Physikstudium schützt vor Quark nicht – im Zweifel nicht mal ein Nobelpreis

Vor einigen Tagen schlug es ziemliche Wellen, als mehr als 100 Nobelpreisträger (nach der Veröffentlichung haben sich offensichtlich noch einige angeschlossen – die aktuelle Zahl liegt bei 110) Greenpeace aufgefordert haben, den Widerstand gegen die Agrarbiotechnologie aufzugeben. Nicht nur der Zeitpunkt mitten in der Glyphosat-Debatte, sondern auch der Adressat war offensichtlich rhetorisch gewählt: Greenpeace hat als reine Lobbyorganisation bei dem Thema faktisch natürlich keinerlei Entscheidungsgewalt, und nach einer Kehrtwende bei einem solchen Kernthema könnte sich Greenpeace genausogut gleich selbst auflösen.

Die spannende Frage ist aber eigentlich eine ganz andere: Warum interessiert uns eigentlich, ob der Volkswirtschaftsprofessor Lars Peter Hansen oder der Elementarteilchen-Theoretiker Sheldon Glashow die Risiken der Gentechnik für überschätzt halten? Wissenschaftliche Auszeichnungen bekommt man für besondere Leistungen in einem in der Regel eng begrenzten Fachgebiet, und die sagen oft wenig aus über das Verständnis der Welt im Allgemeinen oder auch nur das Wissen zu anderen Teilbereichen des eigenen Fachs.

Die Relevanz der Unterstützerliste liegt in diesem Fall zum einen in der schieren Zahl der Unterzeichner, zum anderen in der überwältigenden Zustimmung unter den fachnahen Preisträgern. Die Zahl der Unterzeichner übertrifft deutlich die jüngerer Aufrufe zum Klimaschutz (71 Preisträger) und gegen Kreationismus an Schulen (42 Preisträger). Die Unterzeichner des Aufrufs zur Gentechnik machen rund ein Drittel der derzeit überhaupt lebenden Nobelpreisträger aus, und sie kommen ganz überwiegend aus den Naturwissenschaften. Unter den 110 Unterzeichnern finden sich ganze acht Wirtschaftswissenschaftler, nur eine Preisträgerin für Literatur (Elfriede Jelinek) und ein Friedensnobelpreisträger (mit José Ramos-Horta wenig überraschend ein Repräsentant eines Entwicklungslandes, in dem viel Reis angebaut und gegessen wird und der Goldene Reis besonders hilfreich wäre). Vor Elfriede Jelinek ziehe ich in diesem Kontext meinen Hut – ein so klares Bekenntnis zur Gentechnik dürfte ihr unter unseren chronisch fortschrittspessimistischen Intellektuellen wenig Freunde bringen. Die anderen 100 Unterzeichner kommen aus den Fachgebieten Chemie, Physik und Medizin (einen separaten Nobelpreis für Biologie gibt es nicht). Von den neueren Preisträgern für Chemie oder Medizin kann man tatsächlich viele als Experten für Gentechnik bezeichnen, und gerade die haben den Aufruf fast alle mitgetragen. In dieser Zusammensetzung und Geschlossenheit repräsentieren die Preisträger dann eben doch die wissenschaftliche Expertise ihrer Fachgebiete und geben dem Aufruf damit eine gewisse Relevanz, wenn auch wohl gerade nicht für Greenpeace.

Wenn eine solche geschlossene Aussage der Masse fachnaher Nobelpreisträger zumindest eine Trendaussage zum „Stand der Wissenschaft“ ist, heißt das aber nicht, dass auch Aussagen einzelner Nobelpreisträger zu Themen außerhalb ihres Forschungsgebiets immer hilfreich sind. Anderenfalls hätte man sich auch von diesem Herrn hier über Schuhmode beraten lassen können:

Albert Einstein in Plüschpantoffeln

Albert Einstein in Sandalen

Albert Einstein in Bademantel und so einer Art Ballerinas

(die Bilder binde ich nicht mehr ein, dank DSGVO)

Zu den bekannteren traurigen Beispielen von Nobelpreisträgern, die teilweise üblen pseudowissenschaftlichen Unsinn verbreitet haben, gehört der Chemiker Linus Pauling. In seiner wissenschaftlich produktiven Zeit machte er wichtige Entdeckungen rund um chemische Bindungen zwischen Atomen. Ihm wird die Einführung des Begriffs der Elektronegativität zugeschrieben. Daraus, dass jemand im Labor chemische Bindungen untersucht hat, folgt aber leider nicht, dass er auch ein gutes Verständnis der Erforschung von Arzneimittelwirkungen am Menschen hat. Nach seinem Rückzug aus dem aktiven Wissenschaftsbetrieb propagierte Pauling mit geradezu religiösem Eifer (und offenbar auch mit einigem Geschäftssinn) die angeblich positiven Gesundheitseffekte extrem überdosierter Vitamine. Wie viele Menschen seitdem durch seinen „orthomolekularen“ Vitaminwahn gestorben sind, ist schwer nachzuvollziehen, aber allein die Folgen in Südafrika unter der Mbeki-Regierung im vergangenen Jahrzehnt waren dramatisch.

Beim Durchklicken der Gentechnik-Experten unter den Unterzeichnern des Greenpeace-Aufrufs hatte ich dann direkt wieder das Bedürfnis, die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen. Ohne die Polymerase-Kettenreaktion (PCR) wäre die moderne Biotechnologie kaum denkbar, und ihr Erfinder ist offensichtlich jemand, der etwas über Gentechnik zu sagen hat und ein verdienter Nobelpreisträger. Was Kary Mullis sonst so von sich gibt, lässt mich allerdings stark daran zweifeln, ob ich auf ihn als Unterstützer für ein Anliegen allzu großen Wert legen würde. Mullis glaubt an Astrologie und behauptet, von Außerirdischen entführt worden zu sein und seine wissenschaftlichen Erkenntnisse im LSD-Rausch erlangt zu haben. Wenn man ihn erklären hört, warum er nicht glaubt, dass AIDS vom HIV-Virus verursacht wird, drängt sich allerdings der Verdacht auf, dass er es mit den Drogen ein Bisschen übertrieben hat:

Kary Mullis

Womit wir, wie es sich für diesen Blog hier gehört, zu den Physikern kommen. „Aber da ist ein Physiker, der hat gesagt…“ war für mich schon der Anfang von so mancher Horrordiskussion und hat mich vor fast 20 Jahren zur Skeptikerbewegung geführt. Die Vorgeschichte dieses Posts hier war ein Facebook-Meme mit dem Text: „The universe responds to the vibrations you create, think happy and happiness will come to you. You must simply resonate your frequencies with the frequencies of the universe. – Said no physicist ever.“ Ich habe das Bild gerne geteilt, aber im Stillen hatte ich meine Zweifel, ob das „no physicist ever“ tatsächlich zutrifft. Bedauerlicherweise ist mir schon viel zu viel Quantenquark von Autoren begegnet, die es eigentlich besser wissen müssten. Dazu muss man nicht einmal bis zu obskuren Physikern wie Dirk Schneider und seinem Buch mit dem absurden Titel „Jesus Christus Quantenphysiker“ gehen. Ich werde mich im Folgenden auf namhafte Forscher mit einer erkennbaren wissenschaftlichen Biographie beschränken.

Glücklicherweise fallen hier wenigstens die Nobelpreisträger nicht unbedingt durch Quantenunsinn auf, jedenfalls mir bislang nicht. Für anderslautende Hinweise bin ich dankbar – ich werde sie dann in einem späteren Artikel verarbeiten. Der Physiknobelpreisträger von 1973, Ivar Giæver, würde allerdings ganz sicher die Mainauer Deklaration zum Klimawandel nicht unterschreiben, denn er verbreitet einige eher fragwürdige Ideen zur Klimaforschung.

Wenn wir mal mit den harmloseren oder vielleicht auch eher missverstandenen Fällen in der Physik anfangen, ist unter den Ersten sicherlich Hans-Peter Dürr zu nennen. Der 2014 verstorbene Dürr war zwar kein Nobelpreisträger, aber ein angesehener theoretischer Physiker, und hat bis heute viele Fans: Als ich im vergangenen Jahr im Editorial des Physik-Jounals appelliert habe, Physiker sollten sich mehr gegen Quantenunsinn engagieren, bezogen sich alle negativen Reaktionen ausschließlich auf meine Kritik an Dürr. Er ging als Direktor des Max-Planck-Instituts für Physik in München gerade in den Ruhestand, als ich angefangen habe, dort zu promovieren, und etwa seit diesem Zeitpunkt wurden seine Äußerungen auch immer wunderlicher. Seine Aussage „es gibt keine Materie“ wird von Esoterikern besonders gerne zitiert. Als persönliche Spekulationen von jemandem, der eben nicht mehr wissenschaftlich arbeiten muss, sind seine nicht überprüfbaren Aussagen natürlich legitim. Dummerweise werden sie aber bis heute von vielen Leuten als Stand der Wissenschaft aufgefasst, weil sie von einem seinerzeit hochdekorierten Wissenschaftler stammen.

Bei Professoren für theoretische Physik, die mit Begeisterung von Esoterikern zitiert werden, kommt man leider auch nicht am Freiburger Emeritus Hartmann Römer vorbei. Zusammen mit dem Psychologen Harald Walach, der später Hogwarts an der Oder aufgebaut hat, verbreitete er die schwache oder generalisierte Quantentheorie. Ausführlichere skeptische Betrachtungen der schwachen Quantentheorie gibt es von Philippe Leick bei der GWUP und von Joachim Schulz auf SciLogs. Kurz zusammenfassend kann man sagen, die schwache Quantentheorie ist eben keine Quantentheorie, sondern ein Anwenden von Begriffen aus der Quantenmechanik auf Objekte, auf die sie nach den Erkenntnissen der Physik eben nicht anwendbar sind, zum Beispiel die quantenmechanische Verschränkung auf Homöopath und Patient. Walachs Ex-Chef Walter von Lucadou verschränkt auch schon mal Fußballspieler, wie hier schon erwähnt wurde.

Wie auch Walach und Römer stark im religiösen, genauer gesagt katholischen Umfeld verwurzelt ist auch Markolf Niemz, Professor für Biophysik an der Universität Heidelberg. Er beschäftigt sich wissenschaftlich hauptsächlich mit Medizintechnik, vor allem mit der Anwendung von Lasern. Bekannt geworden ist er aber über seine drei Lucy-Bücher. Darin erklärt er, als Roman verpackt aber als Sachbuch gemeint, die Halluzinationen von Menschen, deren Gehirn durch Herzstillstand mit Sauerstoff unterversorgt war, zu Blicken ins Jenseits, und zwar mit abstrusen Begründungen aus der Relativitätstheorie. Im Engel-Magazin behauptet er, beim Sterben würde die Seele auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt. Seine Begründung, auf der die ganze hanebüchene Geschichte aufbaut: Die Schilderungen der Halluzinationen klingen so ähnlich wie Simulationen der Wahrnehmung von Reisenden nach der Relativitätstheorie aussehen müssten, wenn sie sich der Lichtgeschwindigkeit annähern.

Noch ein Biophysiker, der in dieser Reihe natürlich keinesfalls fehlen darf, ist der Biophotonen-Papst Fritz-Albert Popp. Popp war in den 1970er Jahren längere Zeit Dozent an der Universität Marburg. Dass er eine feste Professur erhielt, wurde damals angeblich von Medizin-Dekan Heinrich Oepen verhindert, dem Gatten der Mitgründerin der Skeptikerorganisation GWUP, Irmgard Oepen. Später hat sich Popp jahrelang mit einem eigenen „Forschungsinstitut“ durchgeschlagen, hat Seminare für Heilpraktiker und andere, sagen wir Interessierte, angeboten, Bücher verkauft und jede Menge Vorträge auf Esoterikerkonferenzen gehalten. Ich halte ihn für jemanden, der anfangs durchaus ernsthafte Forschung betreiben wollte, sich dann in eine Außenseitertheorie verrannt hat und sich schließlich damit eingerichtet hat, dass er Applaus nur von der Eso-Fraktion bekommt. Auf Popps Biophotonen-Unsinn bin ich schon in zwei Vorträgen eingegangen, die man beide auf Youtube ansehen kann, einen ausführlichen und einen im handlichen Science-Slam-Format. Verlinkt sind beide hier schon in diesem Post.

Kein Professor, aber ein äußerst erfolgreicher Sachbuchautor mit Doktortitel aus Cambridge ist John Gribbin. 2009 hat ihn die Association of British Science Writers für sein Lebenswerk geehrt, und in der Tat scheint er lichte Momente zu haben. Dieses Zitat erklärt richtig gut, warum viele Menschen solche Probleme haben, die Quantenmechanik zu akzeptieren (das Verstehen ist ja oft gar nicht das Hauptproblem):

Gribbins unwissenschaftlicher Durchbruch war 1974 das Buch The Jupiter Effect, in dem er und Stephen Plagemann orakelten, am 10. März 1982 würde es auf der Erde zu gigantischen Naturkatastrophen kommen, weil dann sämtliche Planeten auf der selben Seite der Sonne stünden. Bis am genannten Datum natürlich nichts passierte, hatte er Zeit, massenweise Bücher zu verkaufen und auch noch in einem Fortsetzungsband zu erklären, warum dann wohl doch keine Katastrophen passieren würden (weil ja schon 1980 der Mt. St. Helens ausgebrochen war). Eine wirkliche Katastrophe, jedenfalls für das Verständnis von Wissenschaft in der Öffentlichkeit, war hingegen Gribbins Buch Auf der Suche nach Schrödingers Katze. Quantenphysik und Wirklichkeit. Kaum ein konstruktivistischer Philosoph, der sein gefährliches Halbwissen über Quantenmechanik herumschwurbelt, kommt ohne Gribbins Katzensermon als Quelle aus. Quantenheiler, Buddhisten, neurolinguistische Programmierer, Mystiker und Heiler mit Schröpfköpfen berufen sich auf Gribbin, wenn sie sich zusammenspinnen, dass Materie aus dem menschlichen Bewusstsein entstünde.

Ebenfalls ein promovierter Physiker mit Abschluss im angelsächsischen Raum ist Fritjof Capra, der Urgroßvater aller Quantenschwurbler. Von Capras Tao der Physik war schon vor 25 Jahren mein Physiklehrer begeistert, und ich hatte schon damals das vage Gefühl, dass da irgendwas keinen Sinn ergibt – nur hatte ich eben nicht das Wissen, um zu sagen, was. Capras Argumentationsmuster ist das gleiche wie bei vielen seiner Nachfolger: Unsere bildlichen und verbalen Beschreibungen dessen, was die Quantenmechanik berechnet, haben mit viel Phantasie eine vage Ähnlichkeit mit den Schriften antiker asiatischer Mystiker. Na klar, da muss doch irgendein Zusammenhang bestehen! Das kann doch kein Zufall sein!

Irgendwie kommt offenbar niemand darauf, dass umgekehrt ein Schuh daraus wird: Unser Gehirn hat sich evolutionär nicht dazu entwickelt, sich subatomare Vorgänge, also das Arbeitsfeld der Quantenmechanik, wirklich realistisch vorstellen zu können. Wer versucht, die Quantenmechanik, möglichst auch noch einfach, zu beschreiben, kommt also nicht umhin, mehr oder weniger brauchbare Metaphern zu finden. Die wird man bevorzugt aus Themenbereichen entleihen, die einem vertraut sind aber dennoch weit genug entfernt vom Alltagsleben und der Alltagsliteratur, um nicht allzu wörtlich verstanden zu werden (was dann natürlich doch immer irgendwer tut). In einer Zeit, in der sich die asiatische Mystik als fremdes und faszinierendes Thema unter Europas Intellektuellen ausbreitete, bot sie den idealen Bilderlieferanten, um über die fremdartige Welt der Quantenmechanik zu philosophieren.

Als Murray Gell-Mann in den 1960er Jahren die neu entstehende Quantenchromodynamik in Worte packen musste, benannte er eine darin auftauchende Ordnung von acht Teilchen nach dem achtfachen Weg der Weisheit aus dem Buddhismus. Als er aber wenig später eine Bezeichnung für die immer in Dreiergruppen auftauchenden Bauteile unserer Kernteilchen suchte, hatte er statt der Yanas offenbar gerade James Joyce gelesen und landete bei den in der Physik dadurch berühmt gewordenen „Three quarks for Muster Mark“. Hier zeigt sich einmal mehr, dass Physiker in der Auswahl ihrer Bezeichnungen und Bilder besonders sorgfältig sein sollten, weil fast überall die seltsamsten Bedeutungen hineingeheimnist werden, wie ja gerade wieder das CERN feststellen muss.

Hätten sich statt der Quantenmechanik die Vorstellungen der „arischen Physik“ um Philipp Lenard als zutreffend erwiesen, würden wir uns heute möglicherweise darüber wundern, welch tiefgründige Einblicke in die Natur der Materie doch die Autoren der Edda hatten…

Tanzende Götter am CERN und die Probleme der Wissenschaftskommunikation

Die Mehrheit der Menschheit hat keine Ahnung von der Bedrohung durch das CERN. Das behauptet zumindest der Verschwörungsblog Oppt-Infos zwischen rechtsextremer Reichsbürger-Idologie, angeblichen Wundermitteln gegen Krebs und Geschwurbel über Gedankenkontrolle durch Funkwellen. Laut der Weltuntergangsseite Dailycrow beschwören CERN-Experimente zur dunklen Materie Erscheinungen dunkler Gestalten herauf, und das CERN hat auch das Erdbeben im April 2015 in Nepal ausgelöst. Der antisemitische Socioecohistory-Blog sieht das CERN kurz vor dem Durchbruch in eine Parallelwelt, in der niemand anders als der Satan persönlich wartet. Die „Wissenschaft“, die der Menschheit den Turm von Babel beschert hat, treibe auch die Forscher am CERN, erklärt eine Seite mit dem bezeichnenden Namen „Now the End Begins“. Natürlich kann auch der widerwärtige Honigmann-Blog da nicht abseits stehen und schreibt vom CERN als „von den Illuminaten und dem Vatikan kontrollierten Raumhafenverstärker und Manipulationsanlage“.

Mitunter argumentieren solche Seiten einfach nur mit absurder Pseudophysik. „We are Anonymous“ erklärt zum Beispiel, die Ableitung von „16 TW“ Strahlenergie des CERN-Beschleunigers LHC hätte möglicherweise eine verheerende Schockwelle durch die Erde bis nach Nepal und so das Erdbeben verursacht. Hintergrund ist offensichtlich eine bizarre Vertauschung von Einheiten. Die Energie zweier kollidierender Teilchen im LHC hat nichts mit 16 Terawatt zu tun (das wäre die Leistung von zehntausend Kernkraftwerken), sondern liegt bei 16 TeV (Teraelektronenvolt). Das klingt nach viel, sind aber in normalen Einheiten gerade 0,0000025 Joule, entsprechend ungefähr der Aufprallenergie einer Biene, die gegen eine Fensterscheibe fliegt. Noch anders ausgedrückt, die Energie von 800 Milliarden LHC-Kollisionen entspricht etwa dem Nährwert eines schmalen Mittagessens. Nun kann ein 27 Kilometer langer Tunnel natürlich ziemlich viele Teilchen enthalten, so dass die Gesamtenergie eines LHC-Strahls dann doch ungefähr die Wucht eines fahrenden Personenzuges hat. Das ist verglichen mit einem Erdbeben aber immer noch sehr, sehr bescheiden.

Ein stetig wiederkehrendes Motiv in der Argumentation dieser Verschwörungspropheten hat das CERN allerdings selbst aufgestellt, nämlich eine zwei Meter hohe Statue des indischen Gottes Shiva als tanzender Zerstörer der Dummheit und Neuerschaffer des Universums. Die Dummheit hat diese Figur ganz offensichtlich nicht zerstört, sondern ihr vielmehr reichlich Futter verschafft. Die Figur steht nicht in einem Bereich, in den regelmäßig größere Besucherströme kommen, aber doch relativ prominent zwischen dem besseren der CERN-Gästehäuser für angereiste Wissenschaftler und dem Bürogebäude der LHC-Experimente. Als Kunst am Bau bereichert sie so ein Ensemble der architektonisch netteren und moderneren Gebäude am CERN – die meisten Verwaltungsbauten dort sehen eher nach 60er-Jahre-Plattenbau aus.

Foto: Wikimedia / Kenneth Lu

Poetisch oder philosophisch angehauchte Physiker inspiriert die Figur gerne einmal zu träumerischen Exkursen, zum Beispiel Aidan Randle-Conde auf dem eigentlich seriösen Quantum-Diaries-Blog. Das ist legitim und verständlich. Die Suche nach den Ursprüngen des Universums und den Vorgängen im Innersten der Materie ist ein Thema, das fast zwangsläufig zur Träumerei und Poesie anregt. Dazu bieten die Experimente am CERN Bilder von einer bizarren und mitunter majestätischen Ästhetik, die einem sonst kaum begegnen. Das Bedürfnis, sich über die rein wissenschaftliche Arbeit hinaus auszudrücken und zu inspirieren, ist unter den tausenden in Genf forschenden Physikern immer da, von AlpineKats höchst lehrreichem LHC-Rap bis zum Arts@CERN-Programm, das unter anderem Stipendien für im Forschungszentrum arbeitende Künstler vergibt. Gerade ein solches Projekt, der Ballettfilm Symmetry, wird aber in Verbindung mit der Shiva-Statue gerne zur Dämonisierung des CERN und der Teilchenforschung insgesamt missbraucht.

SymmetryOccult

Tatsächlich steckt hinter der Shiva-Statue eine spannende Geschichte, in der brilliante Köpfe, Machthunger und unglaubliche Zerstörungskraft eine Rolle spielen. Nur für die Außenkommunikation einer diplomatischen, multinationalen Organisation wie dem CERN ist sie möglicherweise weniger geeignet:

In Deutschland kaum zur Kenntnis genommen, ist Indien eine der großen Wissenschaftsnationen für die moderne Physik. Die Seite thefamouspeople listet zum Beispiel eine Anzahl bedeutender indischer Physiker auf (bizarrerweise mit ihren Sternzeichen): C.V. Raman entdeckte den quantenmechanischen Effekt der Aufnahme und Abgabe von Licht an Molekülen, der unter anderem erklärt, warum Gewässer oder Gletscher blau erscheinen. Satyendra Nath Bose leitete besondere statistische Eigenschaften bestimmter Teilchen her, die unter anderem für das Phänomen der Superfluidität verantwortlich sind (sogenannte Bose-Einstein-Kondensate). Für Boses Artikel darüber bot sich kein anderer als Albert Einstein als Übersetzer ins Deutsche an. Der Nobelpreisträger Subrahmanyan Chandrasekhar untersuchte die Entwicklung von Sternen unterschiedlicher Größe und fand, dass schwarze Löcher nicht nur rechnerische Ergebnisse der allgemeinen Relativitätstheorie sind, sondern tatsächlich als Überbleibsel sehr schwerer Sterne existieren.

Durch den Status als blockfreies Land konnten indische Wissenschaftler sowohl mit westlichen als auch mit sowjetischen Forschungseinrichtungen zusammenarbeiten. Ende des 20. Jahrhunderts war Indien in den großen internationalen Forschungskooperationen der Kern- und Teilchenphysik vertreten. In der Zeit des Internet-Hypes, als den Labors in Europa und den USA IT-kundige Physiker massenweise abgeworben wurden, bot Indien nicht nur hervorragend ausgebildete, sondern auch bezahlbare Fachkräfte.

Im Mai 1998 endeten viele dieser Kooperationen im wahrsten Sinne des Wortes mit einem Knall. Mit der Zündung einer Wasserstoffbombe in der nordindischen Thar-Wüste begann eine Serie von fünf indischen Kernwaffentests, die heftige internationale Reaktionen und zum Teil Handelssanktionen auslösten. Indische Kernphysiker bekamen kaum noch Einreisevisa in die USA, geschweige denn die Möglichkeit, ihre Arbeit an den oft vom US-Verteidigungsministerium geführten amerikanischen Grundlagenforschungszentren fortzusetzen. Das Internet war zwar als Kommunikationsmedium in der Wissenschaft schon gut etabliert, aber ohne persönliche Treffen kann man bis heute kaum produktiv in einer Forschungskooperation mitarbeiten. Ich erinnere mich, dass wir als deutsches Partnerinstitut in München vom New Yorker Brookhaven National Lab aufgefordert wurden, selbst in E-Mail-Kommunikation mit indischen Kollegen darauf zu achten, dass uns nicht eventuell Informationen durchrutschen, die das amerikanische Embargo unterlaufen könnten.

In Europa waren die Reaktionen weniger harsch, und in den Folgejahren wurde das CERN mit seinem besonderen völkerrechtlichen Status zu einem der wichtigsten Zentren, an denen indische Physiker noch international kooperieren konnten. 2002 erhielt Indien neben Russland, Japan und den USA den herausgehobenen Status eines Beobachterlandes am CERN. Inzwischen ist es allerdings von Pakistan überholt worden, das 2015 als drittes nichteuropäisches Land (nach dem Vollmitglied Israel und der Türkei) assoziiertes Mitglied des CERN wurde. Assoziierte Mitglieder haben mehr Mitspracherechte als Beobachter, müssen aber auch regelmäßige Beiträge zahlen. Vor diesem Hintergrund ist es zu sehen, dass das CERN 2004, sechs Jahre nach Beginn der wissenschaftlichen Isolation Indiens und zwei Jahre nach der Aufnahme als Beobachterland, von der indischen Regierung ein Denkmal geschenkt bekam.

Warum dieses Denkmal ausgerechnet die Form einer Shiva-Statue hat, darüber kann man natürlich trefflich spekulieren, aber es drängen sich einige Erklärungen auf, die wenig mit angeblichen spirituellen Bezügen der Teilchenphysik zu tun haben. Zum Einen wird ein Reisender, der zum Beispiel einem indischen Gastgeber eine Geste der Aufmerksamkeit aus good old Germany mitbringen will, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu einem Bierseidel oder einer Kuckucksuhr greifen, auch wenn er selbst möglicherweise aus Hannover stammt und wenig Bezug zu dieser Art von süddeutschem Kulturgut hat. Die Bundesregierung würde sich vielleicht für eine Goethe-Statue entscheiden. Wenn man bedenkt, welche Souvenirs deutsche Touristen aus Indien mitbringen, erscheint die Shiva-Statue als eine angemessene Entsprechung. Die Auswahl hat aber auch eine handfeste politische Dimension: Zum Zeitpunkt der Entscheidung über das Geschenk wurde Indien von Premierminister Vajpayee und der Hindu-nationalistischen BJP regiert. Die BJP hatte gerade den Physiker und Koordinator der Kernwaffentests von 1998 Abdul Kalam (selbst ein Moslem) zum Staatspräsidenten gemacht. Die Kernforschung und internationale Kooperation als Elemente des Nationalstolzes gedanklich mit hinduistischer Tradition zu verknüpfen, lag also durchaus im Interesse der Regierenden in Neu Delhi. Die CERN-Leitung konnte auf der anderen Seite die Geber auch nicht düpieren und das großzügige Geschenk in einem der reichlich vorhandenen Abstellräume unterbringen.

Hätte das CERN aber die Möglichkeit gehabt, Missinterpretationen der Statue wie die eingangs genannten Verschwörungstheorien zu vermeiden? Zumindest hätte man schon 2004 deutlicher sagen können, dass es sich bei dem Bronze-Shiva einfach um ein Kunstobjekt und eine politische Geste handelt. Man hätte schon in der ursprünglichen Pressemeldung religiöse Bezüge vermeiden können. Man hätte nicht die Skeptiker-Ikone Carl Sagan mit seinem rein metaphorisch gemeinten Vergleich zwischen dem Tanz Shivas und dem kosmischen Tanz der Teilchen als Repräsentanten pseudoreligiöser Spekulationen heranziehen müssen. Insbesondere wäre es aber hilfreich gewesen, neben der Shiva-Statue nicht auch noch eine „Erläuterungs“-Tafel dazu mit Zitaten des unsäglichen Quantenmystik-Schwurblers Fritjof Capra aufzustellen, was dieser genüsslich zur Selbstdarstellung benutzt. Dann hätte man es sich womöglich erspart, mit ungelenken Erklärungen reagieren zu müssen, nachdem das Kind in den Brunnen gefallen ist.

Ja, Physiker brauchen mitunter die Romantisierung und Überhöhung dessen, woran sie dort arbeiten. Manchmal ist es nötig, den Blick von der Verkabelung seiner Messapparatur und den Programmzeilen seiner Simulationssoftware zu heben und auf das Wunderbare zu richten, das es in der Welt der Teilchen zu entdecken gibt. In der Außenkommunikation ebnet diese Romantisierung aber nur zu oft den Weg zur Dämonisierung der Wissenschaft an sich.