohl ich ziemlich wenig Ahnung von Autos habe.
Darum geht der Vorwurf „bleib bei deinem Fachgebiet“ ins Leere. Es stimmt: Wenn jemand kein Experte ist, sich aber gegen die Meinung der Experten stellt, dann sollte man vorsichtig sein. Ihm sollte man wirklich nur dann glauben, wenn er außergewöhnlich gute Argumente hat. Aber jemanden, der die Meinung der Experten wiedergibt, dafür zu kritisieren, selbst kein Experte zu sein, ist Unsinn. Nach diese Logik dürfte es keinerlei Journalismus geben, sondern nur noch Fachpublikationen. Das will wohl niemand.
Also: Sollte ich eines Tages verrückt werden, die etablierte Medizin attackieren und stattdessen mein eigenes Wunderheilmittel verkaufen, dann sollte man mich bitte mit aller Härte kritisieren. Solange ich aber nur versuche, zwischen Wissenschaft und verständlicherer Sprache zu übersetzen, sollte man mich kritisieren, wenn ich dabei Fehler mache – aber nicht dafür, dass ich es versuche.
Bei der Gelegenheit möchte ich es mir natürlich nicht nehmen lassen, auch auf Florians neues Buch aufmerksam zu machen. Darin erklärt er genau das, woran es bei vielen der Mediziner, die wir kritisieren, genau mangelt: Die Frage, wie eigentlich Wissenschaft funktioniert und was wissenschaftliches Arbeiten ist. Und Florian schreibt auch sonst sehr viel Lesenswertes.

4 Gedanken zu „Warum (und wie) sich Naturwissenschaftler zu medizinischen Themen äußern sollten“

  1. immer wieder gesagt bekomme

    Gräßlich, nicht wahr? Diese antiVericundiam-Versuche zur Eigen­Immunisierung nerven überall, egal wie gut sie auch sprachlich verbrämt sein mögen. Der Klassiker aus dem täglichen Leben dürfte wohl ‚Hast Du überhaupt Kinder?‘ sein…

    Übrigens eine hübsche Demonstration sinnvollen copy/pastes.

  2. Das Problem entsteht aber meistens vor der argumentativen Auseinandersetzung, denn die Welt der individuellen Wahrheit wurde bereits davor in die gute und die böse Seite aufgeteilt, während der eigene Platz dort längst reserviert ist. Söder nennt das heute „Abschottung von Argumenten“. Es soll Fachleute geben, die machen ihm denselben Vorwurf. So verhärten sich Fronten, vertiefen sich die Gräben. Die kritischen Pfeile und Geschütze der Vernunft kommen nicht mehr an. Die Kunst der Moderation liegt darin, Brücken zu bauen, Gehör zu finden, um eine breite Debatte aller Fachleute zu ermöglichen und dabei auch noch die Bürger aller Schichten mitzunehmen. Der Abschuss von emotionsgeladenen Pfeilen scheint dabei vielversprechend. Der wunde Punkt ist das Angstzentrum des Kontrahenten. Ihn gilt es zu treffen, um vorwärts zu kommen.

    1. Den Kommentar verstehe ich nicht.
      Der Sinn von Wissenschaft ist ja gerade, die „individuellen Wahrheiten“, die es natürlich auch in den Köpfen von Wissenschaftlern gibt, systematisch so vollständig wie nur möglich aus der Wahrheitsfindung auszuschließen.
      Und zwischen Wahr und Unwahr gibt es vielleicht Brücken, aber eben keinen Mittelweg.

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