Das ist jetzt schon der zweite Artikel hier in relativ kurzer Zeit, den ich nie schreiben wollte. Warum sollte ich als Physiker auch einen Artikel über die Infektionssterblichkeit bei Covid-19 schreiben? Ich bin ja kein Epidemiologe. Das muss man allerdings auch nicht, um den publizierten Stand der Wissenschaft zusammenzufassen – und genau daran fehlt es in Deutschland leider momentan, obwohl das am Tag 2 unseres „Lockdown Light“ eigentlich eine wichtige Hintergrundinformation wäre.
Das Spannendste und Solideste, was es aktuell zu dem Thema zu sagen gibt, ist gestern in einer Metastudie in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift zum Thema erschienen, nämlich in Nature. Sucht man aber in Google nach dem Namen der Hauptautorin in Verbindung mit dem deutschen Begriff „Sterblichkeit“, dann findet man in den gängigen Medien, Stand heute – nichts. Dieses wichtige Ergebnis ist an den deutschen Medien wenigstens am Tag 1 komplett vorbeigegangen.
Ganz anders sah das vor einer Woche noch mit einem schlampigen Sammelsurium des wissenschaftlichen Außenseiters John Ioannidis aus. Das wurde nicht nur völlig unkritisch bei Heise abgefeiert, sondern auch in der Berliner Zeitung, und der Merkur verkaufte das Traktat sogar als „Corona-Studie der WHO“. Der Hintergrund der bizarren Fehleinordnung ist, dass Ioannidis‘ Text im WHO-Bulletin erschienen ist, einer wissenschaftlich vergleichsweise unbedeutenden Zeitschrift, die, von der WHO finanziert, vor allem dafür da ist, billige Veröffentlichungsmöglichkeiten für Studien aus Entwicklungsländern zu schaffen. Bekannt geworden ist Ioannidis 2005 mit der steilen These, die meisten veröffentlichten wissenschaftlichen Ergebnisse aus der Medizin seien falsch. In 2020 hat er aber schon seit dem Frühjahr eine verharmlosende Arbeit über Covid-19 nach der anderen herausgehauen, wobei dem ehemals selbsternannten Wächter über die Sauberkeit der medizinischen Wissenschaft offensichtlich jedes Mittel recht ist, um zum gewünschten Ergebnis zu kommen. Ganz bezeichnend: Während er zu anderen Themen als Methodenspezialist gerne in eine lange Autorenliste mitgenommen wird, publiziert er seine Traktate zu Covid-19 in der Regel allein – offenbar zögern die Kollegen, ihren guten Namen dafür herzugeben.
Zunächst mal, worum geht es? Die Infektionssterblichkeit ist der Anteil der insgesamt Infizierten, der stirbt. Sie ist deutlich schwieriger herauszubekommen als die im Frühjahr viel diskutierte Fallsterblichkeit, also der Anteil der erfassten Infizierten, der stirbt. Der lag in Deutschland und vielen anderen Ländern zeitweise um 5 Prozent, als man nur einen kleinen Teil der Infizierten überhaupt diagnostiziert hat – aber das ist natürlich wenig aussagekräftig. Sucharit Bhakdi behauptet gerne, die Infektionssterblichkeit läge bei Covid-19 bei 0,1 bis 0,2 Prozent und sei damit nicht höher als bei einer Grippe. Dass Ioannidis‘ gerne in den Medien verbreiteter Medianwert von 0,23% nicht weit darüber liegt, verleiht Bhakdi natürlich scheinbare Glaubwürdigkeit.
Mit dem Bestimmen der Infektionssterblichkeit gibt es zwei Probleme:
Erstens muss man dazu die Dunkelziffer der Diagnosen erfassen, was in der Regel dadurch erfolgt, dass man rückwirkend möglichst halbwegs repräsentative Stichproben auf SARS-CoV-2-Antikörper von schon vergangenen Infektionen testet. Dabei handelt man sich leicht allerlei Verzerrungen ein, weil man in einem freien Land ja schlecht eine zufällig ausgewählte Stichprobe zwangstesten kann. Wer einem Test zustimmt, tut das in der Regel eher, wenn er den Verdacht hat, infiziert gewesen zu sein – das ist aber nicht der einzige störende Einfluss und nicht der einzige Grund, warum es eine solche repräsentative Studie für ganz Deutschland noch nicht gibt. Eine aktuelle Antikörperstudie in Bayern zeigt immerhin schon mal, dass wir die Zahl infizierter Kinder und Jugendlicher (und damit die Rolle von Kindergärten und Schulen für die Ausbreitung von Covid-19) bislang massiv unterschätzt haben – was nichts gutes für einen Lockdown erwarten lässt, der ausgerechnet diese Einrichtungen ausklammert.
Zweitens ist die Sterblichkeit extrem altersabhängig, und da gerade kleinere Ausbrüche Altersgruppen teilweise sehr unterschiedlich betreffen, ist auch da die Gefahr groß, ein falsches Bild zu bekommen. Das schränkt auch die Aussagekraft von Studien in einzelnen Dörfern, wie der sogenannten Heinsberg-Studie, die nicht in Heinsberg, sondern in Gangelt stattgefunden hat, oder von der aus Ischgl, seeeeehr ein.
Was noch hinzukommt: Die Zahl der Todesfälle, bei denen Covid-19 diagnostiziert wurde, ist nur ein Teil der Wahrheit. Das Gerede, ob jemand „an Corona oder nur mit Corona“ gestorben wäre, ist ja hinlänglich bekannt. Die entscheidende Frage ist aber, wie viele Menschen sterben wegen eines Covid-19-Ausbruchs, und das sind nicht etwa weniger, sondern erheblich mehr als diagnostiziert werden. Ein Beispiel zeigt die Sterbestatistik über die letzten sechs Frühjahre in Italien:
Die Sterbezahlen sind aus den stärker betroffenen Regionen in Italien [nachträgliche Korrektur]. Je nachdem wie man den Abstand zum langjährigen Mittel berechnet, kommt man allein für diese Regionen im März 2020 auf 15.000 bis 20.000 Tote mehr als in diesem Monat im Durchschnitt der Vorjahre. Gleichzeitig wurden in ganz Italien nur rund 12.000 Todesfälle durch Covid-19 gemeldet. Das dürfte einerseits daher kommen, dass in einer Situation wie in Bergamo Behandlungen für andere Krankheiten zum Teil unterbleiben oder Leute sich schlicht nicht in die Krankenhäuser trauen, andererseits daran, dass alte Menschen, die zu Hause an Covid-19 sterben, unter Umständen nie getestet werden, wenn der Arzt eben Herzversagen in den Totenschein schreibt. Das ist ein Einzelbeispiel; die tatsächlichen Todeszahlen sind aber bei allen größeren Ausbrüchen deutlich höher als die erfassten. Das zeigt eine Vielzahl von Studien für eine Vielzahl von Ländern. Dieser Anstieg der Sterbezahlen ist auch nicht einfach nur, wie gerne behauptet, eine Folge des Lockdowns, denn in Ländern wie Deutschland oder Neuseeland, die im Frühjahr einen großen Ausbruch erfolgreich verhindert haben, hat der Lockdown allein nicht zu einer Übersterblichkeit geführt. Eine Studie, die auch die Veränderungen bei einzelnen Todesursachen nachverfolgt hat, zeigt sogar, dass in Südafrika der Lockdown auch die dort sehr relevanten Todesursachen Verkehrsunfälle und Tötungsdelikte spürbar gesenkt hat. Dennoch kam es in der Folge mit dem Anstieg der Covid-Erkrankungen zu einer deutlichen Übersterblichkeit.
Man muss sich also darüber im Klaren sein, dass die Infektionssterblichkeit zu Covid-19 die Anzahl der tatsächlichen Todesfälle deutlich zu niedrig angibt. Das ist anders als bei der Grippe, wo die Sterblichkeitszahlen von vornherein nicht aus Diagnosen, sondern aus der Übersterblichkeit in der Grippesaison abgeleitet werden.
Wie hoch ist aber nun die Infektionssterblichkeit, mit der man bei einer breiten Durchseuchung der deutschen Bevölkerung rechnen müsste? Die eingangs erwähnte Publikation in Nature von O’Driscoll et. al. wertet dazu aus 22 jeweils landesweiten Erfassungen von großen Probandenzahlen die Zahl der Verstorbenen im Vergleich zur Zahl der (nach Antikörperstudien) infiziert Gewesenen aus – und zwar nach Altersgruppen aufgeteilt. So ergibt sich ein ziemlich dramatischer Zusammenhang von Alter und Sterblichkeit (man beachte die logarithmische Skala):
Es sterben insgesamt etwas mehr Männer als Frauen, aber ganz grob liegt die Sterblichkeit bei 0,01% für Mittzwanziger, 0,1% für Mittvierziger, 1% für Mittsechziger und 10% für über 80Jährige. Diese Altersabhängigkeit allein erklärt nach der Analyse den größten Teil der Unterschiede in der Sterblichkeit zwischen unterschiedlichen Ländern und unterschiedlichen regionalen Ausbrüchen. Wendet man das auf die Altersstruktur der deutschen Bevölkerung an (auch das steht schon in der Studie), dann kommt man auf eine durchschnittliche Sterblichkeit von 0,9%. Anders gesagt, wenn man die Epidemie durch die deutsche Bevölkerung laufen ließe, bis sie durch Herdenimmunität allmählich an Bedeutung verliert, dann würden dadurch voraussichtlich rund 600.000 Menschen sterben – vorausgesetzt, wir können das durch regelmäßige Lockdowns so in die Länge ziehen (über ungefähr drei bis fünf Jahre), dass unsere Krankenhäuser dabei nicht überlastet werden (sonst würde die Übersterblichkeit wie in Italien diese Zahlen noch weit übersteigen). Ersparen können uns das nur gute Impfstoffe, die wir hoffentlich bald haben.
Wie stark die Sterblichkeit von Ausbrüchen in Pflegeheimen und ähnlichen Einrichtungen abhängt, zeigt die Studie auch: Bei der ersten Welle in Frankreich lag die Infektionssterblichkeit bei 1,1%. Hätte man alle Ausbrüche in Pflegeheimen verhindern können, dann hätte sie nur 0,74% betragen – was immer noch viel mehr ist als Bhakdis und Ionannidis‘ abenteuerliche Behauptungen. Das macht die Forderung der Lobbyisten von der „Great Barrington Declaration“ und dem Streeck-KBV-Papier nach einem gezielten Schutz nur für die Risikogruppen und „Freiheit zum Anstecken“ für alle Anderen aber nicht realistischer: Die wenigen Länder, die das wie Großbritannien oder Schweden ernsthaft versucht haben, sind damit krachend gescheitert.
Die Erkenntnisse der Studie von O’Driscoll et. al. sind auch nicht vom Himmel gefallen. Viele der Einzelstudien, auf denen die Metaanalyse beruht, sind schon seit Monaten veröffentlicht, und die Ergebnisse wurden in der seriösen Wissenschaft auch schon länger mit genau diesen Schlussfolgerungen (nur bislang nicht mit dieser statistischen Stringenz) diskutiert. Die Studie zeigt auch eine gute Übereinstimmung mit einer früheren Metaanalyse von Levin et. al.. Sie widerspricht auch nicht einer australischen Metaanalyse von Meyerowitz-Katz und Merone, die im Durchschnitt vieler Länder und ohne explizite Modellierung der Altersabhängigkeit auf eine Infektionssterblichkeit nahe 0,7% kommt. Deutschland hat eben eine relativ alte Bevölkerung.
Ich würde mich freuen, wenn das mit der relativ alten Bevölkerung noch eine Weile so bleibt – oder sich zumindest nicht dadurch ändert, dass wir uns aufgrund von Desinformationskampagnen und Verschwörungsglauben ein Massensterben älterer Mitmenschen einhandeln.