So, das packe ich jetzt mal in ein neues Update, denn die heutige (naja, jetzt ist es schon nach Mitternacht…) Meldung von AstraZeneca (AZ) enthält ein paar interessante Informationen, bietet Anlass für ein paar wichtige Erklärungen und wirft gleichzeitig ein paar neue Fragen auf.
Ich hatte in mehreren Artikeln erwähnt, dass ich etwas ungeduldig auf erste Ergebnisse aus den Phase-III-Studien von AstraZeneca warte. Der Grund, warum ich diesen Impfstoff so wichtig finde, ist, dass er sehr helfen kann, möglichst schnell möglichst viele Menschen geimpft zu bekommen. Das hat mehrere Gründe, die jeweils für unterschiedliche Gruppen wichtig sind:
- Der Vektorvirusimpfstoff (zu den Impfstofftypen siehe hier) von AZ ist als fertiges Produkt einem normalen Impfstoff chemisch relativ ähnlich und wesentlich einfacher transport- und lagerfähig als die RNA-Impfstoffe von Pfizer und Moderna, auf die ich hier schon eingegangen war. Je weiter wir uns aus den Hauptmärkten Europa/USA/Japan herausbewegen, desto wichtiger wird das. Der Impfstoff könnte aber auch hierzulande außerhalb von Impfzentren durch die Hausärzte verimpft werden.
- Da die Art, wie das Immunsystem angeregt wird, eine andere ist (über ein tatsächliches Virus anstatt durch eine größere Menge im Körper aus RNA erzeugter Virusteile) könnte dieser Impfstoff ein anders Wirk- und Nebenwirkungsprofil haben und bei anderen Zielgruppen einsetzbar sein als die einander sehr ähnlichen Impfstoffe von Pfizer und Moderna.
- AZ hat von allen Herstellern die größte und kurzfristigste Lieferzusage an die EU – und hatte schon vorher im Juni einen Vertrag mit Deutschland, Frankreich, Italien und den Niederlanden abgeschlossen, von dem nie richtig öffentlich klargestellt wurde, ob der durch den Vertrag mit der EU erloschen ist. Da könnte nach einer Zulassung also relativ schnell eine große Menge Impfstoff in Deutschland bereit stehen. Dass AZ in der Pressemeldung mehrfach darauf verweist, zum Selbstkostenpreis zu liefern, klingt gut, macht aber zu den ebenfalls sehr zurückhaltenden Preisen der anderen Hersteller wenig Unterschied. Niemand, auch nicht die in der Branche als sehr am Ergebnis orientiert bekannte Pfizer, hat ein Interesse, sich aus einer kurzfristigen Machtposition heraus die Taschen voll zu machen, um dann in den nächsten Jahren bei Preisverhandlungen über die ganzen anderen Produkte von der Politik an die Wand genagelt zu werden.
- Vor allem ist AZ aber wichtig für den Rest der Welt, denn die Masse macht’s: AZ hat seit dem späten Frühjahr ein Netzwerk von Partnern aufgebaut, das schon im August von allen Entwicklungen die größte Produktionskapazität umfasst hat und seitdem auf drei Milliarden Impfdosen (ausreichend je nach Dosierung für 1,5 bis 2 Milliarden Patienten) bis Ende 2021 angewachsen ist. Die AZ-Partner hätten natürlich bei einem Scheitern der Entwicklung auf andere Impfstoffe umstellen können, aber das hätte Zeit gekostet, und das AZ-Bündnis hat offenbar auch schon in relativ großem Umfang vorproduziert.
Es ist also wichtig, dass gerade dieser Impfstoff auch hilft, und jetzt kommt die erste Bestätigung einer tatsächlichen Schutzwirkung am Probanden. Die Zahlen wirken auf den ersten Blick nicht so spektakulär wie bei den Wettbewerbern: Im Durchschnitt 70 Prozent Schutzwirkung sind zwar okay, liegen aber deutlich unter dem Traumwert von 95 Prozent, den wir zuletzt gehört hatten. Außerdem beruhen die Ergebnisse nur auf Daten aus Großbritannien und Brasilien – der US-Teil der Studie fehlt wegen der in meinen vorherigen Artikeln schon erwähnten Verzögerungen noch. Gleichzeitig hatte Europa während eines großen Teils der bisherigen Studiendauer wenig Fälle. Die Ergebnisse beruhen also wohl zu einem großen Teil auf den gerade mal 10.300 Probanden in Brasilien (offenbar alle aus Sao Paulo), von denen, und das ist hier ausnahmsweise mal deutlich nachzulesen, die Hälfte zur Placebogruppe gehört. Auch die Suche nach seltenen Nebenwirkungen ruht bislang nur auf 11.636 Probanden, die über beide Länder den tatsächlichen Impfstoff bekommen haben. Dass da keine schweren Nebenwirkungen aufgetreten sind, ist aber trotzdem schon mal sehr gut. Zur Erinnerung: Von den 11.636 würden sich ohne Impfstoff fast 9.000 früher oder später infizieren, und geschätzt 50 bis 100 würden daran sterben.
Was mir ein bisschen seltsam vorkommt – wobei man immer sagen muss, ich bin kein Immunologe – ist der in der Pressemitteilung auch dargestellte Vergleich zwischen zwei Teilgruppen der Stichprobe. Der größte Teil der Impfstoff-Probanden hat zwei volle Impfdosen im Abstand von einem Monat bekommen. Eine kleinere Teilstichprobe von 2.741 Probanden hat jedoch bei der ersten Impfung nur eine halbe Dosis bekommen, und bei denen errechnet sich ein Impfschutz von 90 Prozent im Vergleich zu nur 62 Prozent beim Rest der Geimpften (im Durchschnitt ergibt das dann die 70 Prozent). Laut Pressemitteilung ist das alles statistisch signifikant auf einem sehr hohen Niveau – was sich aber vermutlich auf den Vergleich mit der Nullhypothese (Impfung wirkt gar nicht) bezieht. Was mich interessieren würde, ist, wie signifikant der Unterschied zwischen den beiden Teilstichproben ist. Ganz naiv würde man schließlich erwarten, dass unterschiedliche Dosierungen entweder gleich gut wirken oder viel auch viel hilft – eventuell um den Preis von mehr Nebenwirkungen. Ein sich umdrehender Dosis-Wirkungs-Zusammenhang erscheint mir… naja, zumindest klärungsbedürftig. Wenn sich das in den Laborwerten der Probanden bei den früheren Phasen auch schon so abgezeichnet hätte, dann würde das die These, dass das ein echter Effekt ist, natürlich stützen. Noch deutlicher wäre, wenn das im amerikanischen Teil der Phase III auch herauskäme. Bis der da ist, hilft wohl nur Abwarten.
Worauf man wohl ebenfalls noch warten muss, was die AZ-Studien aber mittelfristig liefern sollten, ist eine Antwort auf die elendigliche Frage, ob der Impfstoff jetzt nur vor der Krankheit oder vollständig vor der Infektion (und damit auch der Ansteckung anderer) schützt. Wie ich schon geschrieben hatte, sind 95 Prozent weniger erkannte Infektionen eigentlich nicht dadurch zu erklären, dass ein Impfstoff nur den Ausbruch von Krankheitssymptomen verhindert, aber hier wird man es auch direkt herausfinden. Beim britischen Teil der Phase III werden tatsächlich alle 12.390 dortigen Probanden wöchentlich per Abstich und PCR nachgetestet, um auch symtomlose Infektionen erkennen zu können. Mit der im Lockdown zwar sinkenden, aber immer noch hohen Zahl von Infektionen im Königreich sollten da irgendwann Ergebnisse kommen. Die zweite Möglichkeit, das zu klären, besteht nach dem Abschluss des US-Teils der Phase III: Dort sollen die Probanden nach Studienende auf Antikörper gegen Bestandteile des SARS-CoV-2-Virus getestet werden, die nicht Teil des Impfstoffs sind – eine Möglichkeit, die ich schon einmal erwähnt hatte. Werden die gefunden, muss der Proband infiziert gewesen sein, ob das Virus dabei nachgewiesen wurde oder nicht. AZ geht das Thema also gleich auf zwei Wegen an, wovon der erste auch richtig Geld kosten dürfte. Die Phase-III-Studie von AZ (genau genommen sind es mehrere Einzelstudien) gefällt mir richtig gut – die bisherigen Ergebnisse sind halt eher dünn, weil noch zwei Drittel der geplanten Probanden (die aus den USA) fehlen.
Was mir hier auch gut gefällt, ist die trickreiche Placebokontrolle: Die Patienten bekamen in Großbritannien und Brasilien nicht einfach eine Salzlösung als Placebo, sondern einen schon zugelassenen Impfstoff gegen die von Zecken übertragenen Meningokokken. Der sollte natürlich gegen SARS-CoV-2 genauso wenig nutzen wie Salzlösung, aber er erzeugt die typischen Nebenwirkungen, die man eben von einem Impfstoff erwartet: Rötung, dicken Arm, Müdigkeit, eventuell etwas Fieber. Die Probanden können also nicht an fehlenden Nebenwirkungen erraten, dass sie zur Placebogruppe gehören, was die Verblindung deutlich verbessert. Falls Impfgegner wieder sagen, das sei kein richtiges Placebo – der US-Teil der Phase III nutzt ein klassisches Salzlösungs-Placebo, wie bei Pfizer und Moderna auch.
Was ist also mein Zwischenfazit? Wenn ich mich auf Basis der heute vorliegenden Informationen entscheiden müsste, ob ich mich impfen lasse, würde ich es mit jedem der drei Impfstoffe sofort tun. Wenn ich mir aussuchen dürfte, mit welchem, würde ich nach heutigem Wissen den von Pfizer nehmen – wegen der vielleicht (vielleicht aber auch nicht) tatsächlich besseren Wirksamkeit, wegen der momentan größeren Datenbasis zur Sicherheit und weil ich RNA-Impfstoffe (die im Körper relativ direkt zur Produktion einzelner Virusproteine führen) inhärent minimal sicherer finde als Vektorvirusimpfstoffe (bei denen diese Proteinproduktion durch ein echtes Virus ausgelöst wird, auch wenn das für Menschen völlig ungefährlich sein sollte).
Einstweilen hoffe ich aber, dass wir bei den aktuellen Wirksamkeitsdaten einen brasilianischen Sondereffekt sehen und sich die Wirksamkeiten zwischen den Impfstoffen noch angleichen – und dass wir nicht am Ende darüber diskutieren müssen, wer den guten RNA-Impfstoff bekommt, während sich die Masse mit einem eventuell etwas weniger wirksamen Volksimpfstoff begnügen muss.