Leider noch was zu Arvay

Update24.3.23: Ein bisschen was zum Nachdenken für die Querdenker, die hier in ihren Kommentaren herumpöbeln (die außer im Archiv für die Staatsanwaltschaft ohnehin nirgends zu sehen sein werden) und allen Ernstes von „Hetze“ gegen den Impfgegner und Verschwörungspropagandisten Arvay fabulieren, weil ein paar wissenschaftsinteressierte und -kompetente Bürger ihre Freizeit aufgewendet haben, um aufzuklären über die lebensgefährliche Desinformation, die Arvay über Covid, Impfungen und andere Schutzmaßnahmen verbreitet hat, über seine Verschwörungsideologie und seine Verbindungen zur rechten Szene. Seht es Euch an und überlegt einfach mal, ob Ihr wirklich zu diesen Leuten gehören wollt:

Nach dem Artikel über Clemens Arvay vom letzten September hatte ich mir vorgenommen, die Aktivitäten dieses Menschen nicht mehr weiter zu kommentieren, um ihm nicht noch zusätzliche Aufmerksamkeit zuzuleiten. Ich habe ihn dann nur noch beiläufig in Antworten auf die Kommentare zu anderen Artikeln erwähnt und bei wichtigen Themen den früheren Artikel aktualisiert.

Update 14.6.21: Falls jemand das gerade aktuelle Arvay-Video durchlitten hat und eine Einordnung von seriöser Seite sucht oder einfach wissen möchte, welcher Unsinn dort jetzt wieder herumgeistert, dem kann ich den folgenden Twitter-Thread (für die Nicht-Twitterer: ein Twitter-Posting samt einer Reihe von Antworten, auch ohne Twitter-Anmeldung sichtbar) von @DerGraslutscher empfehlen. Der Mediziner Janos Hegedüs hat Arvays neues Geschwurbel inzwischen auch in einem Video fachlich eingeordnet.

Da er die Aufmerksamkeit dank der Beihilfe des Lübbe/Quadriga-Verlags, seiner vielen Fans aus der Querdenker-, QAnon– und Reichsbürgerszene und diverser willfähriger Journalisten nun ohnehin bekommen hat, hat sich dieser Vorsatz inzwischen erledigt. Lust auf einen ausführlichen, kommentierenden Artikel habe ich aber immer noch nicht, also liste ich einfach mal auf, was sich in letzter Zeit so alles ereignet hat. Das ist nicht mehr als eine Aneinanderreihung einzelner Beobachtungen – erwartet also keinen durchdachten Artikel.

  • Nachdem Arvay seine Fanboys inzwischen mehrfach in weinerlichen Videos gegen mich aufgewiegelt hat, werde ich von denen mehr als sechs Monate nach meinem Artikel über ihn immer noch auf unterschiedlichen Kommunikationskanälen belästigt, womit sich inzwischen auch schon die Staatsanwaltschaft beschäftigen musste.
  • Da er seit vergangenem Jahr ja immer wieder darauf aufmerksam gemacht wurde, dass einen ein Abschluss in Agraringenieurwesen mit einer Masterarbeit zu einem soziologischen Thema nicht zum Biologen macht, hat sich Arvay von der European Countries Biologists Association ein Zertifikat als „European Professional Biologist“ ausstellen lassen, mit dem er jetzt ständig in den sozialen Netzwerken herumwedelt. Dazu ist er offenbar auch der Austrian Biologist Association (ABA) beigetreten, was tatsächlich ein seriöser Fachverband ist. Nachdem deutlich wurde, wozu Arvay seine Mitgliedschaft benutzt, hat sich die ABA am 16. April sehr nachdrücklich von seinem Gedankengut distanziert und sich zu Covid-Impfungen und den Aussagen der entsprechenden wissenschaftlichen Institutionen bekannt – vorsichtshalber ohne Arvays Namen zu nennen, aber inhaltlich klar erkennbar.
  • Wo er jetzt ja das Zertifikat hat, hat Arvay auch erklärt, er habe eine Doktorarbeit in Biologie begonnen – er will also offenbar doch noch versuchen, zu lernen, wie man wissenschaftlich arbeitet. Dazu behauptet er: „Ich habe zuvor noch nie ein Doktorat begonnen und habe auch nie eine Dissertation abgebrochen.“
    Das ist allerdings irgendwie seltsam, denn für sein Buch „Der Biophilia-Effekt“ wurde schon seit mindestens 2016 (und auch noch vor vier Wochen) mit der Aussage geworben, er arbeite an einem Doktorat in Medizinwissenschaft über ein ganz anderes Thema. Nachzulesen war das auf der Homepage seines eigenen Verlags. Mir würde ja auffallen, wenn einer meiner Verlage in der Darstellung eines meiner Bücher mit falschen Behauptungen zu meiner Biographie werben würde. Da fragt man sich doch, von wem der Verlag die Biographie seines Autors denn bekommen hat.
    Dort ist auch nachzulesen, dass sich Arvay zu seinem Buch ein Vorwort von Rüdiger Dahlke hat schreiben lassen. Dahlke verbreitet unter anderem den Verschwörungsmythos, dass wir alle im Auftrag diverser Regierungen von Flugzeugen gezielt mit Giften (Chemtrails) besprüht würden. Auf dem rechtsesoterischen Quer-Denken-Kongress in Friedberg 2015, von dem damals führende NPD-Funktionäre begeistert berichtet haben, erklärte Dahlke, (ähnlich wie in diesem Video) wir hätten zu viel Demokratie und zu wenig Hierarchie.
  • Inzwischen ist ja auch Arvays lange angekündigtes Anti-Impf-Buch erschienen. Dr. med. Jan Oude-Aost (einer der Autoren des sehr viel empfehlenswerteren Buchs Fakten-Check Impfen)  hat es in drei Artikeln auf eingeimpft.de (1 2 3) ausführlich auf seinen Wahrheitsgehalt überprüft. Ich finde es bewundernswert, wie Jan Oude-Aost es schafft, ein so vernichtendes Ergebnis so respektvoll und wertschätzend zu formulieren. Ich hoffe, meine Leser hier erwarten das nicht auch von mir.
  • Ein lustiges Falschmeldungs-Spiel gab es im April zwischen Arvay und der Frankfurter Rundschau. Zunächst, am 8. April, brachte FR-Wissenschaftsredakteurin Pamela Dörhöfer eine vollkommen unkritische Rezension über Arvays inhaltlich, wie schon erwähnt, höchst mangelhaftes Anti-Impf-Buch. Vier Tage später berichtete dieselbe Autorin dann über eine israelische Studie zur Wirksamkeit von Impfungen gegen unterschiedliche Virusvarianten. Die Erkenntnis aus der Studie ist eigentlich weder sonderlich neu noch schwer zu verstehen: Aktuelle Impfstoffe schützen gegen alle Virusvarianten, aber gegen die „südafrikanische“ B.1.351 (vor allem in den ersten zwei Wochen nach der Impfung) nicht ganz so herausragend gut wie gegen die bei uns vorherrschende „britische“ B.1.1.7. In der Rundschau wurde daraus für mehrere Tage die falsche Aussage, „dass sich Geimpfte häufiger als Ungeimpfte mit der südafrikanischen Variante infizierten.“ Arvay sprang auf die Falschmeldung (die er als angeblicher Experte doch eigentlich sofort hätte erkennen müssen…) nicht nur auf, sondern setzte noch eins drauf:

    Infektionsverstärkende Antikörper, also der bei einigen wenigen Viren auftretende Effekt, dass bestimmte Reaktionen des Immunsystems dem Virus seine Arbeit erleichtern anstatt sie zu verhindern, gehören logischerweise zum Ersten, wonach man bei einem neuen Impfstoff lange vor der Zulassung sucht. Dass sie bei SARS-CoV-2 (und zwar bei allen bekannten Varianten) keine relevante Rolle spielen können, zeigt sich aber auch schon daran, dass die zugelassenen Impfstoffe vor allen Varianten schützen – nur eben nicht vor allen gleich gut.
    Um den 21.4. herum wurde der Artikel auf der Seite der FR dann stillschweigend korrigiert – und war kurz darauf von Arvays Facebookprofil spurlos verschwunden.
  • Es gibt tatsächlich auch Zeitungen, die die Mängel in Arvays Behauptungen deutlich ansprechen, zumindest in seiner Heimat Österreich. Im Zusammenhang mit Covid-19 und der Querdenkerbewegung ist allerdings auch der Blog Volksverpetzer.de zu empfehlen, der nicht nur die Fehler in der Frankfurter Rundschau und die Löschung kritischer Kommentare (unter anderem von mir) durch die FR ausführlich aufgearbeitet hat. Auch zu Arvays absurder Agitation gegen die Wissenschafts-Erklärvideos von MaiLab gibt es dort zwei sehr lesenswerte Artikel. Wer mich kennt, kann sich denken, dass ich kein besonderes Interesse damit verbinde, einen deutlich linken Politblog zu promoten, aber gerade bei allem, was mit Covid und den damit verbundenen Verschwörungsmythen zu tun hat, sind die Qualität der Recherchen und die journalistische Aufarbeitung beim Volksverpetzer wirklich hervorragend und stellen die Arbeit vieler etablierter Medien deutlich in den Schatten.
  • Falls jemand tatsächlich noch Zweifel hatte, dass es sich bei Clemens Arvay  um einen Hardcore-Querdenker handelt, empfehle ich mal einen Blick darauf, wie er auf der Facebook-Seite von ORF 2 das Gedenken an die Opfer der Pandemie verhöhnt, von „hunderttausenden“ Toten durch den Lockdown halluziniert und sich dann auf seiner eigenen Seite auch noch damit brüstet:
    Um die wirren Behauptungen zu Malaria und Hunger mal in Perspektive zu rücken: Innerhalb eines Jahres sterben laut Global Burden of Disease Monitor weltweit rund 140.000 Menschen an Unterernährung und knapp 600.000 an Malaria. Wie sich diese Zahlen durch Maßnahmen gegen Covid-19 nennenswert verändern sollen, erscheint mir nur im Rahmen eines völligen Realitätsverlusts durch Versinken im Verschwörungsglauben nachvollziehbar. Innerhalb der letzten 12 Monate wurden dagegen allein schon rund 3 Millionen Todesfälle durch Covid-19 offiziell erfasst. Hinzu kommen  diejenigen Covid-Toten in Entwicklungsländern, die nie diagnostiziert werden, weil sie ohne ärztliche Versorgung zu Hause gestorben sind – und dazu noch sämtliche Covid-Toten in Ländern wie Tansania, Nicaragua oder Nordkorea, wo überhaupt nicht getestet wird.
  • Interessant übrigens, dass in Arvays eigenem Screenshot oben eine Mitteilung des Telegram-Messengers zu sehen ist, wo er doch behauptet, Telegram noch nie gesehen zu haben und überhaupt nicht zu benutzen:
  • Angesichts der aktuellen Enthüllungen über Frank „den Reisenden“ Schreibmüller, der für diverse Größen der Rechts- und Querdenkerszene Telegram-Kanäle etabliert und ihnen dann zur Übernahme angeboten haben soll, erhält Arvays Behauptung allerdings eine gewisse Glaubwürdigkeit, der inzwischen umbenannte Telegram-Kanal mit seinem Namen sei nicht von ihm selbst eingerichtet worden.
  • Wenn man liest, wie Arvay auf Facebook über die extrem seltenen Komplikationen durch Astra Zenecas Impfstoff Vaxzevria schreibt, könnte man meinen, er hätte im Fußball gewonnen.

    Nein, es hat niemand gewonnen; es sind Menschen gestorben. Genau gesagt sind europaweit bis zum 25.3. dieses Jahres 18 Menschen gestorben, von rund 25 Millionen, die bis dahin diesen Impfstoff erhalten hatten. Zur Einordnung: Wären diese Menschen dauerhaft ungeimpft geblieben, hätte man damit rechnen müssen, dass zwischen 50.000 und 200.000 von ihnen an Covid-19 sterben. Dass wir überhaupt über so seltene Impfkomplikationen reden, liegt eigentlich nur daran, dass wir mit den mRNA-Impfstoffen Alternativen haben, bei denen noch nicht einmal dermaßen seltene schwerere Probleme zu finden sind. Dass er vor ein paar Monaten gegen die auch agitiert hat, erwähnt Arvay zumindest in seinen Facebook-Posts vorsichtshalber nicht mehr.
  • Dass Arvay sein ganzes Anti-Impf-Geschwurbel vor einem Jahr mit dem Verbreiten der großen Bill-Gates-Impf-Verschwörung eingeleitet hat, hatte ich ja schon im letzen Artikel erwähnt. Er propagiert aber auch alle möglichen anderen abstrusen Verschwörungsmythen. Vor ein paar Tagen hat er sich erst einen Artikel über einen implantierbaren Chip herausgegriffen, der dazu dienen soll, Ausbrüche ansteckender Krankheiten in isolierten Militäreinheiten schnell zu erkennen. Dazu spinnt er sich dann zusammen, mit dem Chip seien „offenbar“ Bewegungsverfolgung und Überwachung möglich, und er sei entwickelt worden, um (gerichtet an seine Facebook-Fans) „Euer Blut permanent zu überwachen“.
    Damit verbreitet er unmittelbar den Chip-Implantat-Überwachungsmythos antisemitischer Verschwörungsideologen, wie er schon seit Jahren immer wieder auch vom Hetzkanal kla.tv der OCG-Sekte verbreitet wird, gerne auch als Teil von Anti-Impf-Propaganda. Kein Wunder, dass man in den Videos von kla.tv dann auch den „besorgten“ Bürger Arvay wiederfindet, was um so witziger ist, weil er in letzter Zeit offenbar auch versucht, sich an selbsternannte „revolutionäre Antifaschisten“ anzubiedern.
  • An anderer Stelle schreibt Arvay, Bill Gates habe in ein Patent zur Verdunkelung der Sonne investiert. Dazu gibt er als Fußnote einen Artikel auf einer Seite namens TechAndNature an, was den Eindruck erweckt, es handele sich um einen Beleg für seine Behauptung – nur dass in dem Artikel von einem Patent oder sonstiger wirtschaftlicher Verwertung mit keinem Wort die Rede ist. Arvay macht aber gleich weiter mit der Behauptung, das geschilderte Forschungsprojekt über denkbare Technologien zur Abschwächung des Klimawandels sei für Gates „bestimmt gewinnbringend“ und bringt das mit Gates‘ angeblich lukrativen „Pharmaseilschaften“ in Verbindung.

    Wie ein Zuschuss über eine gemeinnützige Stiftung zu einem Experiment der Grundlagenforschung, von dem selbst die Versuchsleiter sagen, dass sie die erforschte Technologie lieber nicht in großem Maßstab eingesetzt sehen möchten, gewinnbringend sein soll, kann Clemens Arvay sich selbst wahrscheinlich irgendwie erklären. Zur Frage, warum aus der Sicht von Verschwörungsgläubigen hinter solchen Aktivitäten unbedingt finstere Gewinnerzielungsabsichten stehen müssen, empfehle ich die Bücher Verschwörungsmythen und Warum der Antisemitismus uns alle bedroht des Antisemitismusbeauftragten von Baden-Württemberg, Michael Blume.
  • Ende Dezember verlinkt Arvay auf Facebook ein Video über angebliche „Mediale Diffamierung“ gegen ihn in der österreichischen Wochenzeitung Falter und kommentiert das mit: „Dank an den Urheber!“

    Unter dem Link diskutiert Arvay mit Kommentatoren fröhlich, wer „the Fuck“ die im Video attackierte Journalistin sei.

    Damit kann ihm eigentlich auch nicht entgangen sein, welch wirre Fake News und antisemitisches Verschwörungsgeschwurbel in den weiteren Kommentaren zu seinem Post verbreitet werden. Das scheint ihn aber nicht zu stören, denn er hat es bis heute weder kommentiert noch gelöscht:


    Wer der von Arvay mit solchem Dank bedachte Urheber des Videos ist, kann ich leider nicht mehr feststellen, weil selbiger offensichtlich Gründe hatte, das Video auf Youtube wieder zu löschen. Eine Google-Suche nach dem Titel zeigt aber deutlich, bei welchem Umfeld Arvay sich da bedankt: Sie führt auf die Seite Korrekter.com:

    Sämtliche Links rechts neben dem Arvay-Video führen weiter auf die Seite „Journalistenwatch“, laut ZEIT eins der einflussreichsten Medien der Neuen Rechten in Deutschland. Unter der Rubrik „Verbotenes Wissen“ verlinkt Korrekter nicht nur wirre Räuberpistolen über UFOs, Aliens, die Antarktis und Erich von Däniken, sondern auch eine ganze Serie islamfeindlicher Videos des Pegida-Aktivisten Michael Stürzenberger.
    Die Dankbarkeit fügt sich also nahtlos ein in Arvays Verbrüderung mit Leuten wie Gunnar Kaiser, Wikihausen oder dem früher mal gerade noch ultrakonservativ zu nennenden österreichischen Querdenker-Granden Raphael Bonelli, sein Interview bei den NachDenkSeiten und seinen Solidaritätsbekundungen für den Verschwörungspropagandisten Sucharit Bhakdi, der inzwischen öffentlich erklärt hat, Deutschland sei eine Diktatur. Falls also tatsächlich noch jemand Clemens Arvay die Frage abkauft, wer ihn immer wieder mit der rechten Szene in Verbindung bringt: Das ist er selbst.

Update 29.8.21: Endlich fangen, wenigstens in Österreich, auch die Medien mal an, sich mit dem rechten Propagandanetzwerk um Clemens Arvay zu beschäftigen. Deutsche Medien, wie hier z.B. die Frankfurter Rundschau, fallen ja leider immer wieder auf ihn herein.

Die Sache mit der Sterblichkeit…

Das ist jetzt schon der zweite Artikel hier in relativ kurzer Zeit, den ich nie schreiben wollte. Warum sollte ich als Physiker auch einen Artikel über die Infektionssterblichkeit bei Covid-19 schreiben? Ich bin ja kein Epidemiologe. Das muss man allerdings auch nicht, um den publizierten Stand der Wissenschaft zusammenzufassen – und genau daran fehlt es in Deutschland leider momentan, obwohl das am Tag 2 unseres „Lockdown Light“ eigentlich eine wichtige Hintergrundinformation wäre.

Das Spannendste und Solideste, was es aktuell zu dem Thema zu sagen gibt, ist gestern in einer Metastudie in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift zum Thema erschienen, nämlich in Nature. Sucht man aber in Google nach dem Namen der Hauptautorin in Verbindung mit dem deutschen Begriff „Sterblichkeit“, dann findet man in den gängigen Medien, Stand heute – nichts. Dieses wichtige Ergebnis ist an den deutschen Medien wenigstens am Tag 1 komplett vorbeigegangen.

Ganz anders sah das vor einer Woche noch mit einem schlampigen Sammelsurium des wissenschaftlichen Außenseiters John Ioannidis aus. Das wurde nicht nur völlig unkritisch bei Heise abgefeiert, sondern auch in der Berliner Zeitung, und der Merkur verkaufte das Traktat sogar als „Corona-Studie der WHO“. Der Hintergrund der bizarren Fehleinordnung ist, dass Ioannidis‘ Text im WHO-Bulletin erschienen ist, einer wissenschaftlich vergleichsweise unbedeutenden Zeitschrift, die, von der WHO finanziert, vor allem dafür da ist, billige Veröffentlichungsmöglichkeiten für Studien aus Entwicklungsländern zu schaffen. Bekannt  geworden ist Ioannidis 2005 mit der steilen These, die meisten veröffentlichten wissenschaftlichen Ergebnisse aus der Medizin seien falsch. In 2020 hat er aber schon seit dem Frühjahr eine verharmlosende Arbeit über Covid-19 nach der anderen herausgehauen, wobei dem ehemals selbsternannten Wächter über die Sauberkeit der medizinischen Wissenschaft offensichtlich jedes Mittel recht ist, um zum gewünschten Ergebnis zu kommen. Ganz bezeichnend: Während er zu anderen Themen als Methodenspezialist gerne in eine lange Autorenliste mitgenommen wird, publiziert er seine Traktate zu Covid-19 in der Regel allein – offenbar zögern die Kollegen, ihren guten Namen dafür herzugeben.

Zunächst mal, worum geht es? Die Infektionssterblichkeit ist der Anteil der insgesamt Infizierten, der stirbt. Sie ist deutlich schwieriger herauszubekommen als die im Frühjahr viel diskutierte Fallsterblichkeit, also der Anteil der erfassten Infizierten, der stirbt. Der lag in Deutschland und vielen anderen Ländern zeitweise um 5 Prozent, als man nur einen kleinen Teil der Infizierten überhaupt diagnostiziert hat – aber das ist natürlich wenig aussagekräftig. Sucharit Bhakdi behauptet gerne, die Infektionssterblichkeit läge bei Covid-19 bei 0,1 bis 0,2 Prozent und sei damit nicht höher als bei einer Grippe. Dass Ioannidis‘ gerne in den Medien verbreiteter Medianwert von 0,23% nicht weit darüber liegt, verleiht Bhakdi natürlich scheinbare Glaubwürdigkeit.

Mit dem Bestimmen der Infektionssterblichkeit gibt es zwei Probleme:

Erstens muss man dazu die Dunkelziffer der Diagnosen erfassen, was in der Regel dadurch erfolgt, dass man rückwirkend möglichst halbwegs repräsentative Stichproben auf SARS-CoV-2-Antikörper von schon vergangenen Infektionen testet. Dabei handelt man sich leicht allerlei Verzerrungen ein, weil man in einem freien Land ja schlecht eine zufällig ausgewählte Stichprobe zwangstesten kann. Wer einem Test zustimmt, tut das in der Regel eher, wenn er den Verdacht hat, infiziert gewesen zu sein – das ist aber nicht der einzige störende Einfluss und nicht der einzige Grund, warum es eine solche repräsentative Studie für ganz Deutschland noch nicht gibt. Eine aktuelle Antikörperstudie in Bayern zeigt immerhin schon mal, dass wir die Zahl infizierter Kinder und Jugendlicher (und damit die Rolle von Kindergärten und Schulen für die Ausbreitung von Covid-19) bislang massiv unterschätzt haben – was nichts gutes für einen Lockdown erwarten lässt, der ausgerechnet diese Einrichtungen ausklammert.

Zweitens ist die Sterblichkeit extrem altersabhängig, und da gerade kleinere Ausbrüche Altersgruppen teilweise sehr unterschiedlich betreffen, ist auch da die Gefahr groß, ein falsches Bild zu bekommen. Das schränkt auch die Aussagekraft von Studien in einzelnen Dörfern, wie der sogenannten Heinsberg-Studie, die nicht in Heinsberg, sondern in Gangelt stattgefunden hat, oder von der aus Ischgl, seeeeehr ein.

Was noch hinzukommt: Die Zahl der Todesfälle, bei denen Covid-19 diagnostiziert wurde, ist nur ein Teil der Wahrheit. Das Gerede, ob jemand „an Corona oder nur mit Corona“ gestorben wäre, ist ja hinlänglich bekannt. Die entscheidende Frage ist aber, wie viele Menschen sterben wegen eines Covid-19-Ausbruchs, und das sind nicht etwa weniger, sondern erheblich mehr als diagnostiziert werden. Ein Beispiel zeigt die Sterbestatistik über die letzten sechs Frühjahre in Italien:

Die Sterbezahlen sind aus den stärker betroffenen Regionen in Italien [nachträgliche Korrektur]. Je nachdem wie man den Abstand zum langjährigen Mittel berechnet, kommt man allein für diese Regionen im März 2020 auf 15.000 bis 20.000 Tote mehr als in diesem Monat im Durchschnitt der Vorjahre. Gleichzeitig wurden in ganz Italien nur rund 12.000 Todesfälle durch Covid-19 gemeldet. Das dürfte einerseits daher kommen, dass in einer Situation wie in Bergamo Behandlungen für andere Krankheiten zum Teil unterbleiben oder Leute sich schlicht nicht in die Krankenhäuser trauen, andererseits daran, dass alte Menschen, die zu Hause an Covid-19 sterben, unter Umständen nie getestet werden, wenn der Arzt eben Herzversagen in den Totenschein schreibt. Das ist ein Einzelbeispiel; die tatsächlichen Todeszahlen sind aber bei allen größeren Ausbrüchen deutlich höher als die erfassten. Das zeigt eine Vielzahl von Studien für eine Vielzahl von Ländern. Dieser Anstieg der Sterbezahlen ist auch nicht einfach nur, wie gerne behauptet, eine Folge des Lockdowns, denn in Ländern wie Deutschland oder Neuseeland, die im Frühjahr einen großen Ausbruch erfolgreich verhindert haben, hat der Lockdown allein nicht zu einer Übersterblichkeit geführt. Eine Studie, die auch die Veränderungen bei einzelnen Todesursachen nachverfolgt hat, zeigt sogar, dass in Südafrika der Lockdown auch die dort sehr relevanten Todesursachen Verkehrsunfälle und Tötungsdelikte spürbar gesenkt hat. Dennoch kam es in der Folge mit dem Anstieg der Covid-Erkrankungen zu einer deutlichen Übersterblichkeit.

Man muss sich also darüber im Klaren sein, dass die Infektionssterblichkeit zu Covid-19 die Anzahl der tatsächlichen Todesfälle deutlich zu niedrig angibt. Das ist anders als bei der Grippe, wo die Sterblichkeitszahlen von vornherein nicht aus Diagnosen, sondern aus der Übersterblichkeit in der Grippesaison abgeleitet werden.

Wie hoch ist aber nun die Infektionssterblichkeit, mit der man bei einer breiten Durchseuchung der deutschen Bevölkerung rechnen müsste? Die eingangs erwähnte Publikation in Nature von O’Driscoll et. al. wertet dazu aus 22 jeweils landesweiten Erfassungen von großen Probandenzahlen die Zahl der Verstorbenen im Vergleich zur Zahl der (nach Antikörperstudien) infiziert Gewesenen aus – und zwar nach Altersgruppen aufgeteilt. So ergibt sich ein ziemlich dramatischer Zusammenhang von Alter und Sterblichkeit (man beachte die logarithmische Skala):

Es sterben insgesamt etwas mehr Männer als Frauen, aber ganz grob liegt die Sterblichkeit bei 0,01% für Mittzwanziger, 0,1% für Mittvierziger, 1% für Mittsechziger und 10% für über 80Jährige. Diese Altersabhängigkeit allein erklärt nach der Analyse den größten Teil der Unterschiede in der Sterblichkeit zwischen unterschiedlichen Ländern und unterschiedlichen regionalen Ausbrüchen. Wendet man das auf die Altersstruktur der deutschen Bevölkerung an (auch das steht schon in der Studie), dann kommt man auf eine durchschnittliche Sterblichkeit von 0,9%. Anders gesagt, wenn man die Epidemie durch die deutsche Bevölkerung laufen ließe, bis sie durch Herdenimmunität allmählich an Bedeutung verliert, dann würden dadurch voraussichtlich rund 600.000 Menschen sterben – vorausgesetzt, wir können das durch regelmäßige Lockdowns so in die Länge ziehen (über ungefähr drei bis fünf Jahre), dass unsere Krankenhäuser dabei nicht überlastet werden (sonst würde die Übersterblichkeit wie in Italien diese Zahlen noch weit übersteigen). Ersparen können uns das nur gute Impfstoffe, die wir hoffentlich bald haben.

Wie stark die Sterblichkeit von Ausbrüchen in Pflegeheimen und ähnlichen Einrichtungen abhängt, zeigt die Studie auch: Bei der ersten Welle in Frankreich lag die Infektionssterblichkeit bei 1,1%. Hätte man alle Ausbrüche in Pflegeheimen verhindern können, dann hätte sie nur 0,74% betragen – was immer noch viel mehr ist als Bhakdis und Ionannidis‘ abenteuerliche Behauptungen.  Das macht die Forderung der Lobbyisten von der „Great Barrington Declaration“ und dem Streeck-KBV-Papier nach einem gezielten Schutz nur für die Risikogruppen und „Freiheit zum Anstecken“ für alle Anderen aber nicht realistischer: Die wenigen Länder, die das wie Großbritannien oder Schweden ernsthaft versucht haben, sind damit krachend gescheitert.

Die Erkenntnisse der Studie von O’Driscoll et. al. sind auch nicht vom Himmel gefallen. Viele der Einzelstudien, auf denen die Metaanalyse beruht, sind schon seit Monaten veröffentlicht, und die Ergebnisse wurden in der seriösen Wissenschaft auch schon länger mit genau diesen Schlussfolgerungen (nur bislang nicht mit dieser statistischen Stringenz) diskutiert. Die Studie zeigt auch eine gute Übereinstimmung mit einer früheren Metaanalyse von Levin et. al.. Sie widerspricht auch nicht einer australischen Metaanalyse von Meyerowitz-Katz und Merone, die im Durchschnitt vieler Länder und ohne explizite Modellierung der Altersabhängigkeit auf eine Infektionssterblichkeit nahe 0,7% kommt. Deutschland hat eben eine relativ alte Bevölkerung.

Ich würde mich freuen, wenn das mit der relativ alten Bevölkerung noch eine Weile so bleibt – oder sich zumindest nicht dadurch ändert, dass wir uns aufgrund von Desinformationskampagnen und Verschwörungsglauben ein Massensterben älterer Mitmenschen einhandeln.

Sucharit Bhakdi ist für Covid-19 nicht bloß kein Experte – es ist viel schlimmer

Eigentlich wollte ich zu Sucharit Bhakdi hier nichts schreiben. Anders als der kleinere Pseudoexperte der Schwurbelszene, Clemens Arvay, zu dem sich bis zu meinem Artikel hier so gut wie niemand von wissenschaftlich-kritischer Seite geäußert hatte (was sich inzwischen zum Glück ändert und sogar ein Stück weit auf Wikipedia niedergeschlagen hat), hat Bhakdi ja durchaus kritische Aufmerksamkeit bekommen. Anders gesagt, seine wirren Thesen zu Covid-19 sind schon seit März wieder und wieder und wieder und wieder auseinandergenommen worden. Eigentlich muss jetzt nicht noch ein unbedeutender Physikblogger über Bhakdi schreiben.

Dass ich es jetzt doch tue, hat zwei Gründe: Erstens geht es mir mal ganz grundsätzlich um die Frage, was jemanden eigentlich zum Experten macht, und zweitens bin ich einfach wütend. Ich bin wütend, weil Sucharit Bhakdi jetzt schon seit sechs Monaten wieder und wieder und wieder nachgewiesen wurde, dass er über Covid-19 einfach Blödsinn erzählt, aber etablierte Medien ihm wieder und wieder und wieder Sendezeit und Druckspalten einräumen und so den Eindruck erwecken, er sei für dieses Thema ein Experte mit einer abweichenden Meinung. Ganz aktuell tut das, leider nicht zum ersten Mal, die Fuldaer Zeitung – aber sie verweist dabei selbst auch auf ein aktuelles Interview bei der Deutschen Welle.

Die Deutsche Welle, immerhin DER internationale Informationskanal für die (und im Eigentum der) Bundesrepublik Deutschland, präsentiert Bhakdi in einem Musterbeispiel grotesker False Balance im Dialog mit dem Münchener Biometrieprofessor Ulrich Mansmann und bemerkt dazu, in Sachen Coronavirus seien die beiden „nicht immer einer Meinung“. Mansmann hat sich aus mir nicht erfindlichen Gründen schon mehrfach für ein solches „wissenschaftliches Streitgespräch“ mit Bhakdi hergegeben.

Was ist also nun von diesen Experten zu halten?  Auf den ersten Blick tragen beide Professorentitel (auch wenn Bhakdis Zeit als aktiver Professor schon lange zurück liegt), und beide sind oder waren an Universitätskliniken tätig. Mansmann wird gerne als Epidemiologe vorgestellt, Bhakdi als Virologe und Epidemiologe, weil er mal Direktor des Mainzer Instituts für medizinische Mikrobiologie und Hygiene war. Für Tageszeitungsniveau scheint das auszureichen, um einen Experten auszuweisen, aber in der Praxis ist es leider nicht so einfach. Sehen wir uns die beiden Kontrahenten also näher an und vergleichen sie mal mit zwei anderen Professoren, die aktuell als Experten für Covid-19 durch die Medien geistern, nämlich den Virologen Christian Drosten und Hendrik Streeck.

Nachtrag 2.11.20: Inzwischen hat sich auf Scienceblogs Christian Meesters mit einer recht ähnlichen Herangehensweise neben (deutlich knapper als hier) Bhakdi auch noch den Rest der MWGFD, Bhakdis Verein von, äh, lupenreinen Demokraten, angesehen.

Nachtrag 6.11.20: Ende Oktober (und damit für meinen Geschmack ein gutes halbes Jahr zu spät, aber immerhin) hat jetzt auch die Uni Mainz gleich auf der Startseite seines früheren Instituts eine deutliche Distanzierung von Bhakdis pseudowissenschaftlichem Unsinn veröffentlicht. Ähnliches ist von der Uni Kiel, wo seine Frau und Koautorin noch beschäftigt ist, schon länger zu lesen, nur nicht ganz so auffällig platziert.

Das klingt auf den ersten Blick nicht allzu drastisch, und in der Tat könnte man sich das, vor allem wenn man selbst noch dort tätig ist und seinen eigenen Ruf von Bhakdis Machenschaften mit geschädigt sieht, noch deutlicher wünschen. Man muss es aber im Vergleich dazu sehen, wie zurückhaltend Hochschulen sonst die unwissenschaftlichen Aktivitäten ihrer aktuellen und ehemaligen Professoren kommentieren. Mein früheres Max-Planck-Institut hat zu den wüsten, physikalisch nicht begründeten und für das allgemeine Verständnis der Physik massiv schädlichen öffentlichen Spekulationen seines ex-Direktors Hans-Peter Dürr leider nie ein kritisches Wort verloren, sondern im Gegenteil noch einen lobhudelnden Nachruf veröffentlicht. Die Hochschule Furtwangen hat zur pseudowissenschaftlichen Skalarwellenlehre ihres Professors Konstantin Meyl lediglich öffentlich erklärt, er dürfe sie nicht in seinen Vorlesungen unterrichten. Von der Ostfalia-Hochschule warte ich bis heute auf eine Distanzierung von Professor Claus Turturs pseudowissenschaftlichen Nullpunktsenergie-Phantastereien und seinem Auftritt auf einer Veranstaltung, auf der öffentlich der Holocaust geleugnet wurde (ja, von jemand anders, aber klar vorher zu erwarten). Immerhin, in der aktuellen Version der Hochschulhomepage werden seine Thesen nicht mehr wiedergegeben, und die Verlinkung zum rechten Kopp-Verlag ist auch weg (er darf dazu aber noch auf die Wayback Machine verweisen).

Verglichen damit sind die Stellungnahmen der Unis in Kiel und Mainz zu Bhakdi so ziemlich die akademische Version von „Halt’s Maul, du Arschloch!“

Zur meiner nun folgenden grundsätzlichen Betrachtung von Bhakdi und seinem angeblichen Expertenstatus empfehle ich auch dieses Video von Mailab vom 7. Oktober, dass ich fahrlässigerweise erst jetzt angesehen habe.

Bei der Frage, was eigentlich ganz grundsätzlich ein Experte ist, nehme ich einfach mal mein eigenes früheres Arbeitsgebiet als Beispiel. In der heutigen Wissenschaft ist die Zeit von Universalgelehrten wie Goethe, Galilei oder Ibn Sina lange vorbei. Genau genommen war sie das schon zu Goethes Zeiten, was für diesen eine gewisse Tragik ausmacht, aber das ist eine andere Geschichte. Kurz gesagt, wie es Florian Aigner im Ferngespräch-Livestream zur Wissenschaftskommunikation so schön zusammengefasst hat: Fast jeder ist zu fast jedem Thema ein Laie. In meiner Zeit am CERN, dem Max-Planck-Institut für Physik und dem Brookhaven National Laboratory Ende der 1990er Jahre habe ich mich mit der Entwicklung sogenannter Spurendriftkammern und der Analyse von Messfehlern darin beschäftigt. Das ist ein relativ alter Typ von Teilchendetektor, der heute vor allem noch in der Analyse von Kollisionen schwerer Atomkerne verwendet wird. Für die vielleicht zwei oder drei Handvoll Menschen weltweit, die sich damals für diese Messfehler interessiert haben, dürfte ich als einer der Experten gegolten haben. Jedenfalls haben Professoren aus dem Ausland mich nach meinen Ergebnissen und Einschätzungen gefragt.  Mit den Leuten, die das 20 Jahre später, zum Beispiel am ALICE-Experiment am CERN tun, könnte ich vermutlich immer noch ein halbwegs kompetentes Gespräch führen, und vielleicht würde mir sogar noch der eine oder andere nützliche Tip einfallen, der irgendwie nie aufgeschrieben wurde und in Vergessenheit geraten ist. Die Experten dafür sind aber die Leute, die das jetzt tun, nicht mehr ich. In der sonstigen Erforschung von Kollisionen schwerer Atomkerne verstehe ich noch ganz gut, was die Forscher tun. Früher war ich da noch deutlich näher dran, aber selbst damals hätte ich jemandem, der dazu einen anderen Detektortyp verwendet oder gar die theoretischen Modelle entwickelt, nicht sagen können, ob seine Arbeit gut oder schlecht und seine Ergebnisse richtig oder falsch sind. Das war noch in meinem engeren Fachgebiet, aber schon so weit weg, dass ich deren Ergebnisse einfach akzeptieren musste. Ich konnte sie aber verstehen, wiedergeben und auch Dritten erklären. Wenn ich heute zum Beispiel im Quantenquark-Buch andere Themen aus der Physik, etwa zum Higgs-Boson oder zur extrem ungeschickt so bezeichneten „Quantenteleportation“ erkläre, dann muss ich mich dazu vorher in das Thema einlesen. Ich kann mich dazu aber schneller und in der Regel besser einlesen, als jemand, der nicht Physik studiert hat. Würde ich mich jedoch hinstellen und erklären, das am CERN nachgewiesene Higgs-Boson sei gar kein Higgs-Boson, dann würde es in Genf – völlig zu Recht – nicht mal jemand für nötig halten, mir zu widersprechen. Ich kann den wissenschaftlichen Konsens in anderen Bereichen meines Fachs zwar erklären, aber mir fehlt jede Grundlage, um ihn kompetent in Frage zu stellen. Wenn ich die Physik verlasse und mir die Medizin ansehe, was ich in letzter Zeit pandemiebedingt ja öfter mal tue, dann bin ich noch ein Stück weiter weg und kann mich in der Regel noch ein wenig langsamer und schlechter einlesen, als das jemand könnte, der in der Medizin, dort aber in einem anderen Bereich tätig ist. Ich kann es aber immer noch besser als jemand, der nie wissenschaftlich gearbeitet hat oder aus einem Feld kommt, das ganz andere Methoden verwendet als die in der Hinsicht recht ähnlichen Felder Medizin und Naturwissenschaften, also zum Beispiel ein Philosoph, ein Historiker oder ein Jurist.

Was aber jeder können sollte, der wissenschaftliches Arbeiten gelernt hat, ist, mit überschaubarem Aufwand festzustellen, ob jemand für ein Thema Experte ist oder nicht. Dafür gibt es nämlich sehr einfache Methoden. Wer in einem Feld forscht, veröffentlicht seine Ergebnisse in wissenschaftlichen Fachzeitschriften. Ohne das geht es nicht, denn ohne Veröffentlichung gibt es keine gegenseitige Überprüfung. Also: Keine Veröffentlichung – keine Wissenschaft. Alle Veröffentlichungen in den seriösen Fachzeitschriften eines Gebiets lassen sich in entsprechenden Datenbanken recherchieren. Die wichtigste derartige Datenbank für die Medizin ist Pubmed, betrieben von der National Library of Medicine. Wenn jemand in der Medizin zu einem Thema wissenschaftliche Leistungen vollbracht hat, dann findet man das in Pubmed. Dort kann jeder recherchieren. Man hat nicht unbedingt kostenlosen oder auch nur erschwinglichen Zugang zu den Artikeln, aber man findet, wo die Artikel stehen, und dabei steht eine Zusammenfassung.

Was erwarten wir nun also von einem Experten für Covid-19? So eine Krankheit ist selbst wieder extrem komplex, und es arbeiten Spezialisten aus unterschiedlichen Teilbereichen der Medizin, Pharmazie und Mikrobiologie daran. Wenn es um Ansteckung, Ausbreitung und Gefährlichkeit geht, können einem aber am ehesten Experten aus zwei Themenbereichen weiterhelfen: Entweder sie forschen am Virus selbst (das tun überwiegend Virologen) oder an seiner Ausbreitung (das tun eher Epidemiologen). Einen Experten für das SARS-CoV-2-Virus würde man daran erkennen, dass er genau dazu wissenschaftliche Artikel veröffentlicht hat, idealerweise auch schon vorher zu anderen Coronaviren wie SARS, MERS, den Erkältungsviren oder tierischen Coronaviren. Ein Experte für die Epidemiologie von Covid-19 sollte eben darüber veröffentlicht haben, und vielleicht schon vorher zur Ausbreitung anderer Atemwegsinfekte wie Grippe oder grippalen Infekten.

Wenn Sucharit Bhakdi jemals zu irgendwelchen Coronaviren geforscht hat, dann sollte sich das in Pubmed sehr leicht finden lassen, schon über die sehr einfache Suchabfrage „Sucharit Bhakdi Coronavirus“. Sie liefert 0 Treffer. „Ulrich Mansmann Coronavirus“ liefert ebenfalls 0 Treffer – das ist aber nicht sonderlich überraschend. Ulrich Mansmann ist kein Virologe, sondern Mathematiker und in der Medizin ein absoluter Methodenspezialist für komplexe mathematische Modelle. Dementsprechend ziehen sich seine Publikationen durch alle möglichen Teilbereiche der Medizin, mit Schwerpunkten bei Krebs und Malaria. Wenn man die schwierig zu erfassende epidemiologische Situation rund um Covid im und nach dem Lockdown im Frühjahr mathematisch modellieren will, wäre Mansmann sicherlich jemand, der zumindest beratend hilfreich dabei sein könnte. Vielleicht tut er das auch gerade, vielleicht hat er es getan, aber nicht in hinreichend zentraler Rolle, um als einer der Autoren aufzutauchen. Wieviel Mansmann selbst zu SARS-CoV-2 oder Covid-19 geforscht hat, ist aber auch gar nicht wichtig, denn was er in den Streitgesprächen tut, ist, er erklärt den wissenschaftlichen Konsens. Man muss selbst kein Experte zu einem Thema sein, wenn man einfach nur das erklärt, was die Experten sagen. Wenn man hingegen die Experten alle für dumm oder korrupt ausgibt, sollte man schon belegen können, dass man selbst entsprechend Ahnung hat.

Machen wir den gleichen Test mal mit unseren Vergleichs-Virologen. Die Suchanfrage „Hendrik Streeck Coronavirus“ ergibt fünf Treffer, alle aus dem Jahr 2020. Das ist kein Wunder, denn Streeck gilt als Experte für HIV und hat bekanntermaßen erst im Zuge des Ausbruchs von Covid-19 angefangen, zu SARS-CoV-2 zu forschen. Die Suchanfrage „Christian Drosten Coronavirus“ ergibt 149 Treffer von 2020 bis zurück ins Jahr 2003. Das ist (neben seiner hervorragenden Wissenschaftskommunikation und seiner angenehmen Eigenheit, dabei sich selbst gegenüber der Sache zurückzunehmen) genau der Grund, weshalb so viele Leute Wert auf Drostens Einschätzungen zu Covid-19 legen: Es gibt wahrscheinlich niemanden in Deutschland, vielleicht niemanden in Europa, der mehr zu menschlichen Coronaviren geforscht hat als Christian Drosten.

Wenn Sucharit Bhakdi also nicht zu Coronaviren geforscht hat, dann vielleicht zur Epidemiologie von viralen Atemwegserkrankungen? Er wird ja gerne auch als Epidemiologe verkauft. Die Suchanfrage „Sucharit Bhakdi respiratory“ ergibt vier Treffer – keiner davon hat irgendetwas mit Viruserkrankungen zu tun, schon gar nicht mit Grippe oder Ähnlichem. Was ist denn aber dann mit dem angeblichen Virologen Sucharit Bhakdi? Zu irgendwelchen Viren wird er ja wohl geforscht haben? Die Suchanfrage „Sucharit Bhakdi virus“ ist einigermaßen ernüchternd: Sie liefert genau drei Treffer. Einer der Artikel beschreibt eine tatsächliche eigene Studie, in der es um den Schaden geht, den Dengueviren (die mit Coronaviren nichts zu tun haben) an Blutgefäßwänden anrichten können. Bhakdi ist einer von 20 Autoren und war vermutlich an der Studie beteiligt, weil er lange zu Blutgefäßwänden geforscht hat. Der zweite Treffer ist ein Konferenzvortrag, in dem Bhakdi über einen Sonderforschungsbereich berichtet hat, dessen Sprecher er war und in dem er selbst über (Überraschung!) Blutgefäßwände geforscht hat, während andere Forscher darin auch an Viren, vor allem Hepatitisviren geforscht haben. Der dritte Treffer ist aus dem Jahr 2009, eine Spekulation über mögliche Risiken für (eben!) Blutgefäßwände durch Grippeimpfstoffe mit Wirkverstärkern. Hier werden also tatsächlich Grippeviren erwähnt, es geht aber inhaltlich nicht um die Grippe, schon gar nicht um das Virus, sondern nur um die Impfverstärker. Nachdem solche Wirkverstärker seit Jahren bei einer Vielzahl von Impfstoffen eingesetzt und die Effekte in großen Studien überwacht werden, kann man mit Sicherheit sagen, dass die von Bhakdi damals herbeispekulierten Nebenwirkungen nicht eingetreten sind. Solche Spekulationen sind ein normaler Teil eines wissenschaftlichen Prozesses. Dass Bhakdi Spekulationen über Schäden durch Grippeimpfungen damals gerade während der (unvorhersehbar zum Glück relativ harmlos verlaufenen) Schweinegrippepandemie veröffentlicht hat, lässt aber bei ihm ein Muster erahnen, das sich möglicherweise heute wieder zeigt.

Das war es mit Sucharit Bhakdis Arbeiten, die mit Viren zu tun haben. Tatsächlich geforscht hat er zunächst vor allem zu Bakterien, später hat er eine Außenseitermeinung zur  Entstehung von Atherosklerose (also der Verhärtung von Blutgefäßwänden) vertreten. Darauf, beziehungsweise auf einen Teilaspekt davon, sogenannte ADAM-Proteasen, beziehen sich auch alle Artikel, die in Pubmed noch mit seinem Namen auftauchten, nachdem er  vor knapp 10 Jahren das Rentenalter erreicht hat. Auch Außenseitermeinungen sind als Beiträge zur Wissenschaft wertvoll – wenngleich in der großen Mehrzahl der Fälle falsch.

Auch darauf kommt es aber nicht an. Entscheidend ist, Bhakdi widerspricht zu Covid-19 dem wissenschaftlichen Konsens der Experten, und das ist in diesem Fall eben keine wissenschaftliche Außenseitermeinung, denn dazu müsste Bhakdi selbst Experte in diesem Feld sein. Es gibt aber in Bhakdis kompletter Publikationsliste nicht den geringsten Hinweis darauf, dass er von Coronaviren oder auch nur von irgendwelchen anderen Atemwegsviren oder von Viren überhaupt (abgesehen vielleicht von der Wirkung von Dengueviren auf die Gefäßwände) irgendeine fachliche Ahnung hat. Er äußert sich schlicht zu Dingen, von denen er selbst nichts versteht, versteigt sich aber dazu, den Fachleuten zu widersprechen, wo er bestenfalls ihre Ergebnisse erklären sollte.

Und dennoch wird er von der Deutschen Welle und vielen anderen Medien als Experte (mit einer ach so interessanten Außenseitermeinung) ausgegeben.

Sucharit Bhakdi ist aber nicht bloß kein Experte – es ist viel schlimmer. Was mich wirklich wütend macht, sind die Aussagen von Bhakdi in seinem Interview mit der Deutschen Welle, das am 3.10. veröffentlicht wurde. Es kann sich auch nicht um eine zu diesem Zeitpunkt schon lange zurückliegende Aufzeichnung handeln, denn Bhakdi spricht darin von März und April als „vor sechs Monaten“. Im nächsten Satz kommt aber die entscheidende Aussage von Bhakdis Behauptungen: „Jetzt aber, nachdem die Epidemie definitiv vorbei ist…“ Am 3. Oktober 2020 erklärte Sucharit Bahkdi, die Covid-19-Epidemie sei definitiv vorbei. Das hat nichts mit der Frage zu tun, ob jemand ein Experte für Coronaviren oder für Epidemiologie von Atemwegserkrankungen ist. Es hat schlicht damit zu tun, dass es nichts mit der Realität zu tun hat. Zu diesem Zeitpunkt gab es in Deutschland pro Tag schon wieder über 2000 nachgewiesene Neuinfektionen, mehr als fünfmal so viele wie beim Minimum im Sommer. Weltweit gab es jeden Tag mehr als 300 000 nachgewiesene Neuinfektionen und innerhalb eines Monats 165 000 Tote, bei denen Covid-19 nachgewiesen war. Wieviel höher die Zahl der tatsächlichen Todesopfer in Ländern wie dem Iran, Indien oder Teilen Afrikas gewesen sein muss, kann man nur raten. Selbst in den USA mit ihrem gut ausgebauten Gesundheitssystem lag die Übersterblichkeit während der gesamten Pandemie fast 50% über den gemeldeten Covid-19-Toten. In Italien wurden im März „nur“ 12 000 Covid-19-Tote registriert – es starben aber zwischen 25 000 und 30 000 Menschen mehr als sonst im gleichen Zeitraum. In Deutschland war zum Zeitpunkt von Bhakdis „definitiv vorbei“ auch die Zahl der Covid-19-Patienten in Intensivstationen schon wieder deutlich am Steigen, und in Spanien näherte sich das Gesundheitssystem bereits wieder der Überlastung. Alle diese Informationen waren für jeden verfügbar und problemlos nachzurecherchieren.

Ich weiß nicht, was Sucharit Bhakdi Anfang Oktober zu seiner Aussage bewegt hat, die Epidemie sei „definitiv vorbei“ – ich kann ihm ja nicht in den Kopf sehen. Mir fallen für eine Person, die zu diesem Zeitpunkt öffentlich eine solche Aussage gemacht hat, aber eigentlich nur drei denkbare Erklärungen ein: Pure Dummheit, bewusste Lüge oder ein durch Verschwörungsglauben ausgelöster Realitätsverlust, der eigentlich nur mit dem von Xavier Naidoo oder Attila Hildmann vergleichbar ist.

Update 29.1.2021:

Guten Flug, Herr Bhakdi; lassen Sie sich gerne Zeit mit dem Zurückkommen. Und wenn Sie Deutschland totalitär finden, dann können Sie sich in Thailand ja mal kritisch über den König äußern.