Warum ich niemals von „Atomenergie“ spreche und Kernphysik wenig mit Kerntechnik zu tun hat

In letzter Zeit wurde der ehemalige Leiter der Henri-Nannen-Schule, die Journalistenikone Wolf Schneider, ja vor allem noch als (mit 97 Jahren tatsächlich) alter weißer Mann zur Kenntnis genommen, der sich dementsprechend zum Gendern äußert. Als ich in den 1990er Jahre in der Journalistischen Nachwuchsförderung der Adenauerstiftung war, gehörte Schneiders „Deutsch für Profis“ für Journalisten und solche, die es werden wollten, aber zur Pflichtlektüre. Ja, ich habe journalistisches Schreiben mal gelernt, auch wenn man es hier im Blog vielleicht nicht überall merkt. Die Freiheit nehme ich mir, lebt damit, ich mache das schließlich unbezahlt in meiner Freizeit. Aber, ja, ich kann sogar Schachtelsätze vermeiden, wenn es sein muss, und gelernt habe ich das nicht zuletzt aus Schneiders Buch.

Was allerdings schon damals meinen Kragen deutlich überdehnt hat, war das Kapitel „Das treffende Wort“. Einiges davon hat sich heutzutage glücklicherweise weitgehend erledigt. So schrieb er über den kindischen Begriff „Geisterfahrer“, er sei ein treffendes Wort, denn „Jeder versteht es,“ was in der Realität allenfalls für die „Jeders“ zutrifft, die mit der deutschen Sprache aufgewachsen sind. In Radiowarnungen hat sich inzwischen glücklicherweise die unmissverständliche Formulierung „kommt Ihnen ein Falschfahrer entgegen“ durchgesetzt.

Nun ist mir, wenn es nicht gerade um lebenswichtige Warnungen geht, die Wortwahl von anderen Menschen in den allermeisten Fällen ziemlich egal. Wer Verschwörungsmythen, Verschwörungsideologien und andere Verschwörungserzählungen oder gar das ganze Phänomen des Verschwörungsglaubens heute immer noch als Verschwörungstheorien bezeichnen will, weil er meint, mit dem Begriff klarzukommen, kann das von mir aus tun. Ich ziehe es vor, genauer auszudrücken, worum es mir geht, seit ich erfolglos versucht habe, für das Buch mit dem späteren Titel „Verschwörungsmythen“ sinnvoll abzugrenzen, was eine Verschwörungstheorie eigentlich sein soll. Wer seine Texte durchgendern mag, kann das von mir aus gerne tun; wenn jemand das lieber lässt, stört es mich auch nicht. Ich war dem Verlag dankbar, dass das bei meinen Teilen von „Fakt und Vorurteil“ das Lektorat für mich übernommen hat.

Problematisch wird es aber, wenn, unter Umständen sogar bewusst, ein falsches Verständnis der Sache vermittelt wird – und das gilt natürlich im besonderen Maß für den Journalismus.

In dieser Hinsicht haben sich einige von Schneider propagierte Problembegriffe leider als langlebiger und schädlicher erwiesen: „Atomwaffen, Atombomben, Atomraketen und Atomkraftwerke: Das ist die deutsche Sprache, und nichts sonst.“ Das Problem dabei ist nicht, dass Schneider von dem Sachverhalt, um den es bei diesen Begriffen geht, offensichtlich keine Ahnung hat und, wie sich das Buch liest, auch keine haben will. Das Problem ist, dass er und viele Andere in Deutschland aus ideologischen Gründen an schlicht und einfach falschen Worten festhalten, weil diese sich über die Jahrzehnte als politische Kampfbegriffe etabliert haben: „Wer sollte etwas gegen Kerne haben! Ein Grund mehr, von ‚Atomkraftwerken‘ zu sprechen und nur von ihnen.“ Wer Journalist werden will, sollte laut Schneider also etwas gegen Kernkraftwerke haben – ein höchst bedenkliches Selbstverständnis für den Leiter einer Journalistenschule.

Was ist nun aber am „Atomkraftwerk“ eigentlich falsch? Atomare Prozesse, die von der Atomphysik erforscht werden und bei denen man meinen sollte, dass dort „Atomenergie“ frei wird, die in einem „Atomkraftwerk“ genutzt wird, laufen innerhalb eines Atoms zwischen dessen Bestandteilen ab – also zwischen dem Atomkern und den ihn umgebenden Elektronen. Bei diesen Prozessen wirken praktisch ausschließlich elektromagnetische Kräfte. Im Prinzip gehört auch die Erzeugung von relativ energiereicher Röntgenstrahlung durch das Herausschießen sehr stark an den Kern gebundener Elektronen zu den atomaren Prozessen, aber das passiert in der Natur nur sehr selten. Die allermeisten atomaren Prozesse in der Natur setzen Energien in der Größenordnung weniger Elektronenvolt frei. Ein Elektronenvolt ist die Energie, die ein einzelnes Elektron hat, wenn man es mit einer Spannung von einem Volt beschleunigt – das ist also sehr, sehr wenig. Die Strahlung, die bei solchen Prozessen entsteht, umfasst im Wesentlichen sichtbares Licht und Infrarot.

Was in einem Kernreaktor oder bei der Explosion einer Kernwaffe passiert, ist die Spaltung von Atomkernen in Form einer Kettenreaktion – auf die Unterschiede der beiden Fälle und warum es viel, viel einfacher ist, einen Reaktor als eine Kernwaffe zu bauen, will ich an dieser Stelle nicht eingehen. Das Prinzip ist aber jeweils, dass die bei der Spaltung eines Kerns freigesetzten Neutronen in der Folge den nächsten Kern spalten. Auch nach der Spaltung kommt es zu radioaktiven Zerfällen, also zur Umwandlung instabiler Kerne in stabilere unter Aussenden von Strahlung.  Diese Prozesse laufen also innerhalb von Atomkernen zwischen deren Bestandteilen, den Protonen und Neutronen ab. Dabei treten auch sehr starke elektromagnetische Kräfte auf, aber entscheidend für diese Prozesse sind vor allem die starke und die schwache Kernkraft, die ansonsten überhaupt keine Rolle spielen. Bei radioaktiven Zerfällen werden typischerweise Energien in der Größenordnung von einer Million Elektronenvolt frei, bei einer Kernspaltung sind es 200 Millionen Elektronenvolt. Entsprechend mehr Energie hat auch die entstehende Strahlung, deren elektromagnetischer Anteil als Gammastrahlung bezeichnet wird. Zudem können hoch beschleunigte Teilchen (Alpha- und Betastrahlung) freigesetzt werden. Über diese Arten von Strahlung habe ich hier schon des Öfteren geschrieben. Bei nuklearen Wechselwirkungen handelt es sich also um völlig andere Prozesse als bei atomaren, und die freigesetzten Energien sind in gar nicht vergleichbaren Größenordnungen. Natürlich wird sich nach einer solchen Kernumwandlung, wenn sich die Ladung des Kerns geändert hat, auch die Elektronenhülle entsprechend anpassen und neu ordnen. Dem nuklearen Prozess folgt dann also ein atomarer, der aber für die Gesamtbilanz in der Regel vollkommen unbedeutend ist.

Was Radioaktivität eigentlich ist und wo sie außerhalb der Kernenergie noch eine Rolle spielt, habe ich kürzlich in einem Vortrag gemeinsam mit der Geowissenschaftlerin Catharina Heckel erklärt.

Mit nuklearen Prozessen beschäftigt sich die Kernphysik, die dadurch vor allem Berührungspunkte zur Teilchenphysik hat, weil die Protonen und Neutronen, die im Kern interagieren, eben subatomare Teilchen sind – auch wenn sie aus heutiger Sicht nicht mehr wirklich als elementar gelten. Die Atomphysik, die sich mit atomaren Vorgängen, also vor allem der Elektronenhülle des Atoms, beschäftigt und den Kern nur als ein weitgehend unveränderliches Objekt betrachtet, ist dagegen eng verwandt mit der Molekülphysik, bei der es um Elektronenhüllen mit mehreren Kernen darin geht. Außerdem hängt sie stark zusammen mit der Festkörperphysik, die sich mit Strukturen beschäftigt, in denen sich die Elektronenhülle vieler Atome überlagert. Daneben hat die Atomphysik aber vor allem große Überschneidungen mit der Chemie. So wie man bei meinem früheren Forschungsgebiet nur schwer abgrenzen kann, ob es sich um Kernphysik oder Teilchenphysik handelt, ist es bei der Atom- und Molekülphysik manchmal schwer abgrenzbar, wo die Grenze zur physikalischen Chemie verläuft.

Streng genommen wäre ein Beispiel für korrekt so bezeichnete Atomenergie die Energie, die frei wird, wenn in einem Kohlekraftwerk die im Kristallgitter der Kohle lose aneinander gebundenen Kohlenstoffatome mit Sauerstoff zu Kohlendioxid reagieren. Eigentlich ist also das Kohlekraftwerk ein Atomkraftwerk. Ein Kernkraftwerk als Atomkraftwerk zu bezeichnen, ist hingegen schlicht und einfach falsch. Es ist auch nicht einfach nur harmlos falsch: Die falschen Begriffe gehen einher mit weitgehendem Unwissen über die Vorgänge und einem daraus resultierenden diffusen Grusel und irrationaler Panik, die von Journalisten wie Schneider lange Zeit systematisch befeuert wurde. Natürlich ist es sinnvoll, sich bei einer Technik, die mit Gefahren verbunden ist (das ist so ziemlich alles in unserem Leben) der Risiken bewusst zu sein – sich Risiken bewusst zu sein, ist aber so ziemlich das Gegenteil von irrationaler Panik. Und natürlich kann man diesen Risiken auch unterschiedliche Wertigkeiten zuschreiben – aber zumindest sollte man das nicht auf der Basis systematisch verzerrter Vorstellungen tun.

Wenn Begriffe wie Atomenergie oder Atomkraftwerk also falsch sind, warum werden sie dann eigentlich benutzt? Das hat ganz wesentlich historische Gründe, und es hängt stark mit der „Atombombe“ zusammen. Die ist in gewisser Weise gleich in doppelter Hinsicht falsch bezeichnet, weil es sich beim größten Teil der einsetzbaren Kernwaffen nicht um Bomben handelt. Strategische Kernwaffen sind heute vor allem ballistische Flugkörper, die mit Raketen nach oben geschossen werden, die dichteren Atmosphärenschichten verlassen und durch die Erdanziehung auf ihr Ziel fallen; oder es sind Marschflugkörper, die eine Flugbahn ähnlich eines Flugzeugs haben und am Ziel einschlagen. Von den rund 1500 strategischen Sprengköpfen der USA sind nur noch 100 tatsächlich Bomben. Bei taktischen Kernwaffen kommen noch Artilleriegranaten, Wasserbomben, Torpedos und nukleare Landminen hinzu.

Als 1945 der Angriff auf Hiroshima die Möglichkeiten der Kernspaltung erstmals ins Bewusstsein breiterer Bevölkerungskreise brachte, gab es an Kernwaffen aber nur Bomben. Die Kernreaktoren, die es zu diesem Zeitpunkt gab, konnten noch keinen Strom erzeugen, sondern dienten vor allem der Forschung und der Produktion von waffentauglichem Plutonium. Einen etablierten Forschungszweig namens Kernphysik gab es 1945 auch noch nicht, weil man vor der Entdeckung der Kernspaltung 1938 noch kaum Möglichkeiten gehabt hatte, viel zur inneren Struktur von Kernen zu forschen. Die entsprechenden Wissenschaftler wie Lise Meitner, Enrico Fermi oder Edward Teller wurden daher einfach der Atomphysik zugerechnet, die viele ähnliche experimentelle und theoretische Methoden benutzte und selbst noch eine junge Disziplin war. Schließlich war gerade mal seit einer Generation halbwegs unumstritten, dass es Atome überhaupt gab.

Als das Phänomen Kernspaltung erstmals für ein Laienpublikum benannt werden musste, war der Unterschied zwischen atomaren und nuklearen Prozessen also für die allermeisten Menschen völlig unverständlich und dem Rest noch ziemlich egal. Als Relikt aus dieser Zeit gibt es bei der UN bis heute die International Atomic Energy Agency (IAEA). Dass sich im Englischen, Französischen und Spanischen später der zutreffende Begriff nuclear (oder heißt es vielleicht doch nucular…) durchgesetzt hat, im Deutschen und Russischen aber Atom-, kann man für Zufall halten. Dass aber gerade in Deutschland die „Anti-Atom-Bewegung“ immer versucht hat, die Kernenergienutzung mit der „Atombombe“ und den Schrecken von Hiroshima in Verbindung zu bringen (warum das Eine in Wirklichkeit wenig mit dem Anderen zu tun hat, wäre hier auch mal einen Artikel wert), hat zweifellos die Wortbildung beeinflusst, wie sich in dem 1986 erschienenen Buch von Wolf Schneider widerspiegelt.

„Das Atom“ war seit den 1960er Jahren ein Kampfbegriff.

Eigentlich wollte ich an dieser Stelle fertig sein, aber wie es mir hier so oft ergeht, drängt sich gerade ein weiteres Missverständnis auf, mit dem ich noch schnell aufräumen möchte. Wer sich nur für den ersten Teil der Überschrift interessiert hat, darf hier also gerne aussteigen.

Wenn nämlich nun die Kernenergie auf kernphysikalischen Prozessen beruht, heißt das dann, dass man als Kernphysiker nur (oder wenigstens überwiegend) in der Nuklearindustrie tätig sein kann und dementsprechend schon aus Karriereinteresse der Kernenergie positiv gegenüberstehen muss? Oder, wenn man umgekehrt als junger Mensch einen Beitrag zu einer besonders sicheren, rückstandsarmen Kernenergie der Zukunft leisten will, sollte man dann unbedingt Physik studieren und sich in Kernphysik spezialisieren? Letzteres muss nicht unbedingt unter diesem Namen stattfinden, weil in Deutschland Institute oder Studiengänge für Kernphysik (oder eben auch für Atomphysik) zum Teil anders benannt wurden, um nicht mit der Kernenergie in Verbindung gebracht zu werden. So heißt das bedeutendste Forschungszentrum für Kernphysik in Deutschland „Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung“ – und ist auch sonst kaum jemandem außerhalb der Physik bekannt. Die Forschung dort, die vor allem die Bestandteile und Kräfte innerhalb von Atomkernen bei unterschiedlichen mehr oder weniger extremen Energien untersucht, hat auch wenig bis nichts mit Kernenergienutzung zu tun. Dasselbe gilt für das Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg sowie für die allermeisten Institute für Kernpyhsik an Universitäten – ob sie nun noch so heißen oder nicht.

Das ist nicht nur jetzt und in Deutschland so, wo das Interesse an Kernenergie mangels politischer Durchsetzbarkeit ohnehin nachgelassen hat. Ich konnte in den 1990er Jahren in Frankfurt noch eine Vorlesung zur „Physik und Technologie der nichtkonventionellen Energiegewinnung“ hören, die der Dozent, im Hauptberuf bei den Siemens Nuklearbetrieben in Hanau beschäftigt, durch sein offensichtliches Sendungsbewusstsein für die Kernenergie innerhalb weniger Wochen von 15 auf zwei Teilnehmer dezimiert hatte. Von den Inhalten hatten allenfalls die absoluten Grundlagen ganz am Anfang etwas mit Kernphysik zu tun. Die eigentlich kernphysikalischen Fragen für die Kernenergie, nämlich was mit welcher Wahrscheinlichkeit passiert, wenn ein Teilchen, vor allem ein Neutron, mit welcher Energie auf welchen Kern trifft (falls Ihr mal den Begriff Wirkungsquerschnitt lest, genau das ist das), wurden zu einem großen Teil schon während des zweiten Weltkriegs im Manhattan Project beantwortet. Natürlich gab es dazu auch noch später Forschung und vieles wurde noch einmal viel genauer, anderes auch wirklich zum ersten Mal gemessen, aber das sind nicht mehr die Fragen, die für die Weiterentwicklung der Kernenergie (und für den Umgang mit den Reststoffen) heute interessant sind und sich zum Beispiel in Studiengängen zur Kerntechnik wiederfinden. Dazu sind Fragen der Materialforschung, des ganz klassischen Anlagenbaus, der Schwermetallchemie, der Verfahrenstechnik oder, wenn man über den Bereich der Kernspaltung hinaus zur Kernfusion blickt, der Plasmaphysik, viel, viel interessanter. Zum Strahlenschutz müssten Onkologen, Zellbiologen oder Epidemiologen viel mehr sagen können als Kernphysiker – wenn wir uns mit dem Thema beschäftigen, dann eher zum Eigenschutz, weil man sich im Labor bei der Forschung an ganz anderen Themen eben auch vor Strahlung schützen muss. Die kernphysikalische Frage, hinter wie vielen Millimetern Blei, Wasser oder Beton man nun wie gut vor der Strahlung geschützt ist, ist aber schon sehr lange bekannt und eher ein Thema für ein Laborpraktikum im sechsten oder siebten Studiensemester.

Dass ich mich auch für Kernenergie interessiere und gelegentlich darüber schreibe, hat also wenig damit zu tun, dass ich meine Diplomarbeit am Frankfurter Institut für Kernphysik geschrieben habe. Was ich hier so beschreibe, sollte jeder andere Physiker auch wissen. Es machen sich nur relativ wenige die Mühe, es allgemeinverständlich zu erklären, und das finde ich schade.

 

 

 

Ein Unfall in Nordrussland und was Radioaktivitätsmesswerte bedeuten

Als ich meinen letzten Artikel angefangen habe, wollte ich die Geschichte über den Wodka aus Tschernobyl eigentlich nur als kleinen Aufhänger benutzen, um etwas über veröffentlichte Radioaktivitätsmesswerte und den dabei verwendeten Wust von Einheiten zu schreiben. Dann ist doch wieder eine typische Relativer-Quantenquark-Tirade daraus geworden, und die Erklärung der Einheiten wäre am Schluss einfach zu kurz gekommen – also habe ich da einen Folgeartikel angekündigt, den ich auch ganz schnell liefern will. Allerdings sind mir die tagesaktuellen Nachrichten auch da wieder zuvorgekommen: Aktuell häufen sich in den Medien Berichte über eine Freisetzung von radioaktiven Substanzen in Nordwestrussland. Da man das oft nicht so richtig einordnen kann, der Ort des Geschehens in Nyonoska liegt bei der roten Markierung, also ziemlich abgelegen, aber nicht wahnsinnig weit von Finnland entfernt.

Quelle: Openstreetmap, Lizenz: https://opendatacommons.org/licenses/odbl/1.0/

Welche Gefährdung von den in den Artikeln genannten 1,78 bis 2 Mikrosievert gemessener Dosis pro Stunde über einen Tag hin ausgehen sollte, sollte man am Ende dieses Artikels ganz gut einschätzen können. Dass in der Region viel Gemüse aus dem eigenen Garten verzehrt wird, was, wie im letzten Artikel schon erklärt, die Bewertung beeinflussen sollte, halte ich dort für eher unwahrscheinlich. Die Bilder in russischen Medien sehen primär nach einem Großbrand eines ganz normalen Brennstoffs aus, aber wenn in diesem Brand irgendwo radioaktives Material freigesetzt wird, muss man natürlich schon davon ausgehen, dass das mit dem aufsteigenden Rauch einigermaßen großräumig verteilt wird. Videos auf Youtube, die den Vorfall zeigen sollen und eine riesige, ziemlich offensichtlich von konventionellem Brennstoff stammende, schwarze Rauchwolke zeigen, kursieren allerdings, wie Correctiv herausgefunden hat schon seit 2015 im Netz, so dass nähere Informationen weiterhin rar sind. 

Die Annahme derzeit ist, dass die Explosion bei Tests für den experimentellen russischen Flugkörper SSC-X-9 Skyfall (russische Bezeichnung 9M730 Буревестник „Sturmvogel“) ereignet haben dürfte. Das interessante an diesem Flugkörper, der nach amerikanischen Informationen allerdings bislang nur Abstürze produziert hat, ist, dass er über einen nuklearen Antrieb verfügen soll. Mit dem großen Energievorrat soll er nach einem russischen Video in der Lage sein, jedes Ziel auf der Welt im Tiefflug auf beliebigen Umwegen zu erreichen, was eine Abwehr erschweren soll. Das Video besteht allerdings zum größten Teil aus Computeranimationen – die echten Aufnahmen darin zeigen nur die Startphase, in der ziemlich offensichtlich eine konventionelle Feststoffrakete eingesetzt wird:

Als Physiker interessiert mich natürlich, wie so ein Antrieb funktionieren soll – und das müsste man auch wissen, um die Folgen eines Unfalls einschätzen zu können. Da muss ich zum Glück nicht wieder ausufern und mein eigentliches Thema wieder verschieben, denn dieser lange, aber wirklich gute Artikel mit dem Titel „The Best Bad Idea Ever?“ beleuchtet die wichtigsten technischen Aspekte und die Geschichte der Erforschung nuklear getriebener Flugzeuge und Flugkörper – und er erklärt, warum nie ein solches Flugzeug geflogen ist und wohl besser auch nicht sollte. In dem Artikel wird auch deutlich, was gemeint sein dürfte, wenn in diesem Kontext immer wieder mal eine ähnliche Technologie aus den USA erwähnt wird. Donald Trump twittert sogar, diese sei fortschrittlicher als die russische Skyfall, womit er offensichtlich die höhere Einsatzgeschwindigkeit der amerikanischen reaktorbeheizten Project-PlutoStaustrahltriebwerke meint. Dabei fällt in der Regel unter den Tisch, dass diese amerikanischen Versuche vor 55 Jahren aufgegeben wurden…

Entscheidend für die Einschätzung eines Unfalls ist das enthaltene Material. Wenn man davon ausgeht, dass ein typischer Marschflugkörper im geraden Flug (abgeschätzt nach dem amerikanischen Tomahawk) etwa 3000 Newton Schub braucht und ungefähr 250 Meter pro Sekunde (900 km/h) schnell fliegt, dann leistet das Triebwerk etwa 750 Kilowatt. Rechnet man typische Wirkungsgrade dazu, dann müsste der Reaktor ungefähr ein Zehntel der Leistung des Forschungsreaktors München II haben, der durch Verwendung von hoch angereichertem Uran mit 8 kg Brennstoff auskommt. Der Reaktor des Flugkörpers müsste bei ähnlicher Masseneffizienz also ungefähr ein Kilogramm Uran enthalten. Sollte ein solcher Reaktor außer Kontrolle geraten und von seiner eigenen thermischen Leistung zerrissen werden, dann sollte sich das meiner Ansicht nach in der Umgebung durch weitaus mehr Fallout als die gemessenen 2 Mikrosievert pro Stunde äußern. Ich bin jedenfalls gespannt, was wir zu diesem Unfall noch erfahren werden. Im günstigsten Fall beendet er die Entwicklung dieser skurrilen Höllenmaschine, die heutzutage nun wirklich kein Mensch braucht.

Und damit zum eigentlich geplanten Thema, den Einheiten, die einem in Berichten über genau solche Ereignisse begegnen:

Im letzten Artikel habe ich nur die Einheiten Becquerel (Bq) und Sievert (Sv) verwendet, und das sind meines Erachtens auch die einzigen Einheiten zur Radioaktivität, die man in der Kommunikation mit Nichtphysikern verwenden sollte. Ich muss auch selbst jedesmal nachschlagen, wenn mir jemand Messwerte in antiquierten Einheiten wie Curie oder Milliröntgen um die Ohren haut, nur weil er zu faul ist, die Anzeige seines Messgeräts in aussagekräftige, zeitgemäße Einheiten umzurechnen. Becquerel und Sievert sind die einzigen Einheiten, die es sich meines Erachtens lohnt zu merken. Dazu lohnt es sich dann auch, sich ein paar Vergleichswerte zu merken, um Zahlen, die einem irgendwo begegnen, halbwegs einordnen zu können. Was die anderen Messwerte bedeuten und wie man sie umrechnet, möchte ich am Ende dieses Artikels kurz zusammenstellen.

Zunächst einmal muss man sich bei einer Messung zur Radioaktivität fragen, was man überhaupt messen möchte. Grundsätzlich können Radioaktivitätsmessungen Antworten auf drei ganz unterschiedliche Fragen liefern:

  1. Wieviel Radioaktivität ist da überhaupt? Besser wäre noch die Formulierung „wieviel Radioaktivität passiert da“, denn es geht ja schließlich um eine Aktivität. Anzugeben ist also, wie viele radioaktive Zerfälle (Umwandlungen eines Atomkerns in einen anderen unter Aussenden von Strahlung) in einem Material innerhalb eines gewissen Zeitraums passieren. Wählt man als Zeitraum eine Sekunde, dann kommt man genau auf die Einheit Becquerel (Bq), nämlich Zerfälle pro Sekunde. Wenn man nicht eine genau abgegrenzte Strahlenquelle, sondern ein in größerer Menge vorkommendes Material betrachtet, wird häufig die Aktivität pro Menge in Becquerel pro Kilogramm (Bq/kg) angegeben. Nun ist ein Atom in Größenordnungen unseres Alltags sehr klein, und entsprechend klein sind die bei Zerfällen freigesetzten Energiemengen. Beim Zerfall eines Kern des Wasserstoffisotops Tritium (das vor allem im Kühlwasser von Reaktoren entsteht) werden zum Beispiel 0,000000000000003 Joule Energie frei, davon etwa ein Drittel in Form von biologisch relevanter Betastrahlung (der Rest verbleibt im umgewandelten Atomkern oder verschwindet im nicht mehr nachweisbaren Neutrino auf Nimmerwiedersehen). Da man sich unter einem Joule auch nicht so viel vorstellen kann: Ein Joule ist etwa die Fallenergie von einem halben Pfund Butter, das aus 40 cm Höhe auf den Boden klatscht. Wenn man das halbe Pfund Butter hingegen aufisst, hat es einen Nährwert von etwa 8000 Kilojoule, also 8 Millionen Joule. Für eine physikalisch relevante Gesamtaktivität braucht man also schon einiges an Becquerel. Wenn man im Labor mit einer radioaktiven Quelle arbeitet, mit der man vernünftig etwas messen kann, ohne dass man im Umgang damit besondere Schutzausrüstung braucht, dann hat die in der Regel einige Kilobecquerel. Wenn man liest, dass beim Reaktorunfall von Three Mile Island (Harrisburg) 1979 geschätzte 1665 Terabecquerel (also Billionen Bq) Radioaktivität in Form von Gasen freigesetzt wurden, dann klingt das gigantisch. Zur Einordnung muss man sich allerdings klarmachen, dass auch ältere Bestrahlungsanlagen zur Krebstherapie in Krankenhäusern Kobalt-60-Quellen von einigen hundert Terabecquerel enthalten. Was eine Becquerel-Zahl für den Menschen bedeutet, hängt stark davon ab, um welche Art von Strahlung es sich handelt und wo die Zerfälle auftreten, insbesondere ob die Strahlenquelle sich außerhalb oder innerhalb des Körpers befindet und wie lange sie dort verbleibt. Mit dem 2015 in ein Überlaufbecken auf dem Werksgelände ausgetretenen Reaktorkühlwasser im Kraftwerk Temelin mit einer Tritium-Aktivität von 272 Becquerel pro Liter würde ich mir zum Beispiel bedenkenlos die Hände waschen oder auch darin baden. Trinken würde ich es dagegen nur im Notfall – allerdings immer noch lieber als zum Beispiel ungefiltertes Flusswasser. Gelangt radioaktives Material in den Körper, ist die Frage, wie lange es dort wo verbleibt. Bei der Ventilationsszintigraphie zur Untersuchung der Lunge atmet man 400 bis 800 Megabecquerel eines radioaktiven Edelgases ein. Da ein Edelgas mit praktisch nichts chemisch reagiert, wird es aber auch direkt wieder ausgeatmet. Die 55 Becquerel Tritiumaktivität aus einem Glas Temelin-Kühlwasser würden über den normalen Stoffwechsel des Körpers über die nächsten Tage wieder ausgeschieden. Jod-131, ein Produkt der Kernspaltung, ist der wichtigste Problemstoff in den ersten Wochen nach einem Reaktorunfall. Da bei den meisten Mitteleuropäern, die nicht regelmäßig Fisch essen oder mit Jodsalz kochen, der Jodbedarf des Körpers allenfalls knapp gedeckt ist, wird dieses radioaktive Jodisotop vom Körper gut aufgenommen, in der Schilddrüse eingelagert und kaum wieder ausgeschieden, sondern zerfällt mit einer Halbwertszeit von acht Tagen. Daher können auch relativ kleine Becquerel-Zahlen von Jod-131 im kleinen Volumen der Schilddrüse ein erhebliches Krebsrisiko verursachen. So ist der sonst seltene Schilddrüsenkrebs die einzige Krebsart, für die nach Tschernobyl in der allgemeinen Bevölkerung der Anliegerstaaten Ukraine und Weißrussland (außerhalb der an den Aufräumarbeiten beteiligten Liquidatoren) tatsächlich ein Anstieg erkennbar ist. Glücklicherweise ist Schilddrüsenkrebs zwar eine schwere Erkrankung, die erhebliche Einschränkungen der Lebensqualität mit sich bringt, verläuft aber nur in rund einem Zehntel der Fälle tödlich. Die Einlagerung von Jod in der Schilddrüse ist auch der Grund, weshalb man nach Reaktorunfällen bei gefährdeten Personen versucht, durch hochdosierte Jodtabletten ein Überangebot an nicht radioaktivem Jod zu schaffen, so dass ein möglichst großer Anteil des insgesamt verfügbaren (somit auch des radioaktiven) Jods wieder ausgeschieden wird. Radioaktive Problemstoffe, die sich über viele Jahre in den Knochen oder der Leber anreichern, sind die Brennstoffe Uran und Plutonium sowie die Spaltprodukte Cäsium-137 und Strontium-90. Da sie auch über viele Jahre nur zu kleinen Teilen zerfallen, können sich von diesen Stoffen selbst kleine Becquerel-Zahlen mit der Zeit zu erheblichen Belastungen aufsummieren. Das gilt insbesondere, wenn über einen langen Zeitraum die tägliche Nahrung belastet ist, was den im letzten Artikel erwähnten extrem niedrigen Strontium-90-Grenzwert in der Ukraine erklärt. Wegen dieser Unterschiede in der biologischen Relevanz der Aktivität unterschiedlicher Stoffe ist es auch so problematisch, wenn in dem in Fukushima aus den Reaktorruinen gepumpten Sickerwasser neben den rund einer Million Bq/l Tritium auch nach der Entsalzung noch Mengen von jeweils rund 100 Bq/l von anderen Isotopen gefunden werden. Ginge es nur um die insgesamt 760 Terabecquerel Tritiumaktivität des in Fukushima gespeicherten Wassers, dann könnte ich beim besten Willen nicht verstehen, warum man so zögert, diese einfach ins Meer abzuleiten: Tritium ist chemisch einfach Wasserstoff und reichert sich daher nirgends an, und verglichen mit der natürlichen Radioaktivität und selbst mit sonstigen menschlichen Einleitungen in die Weltmeere wäre diese Menge vernachlässigbar. Wenn man es aber tatsächlich nicht schafft, die Verunreinigungen mit radioaktiven Isotopen von Strontium, Cäsium oder anderen Substanzen, die sich in Fischen anreichern könnten, hinreichend gut zu entfernen, wäre das Verdampfen die teurere, aber sicherere Variante, weil diese Stoffe dabei in sehr kompakter Form zurückblieben. Die Aktivität in Becquerel ist also eigentlich nur in Verbindung mit anderen Informationen zur Beurteilung der Gefährlichkeit geeignet. Aussagekräftiger ist schon die folgende Frage:
  2. Welche Strahlendosis wird von einem (lebenden) Material aufgenommen? Hier handelt es sich um eine absorbierte Energiemenge pro Material, gemessen in Joule pro Kilogramm, bezeichnet als die Einheit Gray (Gy). Die Dosis ist keine zeitbezogene Größe, kann sich also über Jahre aufsummieren. Will man die laufende Belastung an einem bestimmten Ort beschreiben, so verwendet man die Dosisleistung in (gegebenenfalls Milli- oder Mikro-) Gray pro Sekunde, Stunde oder Jahr. Geht es um Strahlungsschäden in technischen Geräten, zum Beispiel bei Halbleitern in Teilchendetektoren oder auf Satelliten, ist die Gesamtdosis über die Einsatzdauer die relevante Kennzahl. Bei lebendem Material, also auch in gesundheitlichen Fragen, ist die Situation komplexer. Für das Auftreten von akuter Strahlenkrankheit ist die innerhalb eines Zeitraums weniger Tage aufgenommene Dosis maßgebend. Über das Krebsrisiko und das Auftreten von Mutationen in der nächsten Generation entscheidet nach der bereits im letzten Artikel erwähnten Linearen Hypothese LNT ausschließlich die Gesamtdosis über die bisherige Lebenszeit ohne jegliche Heilungs- und Reparaturchancen. Wer sich mit der Frage beschäftigen will, wie realistisch das ist, dem empfehle ich den schon dort verlinkten Bericht des zuständigen wissenschaftlichen Ausschusses der Vereinten Nationen. Es wird aber, wie so oft in Gesundheitsfragen, noch komplizierter: Alle drei gesundheitlichen Folgen (Strahlenkrankheit, Krebs und Mutationen) entstehen durch Schäden des Erbguts, also der DNA, durch die absorbierte Energie der Strahlung. Die DNA bildet aber einen Doppelstrang, an dem die Erbinformation jeweils spiegelbildlich hinterlegt ist. Entsteht ein Schaden nur an einem Strang der DNA, so haben die zelleigenen Reparaturmechanismen wesentlich bessere Erfolgschancen, als wenn beide gegenüberliegenden Basen beschädigt oder gar beide Stränge durchtrennt sind. Es macht also einen Unterschied, ob die Energie der Strahlung an lauter isolierten Punkten durch das Gewebe verteilt wird oder ob elektrisch geladene Teilchen im Gewebe jeweils eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Das führt zu der Frage:
  3. Welcher Schaden entsteht durch die Strahlung in lebendem Gewebe? Diese Frage beantwortet die Äquivalentdosis in der Einheit Sievert (Sv). Sie errechnet sich einfach durch die Strahlungsdosis in Gray multipliziert mit einem Wichtungsfaktor, der sich nach der Art der Strahlung richtet. Für Teilchenstrahlung direkt aus einem Reaktor oder Beschleuniger sind diese Wichtungsfaktoren recht kompliziert, aber bei der Strahlung aus radioaktiven Zerfällen sind sie ganz einfach: Alphastrahlung, also die geladenen Heliumkerne, die nur von sehr schweren Kernen wie Uran oder Plutonium emittiert werden, hat den Wichtungsfaktor 20, sonstige radioaktive Strahlung den Wichtungsfaktor 1. Alphastrahlung kann die menschliche Haut nicht durchdringen und ist nur schädlich, wenn das radioaktive Material in den Körper gelangt. Daher ist für jede Strahlung, die von außen in den Körper hinein wirken kann, der Wichtungsfaktor 1 und damit die Äquivalentdosis in Sievert gleich der Strahlungsdosis in Gray. Neben den Wichtungsfaktoren für die Strahlungsart gibt es Gewebe-Wichtungsfaktoren, die eine Umrechnung zwischen den Äquivalentdosen einzelner Organe und der Ganzkörperdosis ermöglichen sollen. Da die Wichtungsfaktoren erkennbar den Charakter von Abschätzungen haben, hat es offensichtlich wenig Sinn, sich bei Äquivalentdosen Gedanken um die zweite oder dritte von Null abweichende Ziffer zu machen. Daher gibt es auch eine deutlich komplexere Berechnung der Äquivalentdosis nach sogenannten Qualitätsfaktoren, die für Teilchenstrahlung auf dem zu messenden Energieverlust beruhen, wenn man es wirklich genau wissen will. Für die Einschätzung von Risiken ist es aber eher entscheidend, die wievielte Ziffer einer Äquivalentdosis überhaupt von Null abweicht. Auch für die Äquivalentdosis wird häufig die Dosisleistung, zum Beispiel in Mikrosievert pro Stunde, angegeben.

Nachdem also die entscheidenden Fragen gestellt und grob charakterisiert sind, auf die Messwerte antworten sollen, können wir uns jetzt den einzelnen Einheiten zuwenden, die einem in den Medien begegnen können, wenn es um Radioaktivität geht – angefangen mit den beiden, die man tatsächlich kennen sollte und dafür jeweils ein paar Vergleichsgrößen zur Interpretation solcher Werte.

  • Becquerel (Bq): Das Becquerel ist, wie oben erläutert, eine Einheit für die Aktivität und bezeichnet einen Zerfall pro Sekunde. Angegeben sind häufig auch Becquerel pro Menge eines Materials in Kilogramm oder Liter. Die Aktivitäten unterschiedlicher radioaktiver Substanzen sind hinsichtlich ihrer biologischen Relevanz nur bedingt vergleichbar. Ungefähre Vergleichswerte:
      • 130 Bq: Natürliche Aktivität einer Banane.
      • 4000 Bq: Natürliche Aktivität im Körper eines Erwachsenen.
      • 1 GBq = 1.000.000.000 Bq: Größenordnung der Aktivität, die einem Patienten bei der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) injiziert wird (Halbwertszeit maximal wenige Stunden).
      • 100 TBq = 100.000.000.000.000 Bq: Größenordnung der Aktivität in einer älteren Strahlungsquelle zur Krebstherapie.
      • 50.000 TBq = 50.000.000.000.000.000 Bq: Freisetzungsschwelle  zur höchsten Unfallstufe der IAEO-Skala für nukleare Ereignisse (Mayak 1957, Tschernobyl 1986, Fukushima 2011).
    • Sievert (Sv): Das Sievert ist eine Einheit für die Äquivalenzdosis, also die nach biologischer Wirkung gewichtete absorbierte Strahlendosis und hat die Dimension Energie pro Masse. Sie ist die beste bekannte Annäherung an den tatsächlich entstandenen Schaden. Im Gegensatz zum Becquerel ist das Sievert eine sehr große Einheit, so dass in der Regel Millisievert (mSv) oder Mikrosievert (μSv) angegeben werden. Ungefähre Vergleichswerte für die Ganzkörperdosis:
      • 50 μSv = 0,05 mSv: Ein Langstreckenflug.
      • 500 μSv/Jahr = 0,5 mSv/Jahr: Variation der natürlichen Radioaktivität zwischen unterschiedlichen Wohnorten in Deutschland.
      • 5 mSv/Jahr: Durchschnittliche Gesamtstrahlenbelastung in Deutschland (ca. 50% natürlich, 50% medizinisch).
      • 1.000 mSv = 1 Sv in kurzer Zeit: Einsetzen der akuten Strahlenkrankheit
      • 7.000 mSv = 7 Sv in kurzer Zeit: 100% tödlich.

Neben diesen beiden Einheiten, die man sinnvollerweise kennen sollte, um Informationen aus den Medien einordnen zu können, begegnen einem dort immer wieder auch andere Einheiten, die man nicht unbedingt kennen muss, deren Bedeutung und Umrechnung man aber bei Bedarf (z.B. hier) nachschlagen kann:

  • Gray (Gy): Das Gray ist wie schon erwähnt die Standardeinheit für die Dosis, also die aufgenommene Strahlungsenergie pro Masse eines Materials, ohne Gewichtung der biologischen Wirksamkeit. Insofern ist sie zwar nicht veraltet, aber für gesundheitliche Fragen eher uninteressant, und die Werte sind häufig identisch mit denen in Sievert. Für Alphastrahlung aus Uran oder Plutonium gilt 1 Gy = 20 Sv, für alle andere Strahlung aus radioaktivem Material 1 Gy = 1 Sv.
  • Rad (rd): Das Rad (radiation absorbed dose) ist eine seit mehr als 40 offiziell nicht mehr verwendete Einheit für die ungewichtete Dosis. Gerade Autoren mit, sagen wir, überschaubarer Sachkompetenz und vor allem aus dem medizinischen Sektor geben jedoch immer noch regelmäßig Messdaten in Rad an. Mitunter finden sich auch in derselben Tabelle, gedankenlos irgendwo abgeschrieben, untereinander Daten in Gray und in Rad ohne die wirklich triviale Umrechnung: 100 rd = 1 Gy; das entspricht 20 Sv für Alphastrahlung oder 1 Sv für sonstige Radioaktivität.
  • Roentgen (R): Das Roentgen ist eine noch antiquiertere Einheit (es stammt aus der Frühzeit der Atomphysik und gilt schon seit 1953 als veraltet) und beschreibt eine Art Strahlungsintensität von Gamma- oder Röntgenstrahlung, die an einem Ort ankommt, gemessen an ihrer Fähigkeit, elektrische Ladungen aus Luftmolekülen herauszulösen. Das Problem dabei ist, dass die Umrechnung von Roentgen in eine Dosis vom Material abhängt, auf die die Strahlung auftrifft. Trotzdem stirbt auch das Roentgen in den Medien irgendwie nicht aus. In weichem Körpergewebe, das bei Strahlenschäden in der Regel interessiert, entsprechen 100 Roentgen knapp einem Sievert.
  • Rem (rem): Mit dem Rem (Roentgen equivalent in man) wird es endgültig wirr, weil sich das Rem, wie aus dem Namen noch hervorgeht, ursprünglich von der Einheit Roentgen herleitete, es dann aber irgendwann als Äquivalentdosis zum Rad umdefiniert wurde. Dennoch erfreut sich das Rem vor allem in den USA bis heute großer Beliebtheit, wo man ja auch sonst der Meinung zu sein scheint, internationale Standardeinheiten machten das Leben zu einfach. Immerhin ist seit der Anlehnung an das Rad die Umrechnung überschaubar: 100 rem = 1 Sv.
  • Curie (Ci): Das Curie ist eine Einheit für die Aktivität, die allen Ernstes 1910 noch unter Mitwirkung von Marie Curie selbst festgelegt wurde, und zwar als die Aktivität von einem Gramm Radium. Es wird seitdem hartnäckig immer noch benutzt, möglicherweise weil 10 Mikrocurie für eine radioaktive Quelle im Labor oder 45 Megacurie für die Jod-131-Freisetzung in Tschernobyl einfach weniger bedrohlich gigantisch klingen als die gleichen Werte in Becquerel. Leider gibt es für die Umrechnung keine einfach zu merkende Faustregel: 1 Curie entsprechen circa 37 Gigabecquerel…

Tanzende Götter am CERN und die Probleme der Wissenschaftskommunikation

Die Mehrheit der Menschheit hat keine Ahnung von der Bedrohung durch das CERN. Das behauptet zumindest der Verschwörungsblog Oppt-Infos zwischen rechtsextremer Reichsbürger-Idologie, angeblichen Wundermitteln gegen Krebs und Geschwurbel über Gedankenkontrolle durch Funkwellen. Laut der Weltuntergangsseite Dailycrow beschwören CERN-Experimente zur dunklen Materie Erscheinungen dunkler Gestalten herauf, und das CERN hat auch das Erdbeben im April 2015 in Nepal ausgelöst. Der antisemitische Socioecohistory-Blog sieht das CERN kurz vor dem Durchbruch in eine Parallelwelt, in der niemand anders als der Satan persönlich wartet. Die „Wissenschaft“, die der Menschheit den Turm von Babel beschert hat, treibe auch die Forscher am CERN, erklärt eine Seite mit dem bezeichnenden Namen „Now the End Begins“. Natürlich kann auch der widerwärtige Honigmann-Blog da nicht abseits stehen und schreibt vom CERN als „von den Illuminaten und dem Vatikan kontrollierten Raumhafenverstärker und Manipulationsanlage“.

Mitunter argumentieren solche Seiten einfach nur mit absurder Pseudophysik. „We are Anonymous“ erklärt zum Beispiel, die Ableitung von „16 TW“ Strahlenergie des CERN-Beschleunigers LHC hätte möglicherweise eine verheerende Schockwelle durch die Erde bis nach Nepal und so das Erdbeben verursacht. Hintergrund ist offensichtlich eine bizarre Vertauschung von Einheiten. Die Energie zweier kollidierender Teilchen im LHC hat nichts mit 16 Terawatt zu tun (das wäre die Leistung von zehntausend Kernkraftwerken), sondern liegt bei 16 TeV (Teraelektronenvolt). Das klingt nach viel, sind aber in normalen Einheiten gerade 0,0000025 Joule, entsprechend ungefähr der Aufprallenergie einer Biene, die gegen eine Fensterscheibe fliegt. Noch anders ausgedrückt, die Energie von 800 Milliarden LHC-Kollisionen entspricht etwa dem Nährwert eines schmalen Mittagessens. Nun kann ein 27 Kilometer langer Tunnel natürlich ziemlich viele Teilchen enthalten, so dass die Gesamtenergie eines LHC-Strahls dann doch ungefähr die Wucht eines fahrenden Personenzuges hat. Das ist verglichen mit einem Erdbeben aber immer noch sehr, sehr bescheiden.

Ein stetig wiederkehrendes Motiv in der Argumentation dieser Verschwörungspropheten hat das CERN allerdings selbst aufgestellt, nämlich eine zwei Meter hohe Statue des indischen Gottes Shiva als tanzender Zerstörer der Dummheit und Neuerschaffer des Universums. Die Dummheit hat diese Figur ganz offensichtlich nicht zerstört, sondern ihr vielmehr reichlich Futter verschafft. Die Figur steht nicht in einem Bereich, in den regelmäßig größere Besucherströme kommen, aber doch relativ prominent zwischen dem besseren der CERN-Gästehäuser für angereiste Wissenschaftler und dem Bürogebäude der LHC-Experimente. Als Kunst am Bau bereichert sie so ein Ensemble der architektonisch netteren und moderneren Gebäude am CERN – die meisten Verwaltungsbauten dort sehen eher nach 60er-Jahre-Plattenbau aus.

Foto: Wikimedia / Kenneth Lu

Poetisch oder philosophisch angehauchte Physiker inspiriert die Figur gerne einmal zu träumerischen Exkursen, zum Beispiel Aidan Randle-Conde auf dem eigentlich seriösen Quantum-Diaries-Blog. Das ist legitim und verständlich. Die Suche nach den Ursprüngen des Universums und den Vorgängen im Innersten der Materie ist ein Thema, das fast zwangsläufig zur Träumerei und Poesie anregt. Dazu bieten die Experimente am CERN Bilder von einer bizarren und mitunter majestätischen Ästhetik, die einem sonst kaum begegnen. Das Bedürfnis, sich über die rein wissenschaftliche Arbeit hinaus auszudrücken und zu inspirieren, ist unter den tausenden in Genf forschenden Physikern immer da, von AlpineKats höchst lehrreichem LHC-Rap bis zum Arts@CERN-Programm, das unter anderem Stipendien für im Forschungszentrum arbeitende Künstler vergibt. Gerade ein solches Projekt, der Ballettfilm Symmetry, wird aber in Verbindung mit der Shiva-Statue gerne zur Dämonisierung des CERN und der Teilchenforschung insgesamt missbraucht.

SymmetryOccult

Tatsächlich steckt hinter der Shiva-Statue eine spannende Geschichte, in der brilliante Köpfe, Machthunger und unglaubliche Zerstörungskraft eine Rolle spielen. Nur für die Außenkommunikation einer diplomatischen, multinationalen Organisation wie dem CERN ist sie möglicherweise weniger geeignet:

In Deutschland kaum zur Kenntnis genommen, ist Indien eine der großen Wissenschaftsnationen für die moderne Physik. Die Seite thefamouspeople listet zum Beispiel eine Anzahl bedeutender indischer Physiker auf (bizarrerweise mit ihren Sternzeichen): C.V. Raman entdeckte den quantenmechanischen Effekt der Aufnahme und Abgabe von Licht an Molekülen, der unter anderem erklärt, warum Gewässer oder Gletscher blau erscheinen. Satyendra Nath Bose leitete besondere statistische Eigenschaften bestimmter Teilchen her, die unter anderem für das Phänomen der Superfluidität verantwortlich sind (sogenannte Bose-Einstein-Kondensate). Für Boses Artikel darüber bot sich kein anderer als Albert Einstein als Übersetzer ins Deutsche an. Der Nobelpreisträger Subrahmanyan Chandrasekhar untersuchte die Entwicklung von Sternen unterschiedlicher Größe und fand, dass schwarze Löcher nicht nur rechnerische Ergebnisse der allgemeinen Relativitätstheorie sind, sondern tatsächlich als Überbleibsel sehr schwerer Sterne existieren.

Durch den Status als blockfreies Land konnten indische Wissenschaftler sowohl mit westlichen als auch mit sowjetischen Forschungseinrichtungen zusammenarbeiten. Ende des 20. Jahrhunderts war Indien in den großen internationalen Forschungskooperationen der Kern- und Teilchenphysik vertreten. In der Zeit des Internet-Hypes, als den Labors in Europa und den USA IT-kundige Physiker massenweise abgeworben wurden, bot Indien nicht nur hervorragend ausgebildete, sondern auch bezahlbare Fachkräfte.

Im Mai 1998 endeten viele dieser Kooperationen im wahrsten Sinne des Wortes mit einem Knall. Mit der Zündung einer Wasserstoffbombe in der nordindischen Thar-Wüste begann eine Serie von fünf indischen Kernwaffentests, die heftige internationale Reaktionen und zum Teil Handelssanktionen auslösten. Indische Kernphysiker bekamen kaum noch Einreisevisa in die USA, geschweige denn die Möglichkeit, ihre Arbeit an den oft vom US-Verteidigungsministerium geführten amerikanischen Grundlagenforschungszentren fortzusetzen. Das Internet war zwar als Kommunikationsmedium in der Wissenschaft schon gut etabliert, aber ohne persönliche Treffen kann man bis heute kaum produktiv in einer Forschungskooperation mitarbeiten. Ich erinnere mich, dass wir als deutsches Partnerinstitut in München vom New Yorker Brookhaven National Lab aufgefordert wurden, selbst in E-Mail-Kommunikation mit indischen Kollegen darauf zu achten, dass uns nicht eventuell Informationen durchrutschen, die das amerikanische Embargo unterlaufen könnten.

In Europa waren die Reaktionen weniger harsch, und in den Folgejahren wurde das CERN mit seinem besonderen völkerrechtlichen Status zu einem der wichtigsten Zentren, an denen indische Physiker noch international kooperieren konnten. 2002 erhielt Indien neben Russland, Japan und den USA den herausgehobenen Status eines Beobachterlandes am CERN. Inzwischen ist es allerdings von Pakistan überholt worden, das 2015 als drittes nichteuropäisches Land (nach dem Vollmitglied Israel und der Türkei) assoziiertes Mitglied des CERN wurde. Assoziierte Mitglieder haben mehr Mitspracherechte als Beobachter, müssen aber auch regelmäßige Beiträge zahlen. Vor diesem Hintergrund ist es zu sehen, dass das CERN 2004, sechs Jahre nach Beginn der wissenschaftlichen Isolation Indiens und zwei Jahre nach der Aufnahme als Beobachterland, von der indischen Regierung ein Denkmal geschenkt bekam.

Warum dieses Denkmal ausgerechnet die Form einer Shiva-Statue hat, darüber kann man natürlich trefflich spekulieren, aber es drängen sich einige Erklärungen auf, die wenig mit angeblichen spirituellen Bezügen der Teilchenphysik zu tun haben. Zum Einen wird ein Reisender, der zum Beispiel einem indischen Gastgeber eine Geste der Aufmerksamkeit aus good old Germany mitbringen will, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu einem Bierseidel oder einer Kuckucksuhr greifen, auch wenn er selbst möglicherweise aus Hannover stammt und wenig Bezug zu dieser Art von süddeutschem Kulturgut hat. Die Bundesregierung würde sich vielleicht für eine Goethe-Statue entscheiden. Wenn man bedenkt, welche Souvenirs deutsche Touristen aus Indien mitbringen, erscheint die Shiva-Statue als eine angemessene Entsprechung. Die Auswahl hat aber auch eine handfeste politische Dimension: Zum Zeitpunkt der Entscheidung über das Geschenk wurde Indien von Premierminister Vajpayee und der Hindu-nationalistischen BJP regiert. Die BJP hatte gerade den Physiker und Koordinator der Kernwaffentests von 1998 Abdul Kalam (selbst ein Moslem) zum Staatspräsidenten gemacht. Die Kernforschung und internationale Kooperation als Elemente des Nationalstolzes gedanklich mit hinduistischer Tradition zu verknüpfen, lag also durchaus im Interesse der Regierenden in Neu Delhi. Die CERN-Leitung konnte auf der anderen Seite die Geber auch nicht düpieren und das großzügige Geschenk in einem der reichlich vorhandenen Abstellräume unterbringen.

Hätte das CERN aber die Möglichkeit gehabt, Missinterpretationen der Statue wie die eingangs genannten Verschwörungstheorien zu vermeiden? Zumindest hätte man schon 2004 deutlicher sagen können, dass es sich bei dem Bronze-Shiva einfach um ein Kunstobjekt und eine politische Geste handelt. Man hätte schon in der ursprünglichen Pressemeldung religiöse Bezüge vermeiden können. Man hätte nicht die Skeptiker-Ikone Carl Sagan mit seinem rein metaphorisch gemeinten Vergleich zwischen dem Tanz Shivas und dem kosmischen Tanz der Teilchen als Repräsentanten pseudoreligiöser Spekulationen heranziehen müssen. Insbesondere wäre es aber hilfreich gewesen, neben der Shiva-Statue nicht auch noch eine „Erläuterungs“-Tafel dazu mit Zitaten des unsäglichen Quantenmystik-Schwurblers Fritjof Capra aufzustellen, was dieser genüsslich zur Selbstdarstellung benutzt. Dann hätte man es sich womöglich erspart, mit ungelenken Erklärungen reagieren zu müssen, nachdem das Kind in den Brunnen gefallen ist.

Ja, Physiker brauchen mitunter die Romantisierung und Überhöhung dessen, woran sie dort arbeiten. Manchmal ist es nötig, den Blick von der Verkabelung seiner Messapparatur und den Programmzeilen seiner Simulationssoftware zu heben und auf das Wunderbare zu richten, das es in der Welt der Teilchen zu entdecken gibt. In der Außenkommunikation ebnet diese Romantisierung aber nur zu oft den Weg zur Dämonisierung der Wissenschaft an sich.